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Auf weiter Flur. Wer pilgert, kommt zu sich. Reisen mit spirituellem Hintergrund haben in den vergangenen Jahren zugenommen, sagen Tourismusexperten – und planen neue Pfade.

© Uli Schulte Döinghaus

Pilgern in der Steiermark: Tiefschlaf unter karierten Wolldecken

Wer vom slowenischen Maribor ins steirische Mariazell pilgert, ist am Ziel müde, aber geläutert. Und er hat Gott und die Welt kennengelernt.

Das Kreuz ist mit weißen und roten Blüten geschmückt, und eine Wallfahrerin kann das mannshohe Holz nur mit Mühe durch den Eingang beim Stroßeggwirt zwängen. Schnell zieht sich die Gruppe, die sich unterwegs beim Kreuztragen abgelöst hat, in ihren Schlafsaal zurück, wahrscheinlich erschöpft, vielleicht auch in selbst auferlegter Ernsthaftigkeit. Andere Wanderer und Wallfahrer lassen sich an diesem Spätsommerabend von der routinierten Stimmungskanonade des Wirts befeuern, bevor sie oben im Zehnbettlager unter die karierten Wolldecken fallen. Der Tag war lang, der nächste wird auch entbehrungsreich sein.

Das Almgasthaus Stroßeggwirt, etwa 30 Kilometer nördlich von Graz gelegen, ist eine der Herbergen am „Mariazeller Fußwanderweg 06“, der in unterschiedlichen Varianten mal von Wien oder Salzburg, mal aus Kroatien und Slowenien über Graz nach Mariazell in der Steiermark führt. Österreichs bedeutendster Wallfahrtsort wird jährlich von einer Million Pilgern besucht. Die meisten kommen zu Fuß.

Jahrhundertelang war Mariazell auch das Ziel von Wallfahrern aus Mittel- und Südosteuropa. Allein, im Kalten Krieg überwucherten die Pilgerpfade. Jetzt wird an einem gemeinsamen Programm gefeilt: Pilgrimage Europe SI-AT. Dessen erklärtes Ziel ist die „Vernetzung bestehender und neuer Initiativen der Projektregion zu einer einzigen und einzigartigen, grenzüberschreitenden mitteleuropäischen Pilgerregion aus Gebieten Sloweniens und der Steiermark“, die aber auch mit Niederösterreich, Burgenland und Gebieten Ungarns verbunden ist. Hintergrund laut Projektbeschreibung: „Aus touristischer Sicht haben Pilger- und Wallfahrtstourismus bzw. Reisen mit spirituellem Hintergrund in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen.“

Wer sich von Maribor in Slowenien aufmacht, der pilgert meist auf geschotterten Feld- oder Forstwegen durch eine sanfthügelige, beweidete und bewaldete Kulturlandschaft. Orientierung gibt als Wanderzeichen ein weißer Fleck, der von einem roten Ring umgeben ist. Irgendwann soll das Logo durch ein M-Signet ersetzt werden, das die Route dann auch offiziell als „Marienpilgerweg“ ausweist, der nach Mariazell führt.

Ein Pfad durch Weinstöcke, hier wird ein geschätzter Cabernet Sauvignon angebaut, führt zu Marije Snežne (Maria Schnee) in Solcava. Der Pfarrer, ein vitaler 72-Jähriger, erzählt vom kirchlichen Leben in unchristlichen Zeiten und lädt zu einem Schluck Wein aus eigenem Anbau vor seinem schmucken Pfarrhaus, das der alte Herr allein bewohnt. Die Großzügigkeit, Geräumigkeit und Weitläufigkeit des Anwesens ist wie eine stete Erinnerung daran, dass das Zölibat unter anderem auch verschwenderisch sein kann.

Um heraus zu finden, ob Slowenien fromm oder gleichgültig oder gottlos ist, müssten wir eigentlich die Seelen der Einwohner sezieren. Doch dazu ist keine Zeit. Allerdings erzählen zahlreiche wohlrestaurierte, frischverputzte Heiligenhäuschen am Wegesrand von anhaltender Volksfrömmigkeit und ungebrochenem Kitschbewusstsein.

Bald geht es, rutschig und abschüssig, talabwärts zum Grenzfluss Mur, für den neulich der Katastrophenschutz zuständig war. Überschwemmungen, Unwetter, Flutschäden! Die Wucht des Wassers, das vor knapp eineinhalb Jahrhunderten in ein 70, 80 Meter breites Flussbecken kanalisiert wurde, hat in diesem Jahr zum vierten Mal eine der historischen Schiffsmühlen aus den Angeln gerissen, und wieder geht’s um die Frage, wer die Restaurierung der Touristenattraktion zu bezahlen hat. Achselzuckend quittiert der Wirt des Mühlenhofs, zu dem die kaputte Schiffsmühle gehört, die Meldung der örtlichen „Kleinen Zeitung“, dass öffentliche Mittel mal wieder nicht zu erwarten seien.

