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Sommerschmuck. Vinschgauer lieben Blumen. Jedes Bauernhaus wird reich bunt und verziert.

© mauritius images/imagebroker/Bahnmueller

Südtirol: Da klingelt ein Glöckchen im Bach

Künstliche Wasserläufe sind typisch im Südtiroler Vinschgau. Das tief eingeschnittene Gebirgstal ist trocken wie Sizilien, eine ideale Region für Genusswanderer.

Der Wegweiser zeigt in einen wild zerklüfteten Taleinschnitt. Klar, dass Genusswanderer nun mit dem Schlimmsten rechnen – mit einem schweißtreibenden Auf und Ab oder gar mit Kletterpassagen, die mit Seilen gesichert sind! Die Befürchtungen erweisen sich jedoch als unbegründet. Denn der gut befestigte Weg quert den Steilhang mit einem kaum spürbaren Steigungswinkel. Gerade so breit ist er, dass zwei Fußgänger aneinander vorbeikommen. Bergseitig wird er von einem leise murmelnden Bächlein begleitet – geschätzt rund dreißig Zentimeter tief, eiskalt und glasklar.

Wir sind im Südtiroler Vinschgau, der alpenweit das dichteste Netz solcher sogenannten Waale hat, kilometerlanger Gräben also, die schon vor Jahrhunderten ausgehoben wurden, um das von den Gletscherbächen abgezweigte Wasser dorthin zu transportieren, wo es für die Landwirtschaft gebraucht wurde. Das tief eingeschnittene Gebirgstal ist nämlich genauso trocken wie Sizilien. Schuld daran sind die Ötztaler und die Rätischen Alpen, die als Schlechtwetterbarrieren wirken. Während der Vegetationsperiode fällt oftmals nur so geringer Niederschlag, dass die künstliche Bewässerung stets zu einer Überlebensfrage wird.

Fast zwei Drittel der einstmals 1200 Südtiroler Waale fanden sich im Val Venosta, wie die Italiener in Wiederaufnahme des römischen Begriffs den Vinschgau nennen. Die meisten sind freilich längst ersetzt worden durch rationellere Bewässerungssysteme, die das Wasser über unterirdische Rohre an automatische Sprenkler verteilen. Zweihundert Kilometer dieser Kanäle sind aber nach wie vor in Betrieb, wobei freilich nur jeder Vierte offen geführt und im ursprünglichen Sinne genutzt wird.

Alles ist dort grün

Welches Kapital man mit diesen Infrastrukturen der Arbeitswelt hat, dämmerte den Tourismusverantwortlichen erst Anfang der 90er Jahre. Die Zeiten hatten sich nämlich gewandelt: Zog der von mächtigen Dreitausendern eingerahmte Vinschgau zunächst gestandene Bergwanderer und Alpinisten an, die sich für die menschlichen Siedlungsräume nur beiläufig interessierten, so überwiegen heute Hobbygeher, die den großen Höhen fern bleiben und keine konditionellen Grenzerlebnisse suchen.

Ein Faszinosum sind die Waalwege auch deshalb, weil sie den Naturfreund in ein sehr spezielles Biotop eintauchen lassen. Am offensichtlichsten wird der Mikrokosmos aus Menschenhand am Latschanderwaal: In seiner Mitte gibt es ein kurzes Teilstück, in dem das Wasser verrohrt wurde. Während hier die Umgebung trostlos kahl aussieht, ist man auf dem Rest der Strecke von üppigster Natur umgeben.

Ein klassischer Waal ist schon von Weitem zu erkennen: Weil er den umgebenden Boden feucht hält, ist dort alles grün, was eine beispiellose Artenvielfalt zur Folge hat. Waale sind die Oasen der inneralpinen Trockentäler, Agenten der Biodiversität, kulturgeschichtliche Artefakte, die mit der sie umgebenden Natur zu einer harmonischen Einheit verschmolzen sind.

Zu den attraktivsten Wanderangeboten zählt der Tscharser Waal zwischen Kastelbell und Reinhold Messners Schloss Juval. Gesäumt von uralten Kastanien und bemoosten Felsen, entfaltet er einen Sog, der das Wandern zu einer Art Schwebeerlebnis macht.

