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Sylt: Zeit der Stürme

Im Herbst zeigt die Insel Sylt ihr raues Gesicht. Dann erzählen die Insulaner den Gästen schon mal Gruselgeschichten.

Kalten dicken Regen peitscht der Wind vom Meer heran und heult wie ein kranker Hund. Es ist nicht spät, doch schwarz hängt der Himmel über der trüben Straße. In manchen Fenstern glimmt gelbes Licht. Ein paar Meter weiter hinter dem Deich tost die Nordsee, die sich an- und wegschleicht, ein altes Aas, flaches Randmeer, durchschnittlich 70 Meter tief, nur in der Norwegischen Rinne bis zu 725. Und über ihr der ewige, kalte Wind, der schwachen Salzgeruch mit sich bringt, an Haaren reißt, bis der Kopf schmerzt, und das Feuchte durch die Jacken, Hosen, Schals presst, auf dass sie schlottern, die Menschen, die trotzdem hier sind.

Sylt, knapp 40 Kilometer lang, maximal zwölf Kilometer breit, die „Königin der Nordsee“. Im Sommer vielleicht: Champagnerduft, High Society, schlechte Manieren auf dem Boulevard, Windsurf-Meisterschaften. Doch in diesen unwirtlichen Tagen – gibt es denn keine besseren Orte? Es ist die Zeit der Stürme. Die Zeit, in der vormals Schiffe sanken, Fischerboote, Handelssegler, in der Besatzungen tot, ersoffen an die Sylter Strände gespült wurden.

„Wir wollen da hin, wo was los ist“, hören Sylter Taxifahrer in dieser Jahreszeit von nöligen Passagieren. „Ich fahre Sie ins Sansibar.“ Dort, wo sommers der große Parkplatz vor der Düne schon um 13 Uhr überquillt, wird auch noch am schlimmsten Tag des Jahres irgendwas gefeiert. „Da waren wir schon.“ „Dann haben Sie alles gesehen.“

Aber weil die Gäste nicht aussteigen, nicht wieder raus wollen ins windige Dunkel, bringt er sie in den nächsten Ort, von der Seeseite West zur Wattseite Ost, wo man sich schon zu Schimmelreiters Zeiten sicherer fühlte. Nach Keitum. Da wirft er sie raus und braust kichernd davon.

Nur eins der niedrigen reetgedeckten Häuser ist hier am finsteren Nachmittag, der schier ersäuft im Regen, erleuchtet. Pius’ Weinwirtschaft. Sie hat geöffnet. Alle Tage ab 17 Uhr. Dunkelrot sind innen die Wände und aus dunkelbraunem Holz die niedrigen Dachbalken. Es stehen dunkle Tische im Raum, dunkle Bänke und Hocker, Dutzende Kerzen flackern und in Regalen schimmern dunkelrote Weine. Ein warmes Nest, diese Wirtschaft, das verklommene Hände tauen lässt und dessen eilends herbeigeschleppter Glühwein die Gäste die heulenden Böen vorübergehend vergessen macht. Vorübergehend, weil der Grusel der Naturgewalten zu schaurig schön ist, um ihn ganz zu vergessen. Solange man selbst verschont bleibt.

Denn die Natur hat nicht immer alle verschont. Eine Spendenbüchse hängt in der Inselhauptstadt Westerland neben dem Holztor zum „Friedhof der Heimatlosen“. 1855 wurde er der Überlieferung nach von Strandinspektor Wulf Hansen Decker angelegt, als letzte Ruhestätte für „die Heimatlosen, die Gestrandeten, die Erschlagenen“, wie es Theodor Storm 1887 bei seinem Sylt-Aufenthalt aufschrieb, noch wohliger gruselnd als die Gäste von heute, denn damals war der Friedhof in Betrieb, wurden noch Kreuze in den Boden gerammt, auf denen nicht mehr stand als Fundort und -zeit.

Westerland Strand 19.08.1867.

Rantum Strand 16.02.1869.

Westerland Strand 31.10.1872.

Und so weiter.

Am 2. November 1905 wurde der letzte Leichnam hier bestattet. Seitdem ruhen am Ort 23 Tote, die in Westerland angespült wurden, 15 Tote von Rantumer und 15 Tote von verschiedenen Hörnumer Strandabschnitten. Für mehr Grabstätten gab es keinen Platz. 1907 wurde der Friedhof dann auch offiziell geschlossen. Seitdem werden „Opfer des blanken Hans“, der Nordsee, auf dem neuen Friedhof bestattet. Unbekannte Tote, die im Norden der Insel angespült werden, fanden und finden in List und Keitum ihre letzte Ruhe.

Westerland wuchs schnell, deshalb war für den Friedhof auch kein Platz mehr. Die Popularität des Ortes war mit ein Grund dafür gewesen, den angespülten Wasserleichen, die man zuvor in den Dünen verscharrt hatte, überhaupt eine Heimstatt zu gewähren. Die Gemeinde wollte, so hat ein Hamburger Kunsthistoriker herausgefunden, vor den schon damals immer zahlreicher strömenden Inselbesuchern nicht als „barbarisch“ dastehen.

Denn hatten die Insulaner nicht auch manchem Schiffbrüchigen, den sie ermattet am Strand fanden, den Schädel vollends eingeschlagen, um an seine Habe zu kommen? Waren sie nicht grausamer gewesen, als „der blanke Hans“ es je war?

