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Kalimera! Guten Morgen! Der Fischer und Betreiber einer Taverne in Skoutari auf dem Peloponnes hält Ausschau nach den ersten Gästen.

© Rolf Haid, pa

Peloponnes: Schlafen im Zitronenhain

Griechischer Frühling auf dem Peloponnes. Um diese Jahreszeit können Reisende sich einfach treiben lassen, Vorausbuchungen sind überflüssig.

Mit bildermalenden und eindringlich gestikulierenden Händen macht Leonides Vassili deutlich, dass Touristen auf gar keinen Fall die fränkische Ruinenstadt Mystra verpassen dürfen, das „Pompeji Griechenlands“. Der ordentlich Deutsch sprechende Souvenirverkäufer („14Jahre Großmarkt Hamburg“) in Patras, dem nördlichen Ausgangspunkt der kleinen Erkundungsreise durch den Westen des Peloponnes, ist völlig aus dem Häuschen. „Die Pantanassa-Kirche ist das schönste Beispiel byzantinischer Kunst zum Anfassen!“

Und einen treffenden Vers aus einem alten Lied über den Furor damaliger Omnipotenz der ungeliebten Fremden zitiert Leonides auch gleich: „Jedes Mal, wenn die fränkischen Rosse wieherten, wurden die griechischen Stuten trächtig.“ Die beiden Urlauber – Klaus und Petra aus Hagen – sind günstig von Köln nach Patras geflogen. Ohne festgelegte Route, ohne vorgebuchte Bleibe. Die sei jetzt im Frühling einfach zu finden, sagen sie. So hatten sie es schon im Vorjahr problemlos gemacht in Thrakien.

Diesmal also der Westpeloponnes. Mal sehen. Nur den Mietwagen am Flughafen haben sie vor Reisebeginn reserviert. Der Vormittag hat schon begonnen, doch für eine lange erste Etappe würde es noch reichen. Jetzt sind sie gut 75 Kilometer von Patras entfernt, in Kastron oberhalb von Kyllini, der Fährstation nach Zakynthos. Hier machen sie Station. Leonides hatte ihnen die Adresse für die erste Nacht zugesteckt: „Ist privat, sagt Grüße von mir. Das klappt, billig, billig!“

„Es gibt keinen schöneren Fleck auf der Erde“

Warmer Wind, der sanfte Bruder des heißen Meltemi, kommt auf nach dem äolischen Nickerchen am Spätnachmittag im Bergnest Kastron. Sinnlichkeit hängt wie ein Versprechen von Verführung und Glück über dem Berghang und schmeichelt sich mit dem Duft von Oleander, Thymian und Salbei auf die Lippen. „Für mich gibt es keinen schöneren Fleck auf der Erde. Es ist wie ein Paradies!“ Miriam Rossbach atmet tief ein auf der Terrasse ihres von Steineichen umgebenen Hauses mit einem Fundament aus grauen Naturfelsbrocken.

Mystra, Ruinenstadt bei Sparta
Mystra, Ruinenstadt bei Sparta

© Bgabel

Die 44-jährige Übersetzerin ist vor 13 Jahren von München auf den Peloponnes gezogen. Als Liebesbeweis. Ihr Ehemann Manoles, Lehrer aus Kyllini, bringt soeben frische Früchte, als seine Frau davon erzählt. Sie muss lauter reden, um das Crescendo der Zikaden zu übertönen, das immer gegen Abend aufbraust wie ein Konzert en suite. Gewiss, selbstverständlich können Freunde von Leonides, die extra heraufgewandert sind, bei ihnen wohnen. Es gibt ein winziges Gästezimmer.

Sie war ja selbst einmal eine Fremde gewesen. Unten an der Küste hatten sie zunächst eine Wohnung gehabt und einen Peripteros eröffnet, einen kleinen Kiosk. In Lutra Kyllini, dem einzigen Thermalbad in der weiteren Gegend. Dann kauften sie das Haus am Ende eines abfallenden, jetzt aufgegebenen Zitronenhaines am sanften Berghang. Es ist eigentlich ein Kalivi, wie die bäuerlichen Sommerhäuser heißen. Im Winter wohnten die Einheimischen einst nach der Ernte am wärmeren Küstensaum. So ein Haus haben Miriam und Manoles für sich zur Dauerbleibe umgebaut.

