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Die Belohnung wartet in der Ferne. Der Weg zu Weißkugel (re.) und Langtauferer Spitze ist im wahrsten Wortsinn steinig.

© Martin Braito/mauritius images

Ötztaler Alpen: Hier und da am kurzen Seil

Wer als Flachlandtiroler in den Ötztaler Alpen auf einen Dreitausender wie die Weißkugel will, sollte sich einem Bergführer anvertrauen.

„Wie lange brauchst du morgens?“, fragt der Bergführer. Und wartet die Antwort nicht ab, sondern gibt sie gleich selbst: „Halb fünf Frühstück, fünf Uhr losgehen.“ In der Berghütte im Ötztal gibt es auch richtige Zimmer, der Gast schläft in Bettwäsche und nicht unter kratzigen Decken, an deren einer Seite warnend „FUSSENDE“ steht. Man kuschelt sich drunter – und hört es blitzen und donnern. Na, klasse. Später scheint der Vollmond aufs Kopfkissen. Genau aufs Kopfkissen.

An Schlaf ist allerdings sowieso kaum zu denken. Immer essen Bergsteiger abends zu viel, um für den nächsten Tag Kalorien zu bunkern. Immer gibt es Sauerkrautsalat oder Bohnen, dazu Nudeln oder Kartoffeln. Das führt zu unruhigem Schlaf. Man wälzt sich hin und her. Dazu nun auch noch dieser Mond. Saukalt ist es außerdem. Also aufstehen, im Rucksack kramen und sich dann mit Mütze auf dem Kopf weiterwälzen im Bett.

Im Speisesaal frühstückt der Bergführer schon mit den Bergschuhen an den Füßen. Liebevoll hat die Hüttenwirtin am Abend vorher alles aufgetischt, Brote, Butter, Käse und süße Manner-Schnitten. Tee ist bereits in Thermoskannen gefüllt. Ein hastiges Frühstück. Klettergurt anlegen. Mit Stirnlampen treten wir hinaus in die Nacht. Der Vollmond steht nun nahezu senkrecht über der Stille, über den Bergen. Über dem Ferner, wie sie hier zum Gletscher sagen. Es geht auf überfrorenem Fels einige Meter hinunter zu dem Berg aus Eis.

Wahnsinn, wie viele Deutsche den E 5 gehen

Der Bergführer probiert ein paar Schritte und ist zufrieden. Der Untergrund trägt. Die obere Kruste des Schnees auf dem Gletscher ist gerade fest genug, dass wir darauf gehen können. Wir werden also nicht bei jedem Schritt einsinken, was mühevoll wäre. Der Bergführer nimmt den Gast ans kurze Seil. Und so spazieren in der letzten Stunde vorm Morgengrauen zwei Menschen über den Gepatschferner. Der Mond steht schon tief. Schwach schimmert das Sternbild des Orion.

Die Weißkugel wollen wir angehen. Bis zum Gipfel. 3739 Meter hoch. Vom Ötztal aus ist es ein langer Zustieg, die meisten Bergwanderer starten deshalb von Südtiroler Seite aus. Ein Umstand, der typisch ist für das hintere Ötztal. Schließlich spazierte auch der Mann von Hauslabjoch, vulgo: der Ötzi, hier oben herum. Besiedelt wurde die Gegend um Vent ebenfalls von Südtirol aus. Und bis heute werden jedes Frühjahr Schafe vom Südtiroler Schnalstal auf die Venter Hochweiden getrieben, und im Herbst wieder zurück.

Am ersten Tag ging es für mich, noch ohne Bergführer, von Vent bis zur ersten Hütte. Es war eine lange Tour, doch es ging nur leicht ansteigend durch das Rofental. Ein enges Tal, mit Weiden an den steilen Hängen, wie gesprenkelt von Schafen. Und erstaunlich viel Wander-Gegenverkehr. Ganze Kolonnen kamen mir entgegen. Klar: Einer der beliebtesten Fernwanderwege der Region, die Alpenüberquerung Oberstdorf–Meran, führt hier entlang.

Die Venter betrachten das mit Fassungslosigkeit. „Es ist schon ein Wahnsinn, wie viele Deutsche den E 5 gehen“, hatte Kilian Scheiber vom Bergführerbüro gesagt, bei dem man Ausrüstung mieten und einen Führer buchen kann. „Jeden Tag demselben Hintern hinterhergehen …“, grummelte er noch.