Keck auf der Spitze. Schloss Juval, Reinhold Messners Sommerresidenz.
Keck auf der Spitze. Schloss Juval, Reinhold Messners Sommerresidenz.

© imago

Die Bauern waren Rivalen

Spannend wird es aber auch für geschichtlich und technisch Interessierte. Denn hier und da steht ein kleines Mühlrad mit einer sogenannten Waalschelle im Bachbett. Das kostbare Nass bringt ein Glöckchen zum Klingeln, das für die systematische Flurbewässerung von elementarer Wichtigkeit war. Ließ der Wasserdruck nach, so vergrößerten sich die zeitlichen Abstände des Klingeltons – das kontinuierliche „Singen“ der Schelle war unterbrochen. Für den zuständigen „Waaler“ hieß es nun ausrücken, nach der undichten Stelle suchen beziehungsweise nach dem Missetäter, der das Wasser heimlich auf seine Felder umgeleitet hatte.

Der Waaler war das ausführende Organ des demokratisch gewählten Waalmeisters, der die gerechte Verteilung des Wassers an die Bezugsberechtigten sicherzustellen hatte und damit eine Art Friedensrichter war. Streitigkeiten und Prozesse gehörten nämlich zur Tagesordnung.

Die bäuerliche Gesellschaft bestand im ursprünglichen Wortsinne aus Rivalen – aus Personen also, die über eine gemeinsame Wasserader (Lateinisch: rivus) verfügten und damit zum Ausgleich ihrer Interessengegensätze gezwungen waren. Im gesamten Tal gab es keine Gemeindesatzung, in der nicht über mehrere Seiten die Regeln und Bewässerungs-Turnusse festgelegt waren. Der Kampf um das Lebenselixier Wasser hat die Menschen im Vinschgau nachhaltig geprägt. Kein Wunder, dass sie dem Außenstehenden gerne als kantig und wenig kompromissbereit erscheinen.

Als ob sich mit dem Golden Delicious die Welt regieren ließe

Keine Qual am Waal. Entlang des Wassers läuft es sich ganz entspannt.
Keine Qual am Waal. Entlang des Wassers läuft es sich ganz entspannt.

© Gerhard Fitzthum

Der unaufhaltsame Rückgang der traditionellen Waalbewirtschaftung lässt erwarten, dass immer weniger Wasser verbraucht wird. Doch das genaue Gegenteil ist der Fall. Denn wie kein anderes Alpental hat sich der Vinschgau einer intensiven Landwirtschaft verschrieben, vor allem dem Obstanbau. 350 000 Tonnen Äpfel werden hier jedes Jahr produziert, größtenteils Golden Delicious.

Zehn Prozent der in der EU geernteten Äpfel stammen aus Südtirol, wovon ein Drittel zwischen Meran und Mals gereift ist. Die enorme Nachfrage ist kein Zufall: die Höhenlage von bis zu tausend Metern garantiert allerbeste Qualität: Die extremen Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht lassen die Früchte langsamer wachsen, was sie nicht nur widerstandsfähiger, sondern auch schmackhafter macht.

Gianni Bodini, der unsere Wandergruppe durchs Tal führt, kann allerdings keine Apfelplantagen mehr sehen. Die Monokulturen würden als Allheilmittel betrachtet, weil man im Unterschied zur konventionellen Landwirtschaft pro Hektar vier- bis sechsmal so viel verdiene, schimpft der renommierte Fotograf, der vor 30 Jahren aus Mailand in den deutschsprachigen Vinschgau gezogen war. Die einseitige Konzentration auf diesen Erwerbszweig mache anfällig für Absatzkrisen und Schädlingsepidemien. Dennoch führten sich die hochsubventionierten Obstproduzenten auf, als ob sich „mit dem Golden Delicious die Welt regieren“ ließe.

Auch ein anderes Problem liegt auf der Hand: Die Pestizide machen an der Grundstücksgrenze nicht Halt. Wer in der Nachbarschaft Futtermittel produzieren will, wird unfreiwilliger Teilnehmer einer Wind-Lotterie. Gleiches gilt für die immer zahlreicher werdenden Bio-Apfelbauern, die auf Gedeih und Verderb davon abhängig sind, dass ihre Nachbarn mit den Giften so sparsam umgehen, wie das nach außen immer behauptet wird.