Die Sage vom „Dikjendelman“ jedenfalls berichtet davon: Es soll in der Christnacht 1713 gewesen sein, als sich ein Sylter Schiffer in einer Sturmnacht an den heimatlichen Strand rettete und hoffte, einen menschenfreundlichen Landsmann zu treffen, der sich seiner annehmen würde. Stattdessen fielen Strandläufer über ihn her, die gesehen hatten, dass er seinen Geldkasten noch bei sich hatte. Sie zertraten seinen Kopf, rissen ihm den Arm ab und schleppten das Geld davon. „Seit der Zeit wandert“, so hat es der Sagensammler C. P. Hansen aufgeschrieben, „den blutigen Stumpf des abgehauenen Armes emporrichtend und Gerechtigkeit fordernd, allnächtlich in jenem Dünentale, wo der Mord geschah, ein Gespenst umher.“

So sind die Sylter Sagen. Alles Herbst- und Wintergeschichten. Immer ist es kalt, dunkel und stürmisch, und an einem schwarzen Abend kann einem himmelangst werden am leeren Strand, der vielleicht gar nicht so leer ist.

Tagsüber sind die Geister dann vergessen. Da stapfen die Besucher in angestrengten Schritten durch den schweren Sand, laufen mal ein paar Meter, um den mitgebrachten kleinen Hund zu animieren, hüpfen den schaumsäumigen Wellen hinterher, bekommen nasse Schuhe, weil sie nicht schnell genug zurückgelaufen sind. Sie essen knoblauchstrotzende Scampinudeln bei Gosch in List, wo sie die freie Platzwahl haben und die Kellner gähnen. Und Muscheln sammeln sie, die immer formen- und artenreicher werden, Herzmuscheln, Plattmuscheln, Miesmuscheln, Schwertmuscheln, auch amerikanische Austern, ausgebrochen aus Farmen, haben sich eingelebt in der Nordsee.

Im Sansibar waren sie schon, hatten die Gäste des Taxifahrers gesagt. Hatten den halbvollen Parkplatz gesehen, die vielen Menschen im Restaurant, die vielen Logos und Insignien von Macht und Geld, SUVs, Sonnenbrillen von Porsche, Goldknöpfe und Perlenohrringe.

„Dann haben Sie alles gesehen“, hatte der Taxifahrer gesagt. Aber eins gibt es doch noch. Ganz im Süden der Insel, in Hörnum, erhebt sich in helle Holzlamellen eingefasst ein Luxushotel. Golfhotel Budersand, „fast zu schön, um wahr zu sein“, so wirbt es für sich, und damit, dass Elke Heidenreich die Bibliothek zusammengestellt habe.

„Die ganze Landstrecke ist von wüsten flüchtigen Sandbergen bedeckt, unaufhörlich tobt die Brandung der See an ihren Seiten“, schrieb C. P. Hansen über die Ecke der Insel, in der das Hotel steht. Und weiter: „Hier wimmelt’s von Geistern der Mörder und Ermordeten, von Wiedergängern und Unholden.“ Es gäbe nichts Unheimlicheres als diese Gegend.

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ANREISE

Mit ICE ab Berlin über Rendsburg (ab dort Nordostseebahn) in gut sechs Stunden nach Westerland. Ab Bahnhof Westerland kann es per Taxi oder dem guten Linienbussystem zum Ziel weitergehen.

Autofahrer reisen über die Bahn-Verladestation Niebüll an oder machen noch einen Abstecher auf die dänische Insel Rømø und setzen mit der Fähre nach List über.

UNTERKUNFT

Nein, auch in den unwirtlichen Monaten sind nicht alle Bürgersteige auf der Insel hochgeklappt. Und längst nicht alle Unterkünfte haben ihre Fensterläden bis zum kommenden Frühjahr geschlossen.

Arosa Resort (Listlandstraße 11

25992 List; Telefon: 046 51 / 96 75 00) für den gehobenen Geldbeutel. Neben anderen Annehmlichkeiten eines Fünf-Sterne-Hauses warten 3500 Quadratmeter Wellnessbereich. Das hat seinen Preis: 206,57 Euro für das Doppelzimmer pro Nacht mit Frühstück (Aktionsrate, Mitte November).

Das feudale Budersand Golf- und Spa-Hotel (Am Kai 3, 25997 Hörnum; Telefon: 046 51 / 460 70). Bis zum 12. Dezember gibt es ein siebentägiges „Herbst-Angebot“, ab 859 Euro pro Person im Doppelzimmer.

Appartement-Pension Lassen (Boysenstraße 14, 25980 Westerland, Sylt; Telefon: 046 51 / 51 75), in einem alten Kapitänshaus. Doppelzimmer mit kleiner Pantry inklusive Frühstück eine Woche 420 Euro.

SEHENSWERT

Im Erlebniszentrum Naturgewalten Sylt gibt es eine Ausstellung zum Anfassen, ausprobieren und mitmachen. Auf 1500 Quadratmetern bekommen Besucher leicht verständlich und spielerisch gezeigt, wie spannend Natur sein kann: Wetterereignisse, Leben in Watt und Dünen, Küstenschutz und erneuerbare Energien.

AUSKUNFT

Sylt Tourismus, Telefon: 046 51 / 6026

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