Erster Anlaufpunkt: das Hochjoch-Hospiz

Zu den Begegnungen des Auftakttages gehört auch die mit den drei Jägersleut’. Neben den Schießgewehren tragen sie auch zwei erlegte Murmeltiere. Aus dem Murmeltierfett werden sie eine Salbe gewinnen, „ein berühmtes alpines Allheilmittel für Gelenkschmerzen“, sagen sie. Die Jäger stammen vom Rofenhof, mitten im Tal gelegen. Von dort war der Erstbesteiger der Weißkugel aufgebrochen. Das war Mitte des 19. Jahrhunderts, in der goldenen Ära des Alpinismus, als viele der hohen Gipfel erstmals bewältigt wurden.

Etappenziel erreicht. Das Brandenburger Haus des Berliner Alpenvereins.
Etappenziel erreicht. Das Brandenburger Haus des Berliner Alpenvereins.

© Barbara Schaefer

Das Hochjoch-Hospiz, erster Anlaufpunkt, liegt auf 2413 Meter, die Hütte gehört der Sektion Berlin des Deutschen Alpenvereins (DAV). Von hier geht es für alle, die größere Höhen wollen, nur mit Seil und Gletscherausrüstung weiter. Also, besser gleich mit einem Bergführer verabreden.

So kommt am nächsten Tag Karl Dung heraufgejoggt, mit 29 der jüngste Bergführer in Tirol. Mit zwölf Jahren hatte er angefangen zu klettern. Heute ist er Mitglied bei der Bergrettung, bei der Pistenrettung und bei der Lawinenkommission in Sölden. Da kann ja nichts mehr schiefgehen. Wir ziehen los.

Bis zum 2100 werden die Ötztaler Gletscher verschwunden sein

Schritt für Schritt über unwegsames Terrain. Am Ende wartet das Gipfelkreuz.
Schritt für Schritt über unwegsames Terrain. Am Ende wartet das Gipfelkreuz.

© imago

Am Kesselwandferner angelangt, packt Dung seine Kamera aus. „Ich mach’ jedes Jahr Fotos“, erzählt er. Vor einigen Jahren habe er hier noch Eiskletterkurse organisiert, der Gletscher hing über die Steilwand herunter. „In 20, 30 Jahren wird von diesen Gletschern fast nichts mehr übrig sein“, prophezeit der Bergfex. Das sind nicht nur gefühlte Wahrheiten: Die Bayerische Akademie der Wissenschaften forschte auf dem nahe gelegenen Vernagtferner; und der Alpenverein misst seit 120 Jahren die Längen der Gletscher. Beide kamen zum selben Ergebnis: Bis zum Jahr 2100 werden wohl alle Ötztaler Gletscher verschwunden sein.

Aus beruflicher Sicht sieht es Karl Dung gelassen. Schließlich ist er auch Kunstschmied. „Bergführer, das mache ich nicht, bis ich 70 bin. Ich bin auch Handwerker. Heute kann man nicht mehr so eingleisig und engstirnig planen wie früher.“ Recht hat er. Wir stapfen weiter über den Ferner zum Brandenburger Haus.

Die Bedingungen waren super

Der Morgen danach: Zwei Stirnlampen, ein Gletscher, als dunkle Schatten rundum hohe Berge. Zwei Menschen. Sonst niemand. Auf diesem Gletscher sind sie um diese Uhrzeit ganz allein. Hier ziehen keine Schäfer umher, keine Jäger steigen so hoch hinauf. Von keiner anderen Hütte kommen Bergsteiger so früh auf diesen Gletscher. Zwei Menschen, niemand sonst.

Die Schneekristalle glitzern im kalten Mondlicht. Unmerklich wird der Himmel heller. Die Zackenkulisse der Berge tritt schärfer hervor. Nun färbt sich der Himmel kaltblau. „Diese Berge, schau nur!“ – „Ja“, sagt der Bergführer nur. Er ist für die Emotionen des Gastes nicht zuständig. Er ist hier an seinem Arbeitsplatz.

Viele Stunden später, zurück auf einer tiefer gelegenen Hütte, wird der Bergführer auf die Frage eines Kollegen sagen: Die Bedingungen waren super. Man sei zügig vorangekommen und im Schnee nicht eingebrochen. Wer jeden Tag draußen lebt, in der Natur und von der Natur, begegnet dieser unsentimental.

