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Wie ein Sahneklecks. Aus der Entfernung nimmt man dem Mont Blanc seine 4810 Meter gar nicht ab.

© imago/blickwinkel

Mont Blanc: Babylonien am Berg

Sprachgewirr vor den Hütten: Die Umrundung des Mont Blanc gilt als spektakuläre Trekkingtour. Deshalb kommen Wanderer aus aller Welt.

Mal zeigt er sich in seiner ganzen Schönheit, mal versteckt er sich hinter der Aiguille de Tricot. Dann lugt seine weiße Kuppe wieder über dem Dôme du Goûter hervor, um im nächsten Augenblick erneut hinter dicken Wolken zu verschwinden. So geht es ständig, wenn man um den Mont Blanc herumwandert. Vorhang auf, Vorhang zu. Wie im Theater. Ein Naturschauspiel in mindestens sieben Akten. Genauso viele Etappen hat unsere Tour um den Mont Blanc, die zu den spektakulärsten Trekkingrouten der Alpen gehört.

Der erste Akt – ziemlich romantisch. Knallrote Sonnenschirme auf sattgrüner Almwiese, üppige Geranien und ein Kuhglockenkonzert von ein paar Dutzend Rindern – so empfängt uns die Auberge du Truc auf 1720 Meter Höhe. Zuvor haben wir uns bei strahlend blauem Himmel am Bahnhof von Le Fayet getroffen, sind mit dem Kleinbus zum Bergdorf Les Contamines gefahren und von dort aus mehrere hundert Meter hinaufgestiegen. Vorbei an rauschenden Bächen und dunklen Nadelbäumen. Oberhalb der Baumgrenze ging es dann über saftige Almwiesen weiter.

An der Herberge angekommen öffnet sich ein Kranz von Gipfeln ringsum. Zwar verstellen sie die Sicht auf den Mont Blanc, den wir nur hinter der Aiguille erahnen können. Doch lässt sich kaum eine schönere Kulisse fürs Abendessen unter freiem Himmel denken. Gemüsesuppe, Omelette und würzigen Tomme de Savoie-Käse tischen die Wirtsleute an der langen Tafel vor der Hütte auf. Und man tut gut daran, das eine oder andere Gläschen von dem roten Tafelwein dazu zu trinken: umso besser schläft es sich anschließend im Matratzenlager.

„Immer mit angezogener Handbremse starten“

Wir teilen es mit einem knappen Dutzend Bergsteiger, ebenso wie die bescheidenen Waschgelegenheiten. Luxus darf man auf der Tour du Mont Blanc ohnehin nicht erwarten. Da kann sich die Alpinschule Innsbruck, die unsere Reise organisiert hat, noch so sehr bemühen – in diesem stark frequentierten Teil der Alpen bleiben Komfort und Service hinter dem Bergerlebnis zurück. Wer sich auf eigene Faust auf den Weg macht, riskiert, sogar ganz ohne Dach über dem Kopf zu bleiben. Rechtzeitig reservieren ist Pflicht.

Und wehe dem, der keine gute Kondition und schon von der ersten Wanderung einen ordentlichen Muskelkater hat! Schließlich steht bereits am zweiten Tag die längste Wanderetappe der ganzen Woche an. Um die 1500 Meter müssen wir zu den Pässen Col du Bonhomme und Col des Fours aufsteigen. Die ersten aus der Gruppe wollen gleich losstürmen. Doch Bergführer Engelbert Leitner legt ein eher gemächliches Tempo vor. „Immer mit angezogener Handbremse starten“, empfiehlt er. „Mit dem Auto fährt man ja auch nicht im dritten Gang den Berg rauf.“

Außerdem öffnet uns der Osttiroler die Augen für die Schönheiten am Wegesrand. Mal macht er uns auf weißen Augentrost, mal auf behaarte Glockenblumen oder rosa Weidenröschen aufmerksam, und wir nehmen erstaunt zur Kenntnis, dass es neben dem blauen und gelben Enzian, aus dem der Schnaps gebrannt wird, auch eine sehr viel seltenere purpurfarbene Variante gibt.

Im ehemaligen Hühnerstall ist es mit der Bergromantik vorbei

Etappenziel Col de Balme. Die Hütte rustikal, die Aussicht unbezahlbar.
Etappenziel Col de Balme. Die Hütte rustikal, die Aussicht unbezahlbar.