Die Schatten auf der Terrasse werden länger. Nach den Früchten serviert Miriam ihren deutschen Gästen einen frischen weißen Rhoditis von den nahen Weinhängen des Achaia-Gebirges, auf dem trockenen Boden von Sand, Ton und Kalkstein erwachsen geworden. Dazu Kefalotyri, ein griechischer Hartkäse aus Ziegen- und Schafsmilch, und außerdem grüne Oliven, Grundlage des allerbesten Koroneiki-Öles aus der Region Mani im Südwesten der Halbinsel.

Goldschatz der Antike

Petra hat jetzt doch Pläne gemacht: „Morgen fahren wir mit dem Leihwagen von Kyllini aus die Küste hinunter, mit ein paar interessanten Abstechern in die Geschichte.“ „Aber nutzt auf jeden Fall auch das Meer für Badepausen!“ Miriam preist die weiten, kilometerlangen hellsandigen Strände. Dann tippt sie mit dem Finger auf eine auf dem Holztisch ausgebreitete Landkarte des Westpeloponnes. Schwarze Punkte nur auf dem Faltplan und doch leuchtende Perlen am Rosenkranz der Antike. Und ganz fest im Besuchsprogramm der kommenden vier Tage eingeplant.

Mykene, Schatzhaus des Atreus
Mykene, Schatzhaus des Atreus

© imago

Wie zum Beispiel Mykene, ein sonnendurchglühtes Ruinenfeld ohne Schatten auf einer Anhöhe nördlich der Ebene von Argos. Vor 3300 Jahren war es die mächtigste Palaststadt der Argolis mit dem furchteinflößenden Tor und den zwei in Stein gehauenen Löwinnen im Tordreieck. Ein Zentrum der Macht mit seinen Kuppel- und Schachtgräbern, wo der deutsche Heinrich Schliemann 1876 im Schatzhaus des Atreus den Goldschatz samt „Maske des Agamemnon“ gefunden haben wollte. Diese Totenmaske stammt allerdings wohl eher aus dem 16. Jahrhundert vor Christus und ist damit 300 Jahre älter als die Figur Homers aus der „Ilias“.

Unstrittig hingegen ist bis heute der wohl schönste Blick von hier bis ans Meer. Dieses schmachtet sich auch heute noch hörbar bis nach Kastron herauf. Und schmatzt jetzt in der tiefen Senke dieses vergehenden Tages an den überschäumten Küstensaum da drunten, wie ein Liebhaber, der auf ewig die Erde küsst. Man muss nur erst mal hinkommen. Jetzt schmiegt sich der Mond in die irdenen rotgrauen Wellen des wie schon in der Antike lakonisch gedeckten Ziegeldaches, mit kleineren Felsbrocken beschwert gegen garstige Winterwinde.

Von den jetzt unsichtbaren Berghängen plätschern die fernen Klangkaskaden der Schafsglocken durch den schwarzen Vorhang der geschlossenen Nachtbühne. Mykene? Muss wohl noch warten. Morgen, vielleicht. Jetzt erst einmal den Augenblick wirken lassen. Das Licht auf der Terrasse wird matter. Miriams Finger fährt für die Vorbereitung der kommende Etappe im Schein des Windlichtes auf der Karte weiter. Hält bei Olympia: Eingebettet in ein von sanften Bergen geschütztes Tal, nach Westen, zum Meer, geöffnet.

Zeus hat hier gekämpft

Staunen im Stadion. Olympia, Austragungsort der Spiele der Antike.
Staunen im Stadion. Olympia, Austragungsort der Spiele der Antike.