Nach einer guten Stunde, am Ende des flachen Gletschers müssen wir über eine Felswand etwa 250 Höhenmeter hinabklettern. Anspruchsvoll, mühsam. Nebenan droht ein gewaltiger Eisbruch. Von oben her schiebt der Gletscher das Eis, hier bricht es ab. Dunkelgrau, schrundig, rissig. „Früher ging hier ein Steig entlang“, erklärt Karl. „Damals konnte man von dort oben fast eben zum Einstieg zur Weißkugel.“ Aber da der Gletscher so weit zurückgegangen sei, müsse man nun hinabklettern und dann wieder aufsteigen.

"Ein Meisterwerk der schaffenden Naturkräfte"

Wir balancieren zehn Meter über eine leicht abschüssige spiegelglatte Eisfläche, ohne Steigeisen. Halt geben allein die eingefrorenen Steinchen, wir gehen wie auf rohen Eiern. Der Bergführer stapft voraus und fragt nach ein paar Minuten: „Bist du noch da?“ Man traut sich kaum zu atmen. Endlich, auch diese Stelle ist geschafft. Nun zeigt sich die Weißkugel in all ihrer Pracht.

„Ein Meisterwerk der schaffenden Naturkräfte“, schwärmte der Alpinist Heinrich Hess in den „Mittheilungen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins“. Hess hatte akribisch aufgeschrieben, wie Mitte des 19. Jahrhunderts die Berge in den Ötztalern nach und nach erstiegen wurden. 1861 war die Weißkugel fällig. Als Erster erreichte sie der in Wien lebende Allgäuer Joseph Anton Specht.

Vorherige Versuche waren misslungen. Sogar das k.u.k. Militär, das den Berg mit einem Vermessungspunkt markieren wollte, musste 1854 aufgeben. Auch nach elf Stunden war der Trupp nicht bis zum Gipfel vorangekommen. Specht gelang es sieben Jahre später, am 30. September 1861. Ein Eintrag dazu fand sich im Fremdenbuch von Vent. Der Wiener sei gemeinsam mit Nicodem und Leander Klotz von Rofen aus auf den Berg gestiegen.

Möglicherweise war er mit anderen Führern unterwegs. Doch das ist nicht gewiss, allerdings gilt die Besteigung als sicher. Allein: Specht unterschied sich in einem Punkt von den Alpinisten seiner Zeit – und der Gegenwart: Er führte nicht Buch, er schrieb nicht über seine Besteigungen, er veröffentlichte nichts dazu. Er stieg auf Gipfel, oft als Erster. Das war ihm genug.

So ist das mit den Flachlandtirolern

Almenland. Wer hier angekommen ist, hat die Gletscherstrapazen schon vergessen.
Almenland. Wer hier angekommen ist, hat die Gletscherstrapazen schon vergessen.

© imago

Hess, der Autor der Ostalpen-Geschichte, versuchte es auf dem direkten Weg bei seinem Zeitgenossen. Er wollte ein Gespräch. Jedoch: „Eine Anfrage an den in Wien lebenden Touristen blieb ohne Antwort.“ Tourist war damals noch kein Schmähwort. Erst vier Jahre später wurde die Weißkugel wieder bestiegen, 1864 standen die Briten Freshfield, Fox und Tuckett mit ihrem französischen Führer Devouassoud oben. Tuckett befand, die Aussicht sei „vielleicht die hübscheste und erhabenste in ganz Tirol“. Schau’n wir mal.

Nun wird es steiler. Immer schwerer atmend. Einer Berlinerin macht ab 3000 Meter die Höhenluft zu schaffen. Weiter bis zum Weißkugel-Joch. Noch 450 Höhenmeter, bis hier waren es von der Eisfläche 400 Höhenmeter. Der Bergführer sagt: „Jetzt gehen wir mal bis zu den Felsen da oben, dann sehen wir ja.“

Er schlägt mit den Schuhen Tritte in die gefühlte Senkrechte aus Schnee, ich am kurzen Seil hinterher. Ein Stock in der einen Hand, mit der anderen in den Schnee greifen. So steil schaffen wir relativ schnell viele Höhenmeter. Schweres, tiefes Atmen. Rhythmisch immerhin. Nun sind es nur noch 150 Höhenmeter. Die ganze steile Nord-Ostflanke wieder hinunter, oder doch weiter? Das ist nun keine Frage mehr. Der Bergführer sagt: „Ja ja, so ist das mit den Flachlandtirolern.“ Alter Charmeur! Und: „Siegstes scho, das Gipfelkreuz? Jetzt noch mal eine halbe Stunde die Zähne zusammenbeißen.“ Daran soll es nicht liegen.