Obstanbau macht dem Tourismus zu schaffen

Inzwischen hat übrigens auch die Bevölkerung die Nase voll: In einem Referendum votierte die klare Mehrheit der Malser Bürger für das Verbot von chemisch-synthetischen Pestiziden auf ihrem Gemeindegebiet. Natürlich wurde der Volksentscheid auf höherer Ebene wieder einkassiert – die EU-Gesetzgebung spricht den Kommunen das Recht ab, offiziell zugelassene Spritzmittel zu verbieten. Mit dem Freifahrschein für die Produktionsgenossenschaften dürfte es jedoch vorbei sein.

Längst ist nämlich klar, dass der Flächenfraß auch den Fremdenverkehr bedroht. Mittlerweile ist die Apfelwalze in der Bilderbuchlandschaft der Malser Haide angekommen, die früher als natürliche Obergrenze für den Obstanbau angesehen wurde. Im Zuge der allgemeinen Klimaerwärmung meint man, diese Grenze immer weiter hinaufschieben zu können. So ist aus dem einstmals grünen Talgrund ein flächendeckendes Agrar-Industriegebiet geworden, in dem verstümmelte Apfelbäume neben futuristisch wirkenden Wassersprinklern in Reih und Glied stehen.

Dass die Gäste in andere Teile Südtirols abwandern, ist freilich noch nicht zu beobachten. Schließlich gibt es im Vinschgau auf allen Höhenstufen durchaus attraktive Wanderangebote, den Vinschgauer und den Meraner Höhenweg, um nur zwei Beispiele zu nennen. Weil in dieser Höhe kein Obst mehr gedeiht, erfreut sich das Auge hier noch pastoraler Wiesen- und Weidenlandschaften. Hoch über der Talsohle von einem Hofschank zum anderen zu wandern, erweist sich als bezaubernde Alternative zum talnahen Waalwandern – für denjenigen zumindest, der beim Anblick einer Steigung nicht gleich die Nerven verliert.

Tipps für Vinschgau

ANREISE

ICE nach München, dort fährt im Zweistundentakt ein Eurocity nach Bozen, wo halbstündlich Züge nach Meran und einige davon direkt weiter bis nach Mals im oberen Vinschgau fahren. Das Tal hat dank der wiedereröffneten Vinschgau-Bahn ein exzellentes Netz an öffentlichen Verkehrsmitteln. An den wichtigsten Bahnhöfen können Fahrräder ausgeliehen werden, Mitnahme in den Zügen gratis, Abgabe an anderen Stationen möglich. Genaue Informationen dazu im Internet unter sii.bz.it oder vinschgaucard.net/de

REISEZEIT

(Waal-)Wanderungen am besten von April bis Juni und im September/Oktober. Im Hochsommer ist es (zumindest auf den Südhängen) zu heiß. Bergschuhe mit Profilsohle sind nicht zwingend nötig, aber sehr zu empfehlen.

ÜBERNACHTEN

Gasthaus Zum Gold’nen Adler in Schleis; Doppelzimmer mit Frühstück: 73 Euro, Einzel: 47 Euro (zum-goldnen-adler.com, Telefon: 00 39 / 04 73 / 83 11 39).

Pension Schweitzer in Schlanders; Doppelzimmer/Frühstück ab 80, Einzel ab 45 Euro (pension-schweitzer.com, Telefon: 00 39 / 04 73 / 73 01 74)

Hotel Himmelreich in Tschars; Doppelzimmer/Halbpension ab 136 Euro (Internet: himmelreich.it, Telefon: 00 39 / 04 73 / 62 41 09).

ESSEN UND TRINKEN

Zum Gold’nen Adler in Schleis; frische Produkte aus eigener Landwirtschaft (Telefon: 00 39 / 04 73 / 83 11 39);

Gasthaus Sonneck in Allitz. Anspruchsvolle regionale Küche, sehr moderate Preise (Telefon: 0039/04 73 /62 65 89)

LITERATUR
Gianni Bodini: Waalwege in Südtirol. Tappeiner Verlag, 19,90 Euro

Ursula Bauer/ Jürg Frischknecht: Schüttelbrot und Wasserwosser. Rotpunkt-Verlag, Zürich, 33 Euro

Gerhard Fitzthum

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