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Ganz menschenleer sind die Strände auf dem Darß auch in der kalten Jahreszeit selten. Die Lust auf Winter am Meer hat stark zugenommen.

© Marlis Heinz

Winter auf dem Darß: Wo selbst Goethe nie gestanden hat

Der Darß im Winter bietet neben Galerien und Teestuben auch manche Überraschung.

Es ist grimmig kalt an der Ostsee. Behäbig schieben sich die Wellen auf den Strand und häufen dort ihren gefrorenen Schaum auf. Die Buhnen tragen Kappen aus milchig erscheinendem Eis. Wo das Wasser flach ist, zieht es lange Schlieren. Der späte Sanddorn verliert allmählich sein Leuchten. Nahezu die gesamte Umgebung erscheint weiß unter dem Einfluss von Väterchen Frost. Das Meer, noch immer wärmer als die Luft, scheint unter einer dunstigen Decke einzuschlafen.

Der Winter auf dem Darß kann eisig sein, so eisig wie an diesem Tag. Und doch marschieren da Menschen am Strand entlang und spähen durch die Schlitze, die ihnen ihre Vermummung zwischen Nasenspitze und Augenbrauen lässt. In den kalten Monaten ist die Halbinsel längst nicht mehr so menschenleer wie vor zwanzig oder dreißig Jahren. Reisten noch in den Achtzigern nur etwa zehn Prozent aller Gäste zwischen Oktober und April an, ist es jetzt schon ein Drittel, Tendenz steigend. Winter an der See ist für viele eben eine Entdeckung. Das hat zur Folge, dass auch die Preise keineswegs mehr automatisch mit den Temperaturen sinken. Zudem werden Wiederkehrer feststellen: Der Darß hat sich aufgebrezelt, bietet Gourmetküche, ja, und sogar ein Sterne-Restaurant, Wellness-Tempel, Galerien …

Was also – außer, in sich selbst zurückgezogen, am Strand umherzutappen und dann in eine Sauna zu fliehen – unternimmt man auf dem Darß im Winter? Ach so, noch schnell die förmliche Entschuldigung bei Fischland und Zingst. Die Ostsee-Halbinsel trägt nämlich, nach ihren drei aneinandergereihten Landflächen, offiziell den sperrigen Namen Fischland-Darß-Zingst. Sagt aber kaum jemand.

Der Blick reicht so weit, wie in der Savanne

Wenn das auf den Boddenwiesen stehende Wasser einmal richtig festgefroren ist, dann packen die Einheimischen ihre Schlittschuhe aus – ebenso die Gäste, so sie mit dieser Möglichkeit gerechnet haben. Darüber hinausgehende Wintersportausrüstung mitzunehmen, lohnt jedoch nicht. Eine geschlossene Schneedecke lässt der ewig pfeifende Wind nur ganz selten liegen. „Und ein Loipenspurgerät schaffe ich deshalb nicht an“, wehrt Dierhagens Kurdirektor Stephan Fellmann ab. Wer Glück hat oder sich umhört, kann vielleicht mit auf einen der Eissegler steigen, die – wenn es so weit ist – mit fast 100 Sachen über den zugefrorenen Bodden rasen. „Weil das allerdings recht selten möglich ist“, sagt Fellmann, „bietet es niemand gewerblich an.“

Was bei jedem Wetter reizvoll ist, sind Wanderungen durch die Boddenlandschaft und an die Nordspitze der Halbinsel. Nach Möglichkeit mit einem Nationalparkführer wie Lutz Storm. Durch ihn entdeckt der Laie Dinge, die er sonst vermutlich nicht bemerken würde: den herbeischwebenden Seeadler, die rastenden Eis-Enten, die trompetenden Singschwäne, den Wechsel des Bewuchses …

„Hier kann selbst Goethe nie gestanden haben“, erläutert der Experte leicht frotzelnd die Jahr für Jahr fortschreitende Verlandung. Wo sich zu welcher Zeit der Strand entlangzog, liest er an den Bäumen ab. „Überall, wo Buchen stehen, war schon vor 5000 Jahren Land. Auf den jüngsten Flächen haben es bislang nur die Kiefern geschafft, Wurzeln zu schlagen.“ Seiner Meinung nach fühlen sich die Menschen am Darßer Ort so wohl, „… weil hier der Blick so weit reicht wie in der Savanne, wo wir ja alle herkommen“.