Von hier geht es nur noch hinunter

Oben ist es diesig, wolkig, kaum Fernsicht. Aber wer steigt schon auf Berge, um runterzuschauen? Oben sitzen drei Südtiroler. Sie sind von der italienischen Hütte Bellavista aufgestiegen, der kürzere, häufiger begangene Zustieg. Man muss nicht so früh aufstehen. Erlebt dafür aber auch keinen Vollmond-Glitzer auf dem Gletscher.

Was einen Gipfel vor allem auszeichnet: Von hier geht es nur noch hinunter. In diesem Fall sehr lange. Zuerst noch über einen Fels- und Schneegrat balancierend, dann auf den Hintereisferner. Auf diesem gehen wir bald zwei Stunden stetig abwärts. Kein Schnee, kein Glanz. Nur schrundige Gletscherhaut. In bläulicher Tiefe gurgelt Wasser. Karl geht nahe an den Rand der Spaltenfalte und sagt: „Das ist eine Gletschermühle. Da brauchst nicht runterzufallen. Da geht es hundert Meter bis auf den Grund, die Wände spiegelglatt.“ Muss man sich ja nicht aus der Nähe anschauen.

Kirche im Dorf. Vent fügt sich malerisch in die Ötztaler Landschaft.
Kirche im Dorf. Vent fügt sich malerisch in die Ötztaler Landschaft.

© imago

Wenn der Gletscher so schrumpft, findet man da manchmal was? Ja, sagt der Karl. „2013 sind zwei Kollegen hier runter, einer sagt, ‚schau mal, ein Bergschuh.‘ Der andere fragt spaßig zurück: ‚Ist der Fuß noch dran?‘ Der eine: ‚Ja, scho.‘ Dann kam die Gendarmerie, sie haben die Leiche aus dem Eis gepickelt, in der Tasche steckte noch der Reisepass. Es war ein Bergsteiger, der in den 1980er Jahren vermisst wurde. Und die hatten gedacht, jetzt haben sie die Frau vom Ötzi entdeckt. Der Ötzi wurde ja direkt hier oben gefunden, auf der italienischen Seite.“

Beim Hochjoch-Hospiz verabschiedet sich der Bergführer. Er darf jetzt in seinem Tempo heim zu Frau und Kind. Den restlichen Spaziergang von weiteren acht Kilometern kann ich alleine hinuntertrödeln. Angekommen, gibt’s die Belohnung. Ein Regenbogen spannt sich über Vent.

Tipps: Bergstiefel zum Ausleihen in Vent

Suppe macht stark.
Suppe macht stark.

© Barbara Schaefer

ANREISE

Mit dem Auto von Garmisch-Partenkirchen über Seefeld in Tirol, Richtung Bregenz, Abfahrt Ötztal bis nach Vent. Mit der Bahn über Innsbruck, Ötztal. Bus von Zwieselstein bis Vent.

TOUREN

Was für die Bergtour nötig ist, kann man sich in Vent, dem „Bergsteigerdorf Tirols“, auch leihen. Und dort einen Bergführer anheuern oder sich einer der Touren anschließen. Beispielsweise „Südtirol wir kommen …“ bis zum südlichen Rand der Ötztaler Alpen (sechs Tage mit Halbpension für 660 Euro). Auskunft: Bergführerstelle in Vent, Telefonnummer: 00 43 / 52 54 / 81 06, Internet: bergfuehrer-vent.at

HÜTTEN

Brandenburger Haus der DAV-Sektion Berlin, geöffnet vom 20. Juni bis 15. September; 75 Übernachtungsplätze, Reservierung ratsam. Telefon: 00 43 / 676 / 646 86 50.

Hochjoch-Hospiz, geöffnet vom 14. Juni bis etwa Ende September. Telefon: 00 43 / 720 / 92 03 11, Internet: hochjoch.at

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