© Wiebrecht

Auch wenn uns die Exkurse in die Pflanzenkunde von den Mühen des Aufstiegs ablenken – die letzten Höhenmeter sind arg beschwerlich. Immerhin werden wir kurz nach dem zweiten Pass mit einem Blick der Superlative belohnt. Majestätisch thront der Mont Blanc, der „weiße Berg“ mit seinen 4810 Metern über einem ganzen Heer von Gipfeln. Dabei sieht ausgerechnet der Höchste der Alpen so gar nicht bedrohlich aus. Eher wie ein riesiger Klecks Sahne, der sich über einem Felsen breitgemacht hat. Seit Jahrhunderten übt er eine magische Anziehungskraft aus. Wie viele Gipfelstürmer haben sich nicht an ihm versucht, nachdem Jacques Balmat und Michel-Gabriel Paccard 1786 die Erstbesteigung gelungen ist! Darunter diverse Frauen, die im 19. Jahrhundert Bergsteigerinnen-Geschichte geschrieben haben...

So begleiten uns allerlei Anekdoten rund um den Mythos Mont Blanc auf dem langen Abstieg nach Les Chapieux. Als wir am frühen Abend mit heiß gelaufenen Füßen das Refuge des Mottets erreichen, ist es allerdings mit jeglicher Bergromantik vorbei. Unzählige Wanderer aus aller Welt scharen sich um die Hütte. Hier ein Andorraner, dort eine Gruppe von Spaniern, Italiener, Franzosen, Koreaner. Es herrscht ein babylonisches Sprachgewirr. Die schmalen Betten im ehemaligen Hühnerstall sind restlos besetzt, und wer eins ergattert hat, darf sich in die Prozession zu den wenigen Duschen einreihen. Immerhin entschädigt uns das Essen für den spartanischen Komfort. An der köstlichen Bohnensuppe, dem Gulasch mit Reis und Kürbisgemüse, Käse und Kuchen könnte sich so mancher Landgasthof ein Beispiel nehmen.

Auch das Frühstück ist für französische Verhältnisse mehr als passabel. Trotzdem fällt uns der Abschied von dem Massenlager nicht schwer. Wir brechen früh auf und erreichen bereits in den ersten Morgenstunden den Col de Seigne auf 2516 Metern Höhe. Ein eisiger Wind weht über die letzten Schneereste am Pass. Doch bald haben wir ein geschütztes Plätzchen gefunden, um eine der schönsten Aussichten auf den Mont Blanc zu genießen. Der hat jetzt allerdings seinen Namen geändert und heißt Monte Bianco. Schließlich haben wir inzwischen die Grenze zu Italien passiert.

Abends gibt's Käsefondue

Und wenn uns jemand auf dem langen Abstieg begegnet, der an mehreren gewaltigen Gletschermoränen entlangführt, grüßt er uns statt mit zart geflötetem „Bonjour“ mit einem vollmundigen „Buongiorno“. Natürlich wird uns auf der Hütte Elena, wo wir die bevorstehende Nacht verbringen, auch Pasta serviert. Wenn die Tour du Mont Blanc schon durch drei verschiedene Länder – Frankreich, Italien und die Schweiz – führt, dann muss sich das schließlich auch in der Kulinarik widerspiegeln.

Folgerichtig tischen uns die Eidgenossen am vierten Abend ein herzhaftes Käsefondue auf. Den entsprechenden Appetit holen wir uns, indem wir erneut einen Pass, den 2537 Meter hohen Grand Col Ferret überschreiten und durch saftig grüne Matten ins Schweizer Örtchen Prayon hinunterwandern, dort in den Bus nach Champex steigen und an sprudelnden Gebirgsbächen entlang zum Relais d’Arpette hinaufgehen.

Das klappt jetzt wie von selbst. Der Muskelkater ist verschwunden, die Blasen an den Füßen sind schon wieder abgeheilt, der Körper hat sich an das tägliche Pensum gewöhnt. Ein Glück. Denn sonst wäre der fünfte Tag eine furchtbare, kaum zu ertragende Strapaze. Dabei handelt es sich um einen der Höhepunkte der Trekkingwoche. Bei herrlichem Kaiserwetter, wie die Österreicher sagen – und von denen sind neben unserem Bergführer noch zwei weitere dabei –, steigen wir erst durch das Val d’Arpette, wo schwarze Kühe weiden. Weiter geht’s durch ein riesiges Kar voller Geröll zur 2666 Meter hohen Fenêtre d’Arpette hinauf. Der Name passt: Wie durch ein Fenster blickt man von der Passhöhe ins Nachbartal mit dem riesigen Glacier du Trient, ein Gletscher, der sich wie ein archaischer Dickhäuter die Felsen hinunter zieht. Doch ach, am Ende bleibt vom ewigen Eis nur ein reißender Gebirgsbach übrig, in dem wir unsere müden Füße erfrischen.