© Hans Ringhofer, pa

Katalyse von Eifersucht, Feindschaften, Bürgerkriegen. Schon die Götter haben sich an diesem Platz gemessen. Zeus hat hier gekämpft, um seinem Vater Knossos erfolgreich die Königsherrschaft zu entreißen; Apollo, der Gott des Lichtes, besiegte Hermes im Faustkampf. Hier schuf Meister Phidias in seiner Werkstatt die – verschwundene – zwölf Meter hohe Zeusstatue, eines der sieben antiken Weltwunder, eine fast maßlose Monstranz einer lichtgestaltartigen Übergottheit, bedeckt mit Gold und Elfenbein.

Und dann die Menschen: Alle vier Jahre im Sommer trafen sich mehr als tausend Jahre lang alle Parteien und Widerparte Griechenlands in Olympia zu – wenigsten für Momente – einigenden Wettspielen auf dem Boden des Altis-Heiligtums unter dem Kronoshügel an den Ufern von Kladeos und Alpheios.

Vorbei, vorbei. Die Projektion friedvoller Versöhnung und Verbrüderung ist längst verkommen zur plastifizierten Klassikkarikatur mit stoßzeitmäßiger Parkraumbewirtschaftung. Und im kritischen Gegenlicht des Erbes des olympischen Bildhauers Phidias gerinnen (außer im akkuraten Museum) in den Souvenirshops keine hundert Meter entfernt vom heiligen Feld die göttlichen Dekorationen des Heiligtums zu Folkloredevotionalien der Reise- und Ramschsammler auf Schlüsselanhängern, T-Shirts, Henkeltassen, Schneekugeln.

Dennoch: Ein Besuch Olympias lohnt noch immer, wenn man sich in der Säulenallee der Palästra einlassen kann auf die natürliche Schönheit aufrechter Muschelkalksteine. Auf die innere Stille unter einem schattigen Baum gegenüber dem grasbewachsenen, flachwalligen Stadion. Auf eine auch arhythmische Spurensuche – nicht nur auf dem eher asketischen Hintergrund humanistischer Bildung. Etwa im Museum beim Betrachten des westlichen Giebels, des vermenschlichsten der beiden erzählenden Dachstrukturen des einstigen Zeustempels: Ein trunkener Kentaur umfasst mit grober Hand eine Frau der Lapithen. Und diese sinkt fast zu Boden vor Schmerz – und Wonne.

Erst einmal an den Strand

Aber man ist ja noch gar nicht da. Übermorgen vielleicht. Nun ist es fast dunkel. Miriam hat einen Klassiker serviert: Lamm mit weißen Callini-Bohnen. Dazu diesmal einen Roten aus den Weingärten von Lakopetra oberhalb der herrlichen Bucht am Ionischen Meer, nur 35 Kilometer entfernt von Patras. Manolis kommt hinzu. Bringt zum Abschluss saftige Kalmata-Oliven aus der nahen messenischen Ebene und kräftigen Käse. Schenkt noch einmal nach.

Das Orchester der Zikaden ist verstummt. „Jammas! Ein Prost auf die Nacht – kali nichta, gute Nacht. Und lasst uns morgen, bevor ihr nach Mykene, Olympia und was weiß ich wohin noch aufbrecht, erst einmal an den Strand gehen. So früh ist dann noch nichts los am Meer.“

Der nächste Tag. Fußwanderung hinunter zur Küste. Glück am frühen Morgen. Ein Meer, das sich müht, wach zu werden ohne Lärm, noch von keiner Fährspur genarbt. Die ersten Fußeindrücke des Tages im Sand, die die Wogenzungen immer wieder weglecken. Die frühen Sonnenstrahlen, die sich schräg über die Schulter aufs Wasser wagen, um auf den sich räkelnden Wellenhügelchen ein erstes quicklebendiges Funkeln anzuzünden. Das Licht in einer unschuldigen Reinheit, die jeden Maler auf der Stelle entzücken würde.