Darßer Türen haben eine lange Geschichte

Früher oder später zieht es dann dennoch jeden in die wohlige Wärme. Am besten gleich in eine der zahlreichen Gaststuben. Dicht bei dicht sitzen die ausgepellten Strandwanderer beispielsweise in der „Teeschale“ von Prerow. Kuchenduft und Stimmengewirr füllen den kleinen Raum. Wer hier seine Strandwanderung beendet, den erfüllt die Zufriedenheit eines Gipfelstürmers.

Bunt verzierte Türen galten auf dem Darß einst als Statussymbol.
Bunt verzierte Türen galten auf dem Darß einst als Statussymbol.

© Marlis Heinz

Um zu erfahren, wo die bunte Haustür der „Teeschale“ und die vieler anderer Häuser der Halbinsel entstanden, bedarf es keiner großen Verrenkungen. Es ist nicht weit bis zur Kunsttischlerei von René Roloff. Er hat nichts dagegen, wenn ab und zu mal ein Neugieriger in seine Werkstatt schaut. Nicht immer wird der dann jedoch die ganze, rund 200 Jahre umfassende Geschichte der Darßer Türen erzählt bekommen, die ungefähr genauso lang ist wie die des Roloff’schen Betriebes.

Alles hatte damit begonnen, dass die Bewohner des Ortes durch die Segelschifffahrt in der Welt herum- und zu einem gewissen Wohlstand gekommen waren. Beides wollten sie zeigen. Sie brachten wertvolle Dinge mit in ihren abgelegenen Küstenort und brauchten Mobiliar, um die Schätze entsprechend zu präsentieren. Außerdem boten sich die Haustüren an, um für jedermann klarzustellen, wie weit man es gebracht hatte. Vor allem prachtvolle Schiffe sollten abgebildet werden.

Finger weg von Firmenlogos

Schmuck für die „Darßer Türen“ fertigt Kunsttischler René Roloff Tag für Tag.
Schmuck für die „Darßer Türen“ fertigt Kunsttischler René Roloff Tag für Tag.

© Marlis Heinz

Mit der anbrechenden Dampfschifffahrt waren die goldenen Zeiten für die Prerower Segler allerdings vorbei. Und in Folge wurden auch die Türen wieder bescheidener, schlichter. Bis ein Bürgermeister 1931 für den Gemeindeamts-Neubau den traditionellen Schmuck bestellte – und Roloffs bauten wieder Darßer Türen. „Die Badegäste machten sie zwar als ,Kitsch‘ mies“, erzählt der Tischler. „Fotografiert haben sie die Häuser dennoch. Also ließen sich die Einheimischen nicht aus der Ruhe bringen. Uns mangelt es jedenfalls heutzutage nicht an Aufträgen für Neubauten und Restaurierungen.“ Er schnitzt und malt nach den Wünschen seiner Kunden, bewegt sich aber nur innerhalb der klassischen Motive wie Schiffe, Sonnen oder Blumen. „Von Firmenlogos oder so lasse ich die Finger.“

Nach Ahrenshoop hingegen hatte die Geschichte weniger Wohlstand geweht. Deshalb waren die Menschen in dem armen Fischerdorf recht zufrieden, als in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg zuerst die Maler, dann auch andere Künstler um Kost und Logis baten – und sich später ganz ansiedelten.