Wer sich kränklich fühlt, kann in St. Radegund gesunden

Meist mit Harmonika: der Stroßeggwirt.
Meist mit Harmonika: der Stroßeggwirt.

© Steiermark Tourismus

Der Lohn des Pilgerns ist das Schauen. Über den Grazer Ortsteil Mariatrost, der von den Türmen der gleichnamigen Barockkirche überragt ist, gleitet der Blick ins Tal und jenseits der Mur, wo sich mit dem Horizont die Höhenzüge der Südsteiermark verschmelzen. Aber der Blick ist nicht unverstellt; zwischen Maisplantagen, Obstgärten und Weinfeldern sind Landwirtschaftsbetriebe mit ausgedehnten Holzställen und Wirtschaftsbauten, an denen Silos kleben, die manchmal komplett von Wein bewachsen sind.

Unter dem Kreuzberg, unweit St. Radegund und 15 Kilometer nördlich von Graz, gibt’s beim „Stoffbauer“ nicht etwa was zu kiffen, sondern selbstverständlich zünftig Milchvieh und Erdäpfel. Doch nicht nur das, bei der Landfamilie kann man auch „Urlaub am Bauernhof“ – wie die Österreicher zu sagen pflegen – verbringen.

Wer sich kränklich fühlt, kann in St. Radegund auf zweierlei Weise gesunden. Zum einen befindet sich hier eine Privatklinik, in der gegen die Modemalaise „Burn-out“ antherapiert wird. Mit wirtschaftlichem Erfolg, wie es den Anschein hat: An den jenseitigen Berghang wird soeben ein ausladender, sechsstöckiger Neubau geklebt, aus dem eine eindrucksvolle Bausünde werden könnte. Die andere Möglichkeit, im Kurort St. Radegund zu gesunden, kann die Besteigung des Kalvarienberges sein, einer steilen und stufenbewehrten Nachbildung der Kreuzigungsszenen des Jesus Christus. Vor allzu knalliger Volksfrömmigkeit bewahrt ein Seitenblick auf das Kapellendach aus hölzernen Schindeln, die das Wetter in Jahrzehnten zu einer Art monochromer Farbenlehre bearbeitet hat, zu einem Grau in allen Schattierungen.

Oben auf dem Schöckl, der mit seinen 1445 Metern als Hausberg von Graz gilt, hallen die Glocken der braungefleckten Rinder wider, die unter dem Gipfelkreuz die Weiden kurz halten. Mit etwas Glück ist manchmal die Fuchsbartl-Banda vor der Ausflugsgaststätte zu hören, wenn sie zu einer Trachtenhochzeit so verlockend aufspielen, dass noch der unwilligste Bräutigam den filzgrünen Steirerhut ablegt, seiner Braut in die Hüften greift und die beiden sich drehen, dass es den Schöckl schwindelt.

Bisweilen bricht Sonnenlicht durch die Wolkengebirge, Tannenspitzen zeichnen sich dann wie Scherenschnitte gegen den dramatischen Abendhimmel ab. Dunst aus Wolken, die in die Bergtäler gesunken sind, hat sich über den Marienzeller Weg gelegt und lässt die Pilger wie Schemen im Nebel auf- und abtauchen.

Ein ums andere Mal müssen sie die Regenpellerine auspacken. Nasse Füße, die sich am harten Schuhleder reiben, können auch den ergebensten Wallfahrer zur Gotteslästerlichkeit treiben. Die Gästebücher, droben in den Hütten und Herbergen, geben davon manche Klageweisen wider. Gut, dass es in den Quartieren Hirschtalg und andere Hausmittel gibt, die den Schmerz abklingen und den Pilger zum Teufelstein aufsteigen lassen. Den haben wir dem schrecklichen Luzifer zu verdanken, der drei Steinbrocken dort auf dem Weg zur Hölle zurückließ. In der dazugehörigen, nahen Hütte kann der Pilger den Beelzebub mit diversen Obstbränden komplett austreiben.

„Wir setzten uns auf den weichen Rasen und blickten zurück in das weite Waldland, über die grünen Berge bis hin in die fernen blauen. Und zwischen den blauen heraus erkannte mein Vater jenen, auf welchem unser Haus steht.“ – So beschreibt der steiermärkische Schriftsteller Peter Rosegger (1843–1918) den Blick zurück auf seine „Waldheimat“, von der aus er sich mit dem Vater zum Wallfahren nach Mariazell aufmachte. Rosegger wurde in Alpl geboren, das wenige Pilgeretappen vom Wallfahrtsort Mariazell entfernt ist.

Bevor es die Wallfahrer ins Ziel schaffen, die „Gnadenstatue Magna Mater Austriae in der Basilika Mariä Geburt“, können (noch) ledige Pilgerinnen ihrer Biografie auf die Sprünge helfen. Wer am Ortseingang von Mariazell durch das „Luckerte Kreuz“ drei Mal oder neun Mal betend hindurchgeht, wird einen guten Mann bekommen. Heißt es.

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