Auch Frankreich kann uncharmant sein

Denkmal für Jacques Balmat in Chamonix.
Denkmal für Jacques Balmat in Chamonix.

© IMAGO

So beseelt, wie wir die Auberge du Mont Blanc in Trient erreichen, können wir es verschmerzen, dass sich die Schweiz hier nicht gerade von ihrer gastfreundlichsten Seite zeigt, mit beengten Schlafräumen und angeschimmelten Duschkabinen. Doch abermals versöhnt das schmackhafte Abendessen.

Allerdings kann auch Frankreich uncharmant sein: Am folgenden Tag begrüßen uns auf dem Col de Balme Schilder wie „Picknick verboten“ und „Kein Trinkwasser“. Zu allem Überfluss auch noch eine Hüttenwirtin, die streng darüber wacht, dass keiner seinen mitgebrachten Müsliriegel verzehrt. Nein, da mag man nicht verweilen. Und erst recht nicht die überhöhten Preise zahlen. Lieber steigen wir zum Châlet de Charamillon an der Gondelstation von Le Tour hinunter, wo wir es uns in Liegestühlen auf der Sonnenterrasse bequem machen und uns beim Café au lait nach Herzenslust am Mont Blanc sattsehen können.

Zeit haben wir ja genug. Denn von hier ist es nur noch ein Stündchen bis zum Châlet du Club Alpin Français in Le Tour. Endlich wieder eine gepflegte Herberge mit kleinen, pieksauberen Zimmern, freundlichem Personal und liebevoll zubereitetem Essen. Das Beste kommt eben zum Schluss. Wie oft bei organisierten Touren, die man dann in umso besserer Erinnerung behält.

Diesen Anblick vergisst man nicht

Doch nicht die Unterkunft ist der krönende Abschluss. Nein, es ist die letzte Etappe: wieder ein Aufstieg von etwa tausend Höhenmetern, dieses Mal zum Massif des Aiguilles Rouges, dem „Massiv der roten Nadeln“ mit lauter zackigen Felsen, das sich schräg gegenüber vom Mont Blanc über Argentières erhebt. Dabei gilt es ausgerechnet in den letzten Stunden die technisch schwierigste Hürde zu nehmen. Nachdem es bislang nichts zu klettern gab, müssen wir uns jetzt mit Hilfe von wahren Himmelsleitern an steilen Felswänden hinaufhangeln.

Bahnhof mit Geschichte
Bahnhof mit Geschichte

© imago

Aber auch das gelingt allen aus der Gruppe. Und oben angekommen, erwartet uns ein Panorama, wie wir es kaum schöner zu Gesicht bekommen können: ein großes Gipfeltreffen. Hier die Aiguille du Midi, dort der Dôme du Goûter, weiter hinten Aiguille Verte und Grandes Jourasses, die zu den größten Herausforderungen der Alpen gehören. Und inmitten der unzähligen Drei- und Viertausender strecken sechs Gletscher ihre langen Zungen in die Täler hinab.

Nein, diesen Anblick werden wir so schnell nicht vergessen. Auch wenn wir bald darauf wieder in die Niederungen des Touristenalltags von Chamonix zurückkommen, wo es nur so wimmelt von Sportgeschäften, Souvenirshops und Lokalen, die mit Sushi, Mojito oder Fastfood weniger sportliche Besucher locken.

Gleich neben der Kirche wird wiederum das Büro der Bergführer von potenziellen Gipfelstürmern überrannt. Natürlich. Alle wollen ja auf den Mont Blanc. Nur wir nicht. Eine Woche lang haben wir uns den großen Weißen von allen Seiten angesehen, je nach Perspektive immer wieder ein neues Panorama vor uns gehabt und viel Schönes am Wegesrand erlebt. Mehr Mont Blanc braucht es nicht. Vorerst zumindest.

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