Sie faszinierte das Licht, das, reflektiert von den Wasserflächen des Boddens und der Ostsee, den schmalen Landstreifen überflutete. Und die Atmosphäre. Die erste Straße führte 1956 ins Dorf. Manches blieb dem 700-Einwohner-Ort von dieser Stimmung. Hier und da animiert ein Kunsthaus zum Eintreten. Das sogenannte Dornenhaus zum Beispiel, um 1660 erbaut, war schon Bauern-, Seefahrer- und Zollhaus.

Ein paar Stücke der berühmten Fischland-Keramik

Heute beherbergt es eine Galerie und verschiedene Werkstätten. Wo etwa die Fischland-Keramik entsteht, die bereits 1956 vom freien Bildhauer und Keramiker Wilhelm Löber, seiner ersten Frau, der Malerin und Grafikerin Frida, quasi „erfunden“ wurde. Sein Sohn Friedemann übernimmt 1966/67 nach gerade absolvierter Meisterprüfung die Werkstatt, erwirbt 1995 mit dem „Dornenhaus“ das wohl älteste Rohrdachhaus von Althagen, boddenseitig direkt am historischen Grenzgraben zwischen Mecklenburg und Vorpommern stehend.

Die große Diele umfängt den Eintretenden mit viel Geschichte und kuscheliger Gemütlichkeit. Einer der Künstler kommt aus seinem Atelier, wirft einen Blick auf die Galeriebesucher, einen auf den Kanonenofen. Dann legt er Holzscheite nach, verschwindet wieder. Die Galeristin Renate Löber lässt während der Öffnungszeiten (täglich 10 bis 17 Uhr) ihre Arbeit auch mal liegen, erzählt über den Künstler, der gerade ausstellt, erklärt, was es mit der Ritz-Mal-Technik der Fischland-Keramik auf sich hat, verkauft ein paar Stücke.

„Wer hier nicht malt, ist selber schuld“

Hochmodern gibt sich hingegen das 2013 eröffnete Kunstmuseum von Ahrenshoop, das vorhandene Sammlungen der frühen Jahre der Künstlerkolonie zusammenführte und neue Werke einbindet. Allein die Architektur des Neubaus, die zwar in ihren Proportionen an einen Bauernhof erinnert, ihn aber nicht kopiert, ist sehenswert. In den Räumen gewährt ab und zu ein Fenster Ausblicke ins Freie – so, als hingen dort noch andere Bilder mit Landschaftsimpressionen.

Wer da Lust bekommt, selbst zu Kreide oder Pinsel zu greifen, hat im Winter jedoch eine reduzierte Auswahl, denn die Motive der Malkurse sind oft draußen zu finden. Ein Blick auf das Programm lohnt dennoch, immerhin passiert das Töpfern drinnen und auch Zeichenkurse laufen unter Dach und Fach. Zu den Anbietern solcher Seminare gehört auch Hans Götze, Maler und lange Jahre Bürgermeister von Ahrenshoop. Seine Meinung: „Wer hier nicht malt, ist selber schuld.“ Sein Versprechen: „Nach fünf Tagen bringt selbst der Laie Akzeptables zu Papier.“ Seine Warnung: „Am Abend rechtzeitig alle Utensilien einpacken, sonst kommen die Wildschweine.“

Tierische Begegnungen werden von den Teilnehmern mancher Fotokurse von Zingst sogar erhofft; im Winter hingegen zumindest bizarre Eislandschaften. Rund ums Jahr werden dort Kurse für Profis, Amateure oder Neueinsteiger organisiert. In der Absicht, mit Ahrenshoop keine kräftezehrende Rangelei um die Liebhaber der bildenden Kunst anzuzetteln, hat sich der Ort ganz und gar auf fotografierende Klientel konzentriert. Und die findet alles, was des Lichtbildners Herz begehrt, von der Druckerei bis zur Bildband-Sammlung, von Ausstellungen bis zum Technikverleih. Und reichlich Motive natürlich.

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