Diese taufrische Erholung ist ein Frühstück für die Sinne, bis später, zur schon heißen, senkrechten Stunde des Tages, die blauglasgegossene maritime Ordnung zu einem blindgrauen Bleiteller schmilzt. In den Kronen der Eukalyptusbäume und Eichen an dieser Küste, die zu den malerischsten Griechenlands gehört, sind dann die sonst so geschwätzigen Krähen erschöpft verstummt. Und am Berghang haben sich die Ziegen bereits ins dornige Geäst eines einzelnen Arganbaumes zurückgezogen. Nur drei schwarze Zicklein liegen ermattet zu Füßen des Stamms.

„Gott liebt Kaviar“

Leonidas kann sich wieder erinnern an die kleine deutsche Gruppe von gestern. „Iassou, iassou! Alles klar? Wann geht’s los?“ Und wartet gar nicht ab, sondern pfeffert sofort eine Salve kategorischer Imperative des Reisens hinterher: „Denkt dran, dass ihr unbedingt auch nach Mani müsst! Und die Wohntürme besuchen! Und danach in die Tropfsteinhöhlen von Dirou! Auf jeden Fall auch mit dem Boot mal rund ums Kap Matapan kurven, das ist der südlichste Punkt des griechischen Festlandes. Da war früher einer der Eingänge zur Unterwelt, den Hades.“ Seine gespreizten Finger stechen in die Luft. Zwei Krähen im Baum heben krächzend ab.

Aber dann hat entgegen aller Absicht vom Vortag doch noch die schönste Ferienfaulheit die kleine Gruppe angesteckt. „Nein, wir fahren noch nicht. Bleiben noch einen weiteren Tag bei Miriam. Zu heiß heute.“ Irgendwann später wird – versprochen! – alles besichtigt, gewiss. Jetzt aber ist erst einmal Pause, bis zum Abend. Gereist wird morgen. Oder übermorgen.

Heute, wenn das Abendmeer erneut wie ein nur hingeworfenes Samttuch dunkelviolett schimmert, wenn die Ziegen wieder heruntergestiegen sind vom Baum. Wenn die Lieder aus den Lautsprechern der Tavernen im Siebenachteltakt des Kalamatianos-Tanzes scheppern, die Glieder des Kompoloi, jenes unentbehrlichen säkularen Kügleinkranzes, klickend durch die rauen Fingerkuppen der Männer im Kafeneion gleiten wie eine ewige Begleitung des Bewegten: Dann möchte man sich, wäre man am Strand und nicht hier oben, am liebsten die Kleider vom Leibe reißen vor lauter Lebenslust. Schließlich: Nach der gewonnenen Seeschlacht von Salamis, einer Insel vor Athen, tanzte auch der siebzehnjährige Jungspund und spätere Tragödiendichter und Politiker Sophokles vor Freude schon nackt am Strand. Aber das war vor exakt 1534 Jahren. Andere Zeiten, andere Sitten.

Manolis sammelt seine kleine Gruppe ein für das spätere Gastmahl auf der Terrasse. Miriam hat diesmal Moussaka gekocht. Von hier oben wirkt das Meer wie ein Dunstbild im Weichzeichner des Abends. Manoles erzählt passend zum Essen von „Gott liebt Kaviar“, einem Film von Jannis Smaragdis, den der Regisseur 2011 hier auf dem Peloponnes mit Sebastian Koch und Catherine Deneuve gedreht hat, eine eindrucksvolle Hommage an den Überlebenswillen der Griechen zur Zeit der osmanischen Besetzung.

Emma, die rötlich-weiß gemusterte Katze von Miriam, hat sich innen vor die Haustür gelegt und schnurrt im Schlaf, versperrt dabei auch jeden Aus- und Aufbruchversuch aus der satten Idylle. „Wie schön, wir haben alle Zeit der Welt“, beruhigt Klaus seine Gastgeber. Sonst sagt keiner etwas in diesem herrlichen, schläfrigen Augenblick. Das Glück schimmert als Mond herab durch das löchrige Blätterdach der Steineichen und flüstert gestammelte silberne Silben.

Uwe Krist

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