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Wer wird sich da abwenden? Der Blick auf Eiger und Mönch vom Schilthorn aus zählt zu den schönsten Aussichten im Berner Oberland.

© Christian Beutler, pa/Keystone

Berner Oberland: Brettspiele im Salon

Zeit spielt keine große Rolle im Berner Oberland. Das ist eine gute Voraussetzung für Slow Tourism. In Wengen funktioniert er gut – ganz ohne Autos.

Die Trennung tut manchem weh. Denn das Auto darf nicht nach Wengen, das seit Jahrzehnten kaum veränderte Bergdorf unterhalb von Eiger, Mönch und Jungfrau. Entsprechend voll sind die Parkhäuser und -plätze drunten im Tal. Ohne Vorreservierung ist da in der Hauptsaison nichts zu machen. Den Weg zum Bahnhof Lauterbrunnen erleichtert dem Neuankömmling allerdings der – in nicht gerade kurzen Abständen verkehrende – Buslinienverkehr. Oder der Daumen.

Der Gast hat Glück. Gleich der erste Fahrer hält an, ein betagter Einheimischer in einem nicht gerade neuen Kleinwagen. Jetzt muss nur noch der alte blecherne Futtereimer auf den Beifahrersitz weichen. Über die Rücklehne kann er nicht nach hinten bugsiert werden, also ruht er auf dem Schoß des Gelegenheitstrampers und liefert die erste Einstimmung auf eine ziemlich entschleunigte Reise in eine andere Welt.

Der ebenso faltige wie freundliche Bergbauer verkürzt seinem Passagier die Fahrt mit einem detailreichen Wetterbericht und vielen guten Wünschen für eine schöne Skizeit oben in Wengen. So gastfreundlich können Schweizer tatsächlich immer noch sein ...

Die Fahrt mit der Zahnradbahn vom Tal ins 1274 Meter hoch gelegene Skidorf bietet weitere Anreisefreuden: einen spektakulären Wasserfall auf der anderen Talseite und – mit etwas Glück – ein standorttreues Rudel Gemsen kurz vor dem Tunnel auf halber Strecke. Oben wartet eine „Lady in Red“ auf den Gast, freudig strahlend vor ihrem kleinen Elektrowagen. Judith GrafEngi, Gastgeberin für die kommenden Tage, trägt ein rotes Dirndl ohne Jacke darüber – der Föhn lässt das auch mitten im tiefsten Winter nicht allzu verwegen erscheinen.

Wengen wäre ein unbekanntes Bergdorf geblieben

Frau GrafEngi wurde in Wengen geboren und ist nach biografischen Umwegen wieder zurückgekehrt. Mit ihrem Exmann Andi, einem ehemaligen Skilehrer, betreibt sie jetzt das ruhig gelegene Hotel Bellevue am Ortsrand. Das unprätentiöse Drei-Sterne-Haus mit Jungfrau-Blick lässt Erinnerungen aufkommen, wie Skiferien früher einmal ausgesehen haben: mit gemeinsamen handylosen Tischzeiten und ohne Fernsehgeräte in den Zimmern. Stattdessen gibt es Brettspiele im Aufenthaltsraum.

Judith GrafEngi empfängt ihre Gäste traditionell im roten Dirndl.
Judith GrafEngi empfängt ihre Gäste traditionell im roten Dirndl.

© Stefan Quante

Als Zugeständnis an die Moderne findet sich allerdings ein Whirlpool und, als Höhepunkt – die Schweiz ist schließlich Bahnland – für so manchen kleinen und großen Gast, eine mehr als 400 Meter lange, ganzjährig betriebene Modelleisenbahn im Garten hinter dem Haus. Achtung Deutsche Bahn: Selbst Neuschnee macht der urigen Mini-Bergbahn nichts aus – den bläst die Lok einfach weg.

Wengen wäre vielleicht ein unbekanntes Bergdorf geblieben, gäbe es hier nicht seit 1930 stets im Januar das legendäre Lauberhornrennen. Der Rekordsieger dort ist durch seine elf ersten Plätze in Abfahrt, Slalom und Kombination (zwischen 1939 und 1948) der Lokalmatador Karl Molitor. Nur der Ordnung halber: Bisher haben lediglich zwei Deutsche als Sieger des Abfahrtslaufs auf dem obersten Siegertreppchen gestanden: Willy Bogner (1960) und Markus Wasmeier (1987). Und die Slalomkrone landete drei Mal in der Familie Neureuther, Felix gewann im vergangenen Jahr, Vater Christian 1973 und 1974. Für viele auch unvergessen der Sieg von Slalom-As Ludwig „Luggi“ Leitner, der 1964 am Lauberhorn triumphierte.

Skischuhe aus Leder gibt es heute nicht mehr

Ein Muss. Ohne ein Foto auf dem Jungfraujoch geht es bei Touristen nicht.
Ein Muss. Ohne ein Foto auf dem Jungfraujoch geht es bei Touristen nicht.

© Stefan Quante

Wer die 213 Pistenkilometer des Skigebietes Jungfrau-Region heute selbst erkunden will, stößt fast überall auf den Namen des heute 93-jährigen Molitor. Etwa an dem von seinen Eltern 1912 gegründeten Sportgeschäft an der Dorfstraße. Bis vor wenigen Jahren hat er dort selbst noch die Kundschaft bedient. Heute gehört es seinen langjährigen Mitarbeitern Elisabeth und Beat von Allmen, letzterer selbst Spross einer Skifahrer-Dynastie. Der sympathische Lockenkopf holt sich in der Saison für den Skiverleih im Souterrain stets englischsprachige Verstärkung, denn noch etwas hat sich nicht geändert in Wengen: Die Briten sind hier die wichtigsten Kunden – und die treuesten.

Von Allmen erzählt: „Die Engländer haben das Skifahren hierhergebracht. Sie kommen seit hundert Jahren nach Wengen, sie werden noch in hundert Jahren kommen – und werden dann immer noch die gleichen Klamotten tragen.“ Für die oben im eleganten Geschäft verkaufte aktuelle Skimode ist diese Klientel also anscheinend verloren, aber zum Bretterleihen kommen sie allemal im Skikeller vorbei. Die Wagemutigsten unter ihnen entscheiden sich für die rennsporttauglichen Molitor-Ski, exklusiv für das Geschäft in Wengen gefertigt.

Bis 1977 hatte Familie Molitor in Wengen auch noch eine Manufaktur für Skischuhe aus Leder. 60 bis 70 Menschen fanden dort Arbeit – der mit Abstand größte Arbeitgeber des von rund 1200 Einwohnern bevölkerten Bergdorfes. Der letzte Schuhmacher dort war der Vater von Ercole Famiglietti – dem Chef der Skischule in der Dorfstraße. Er erinnert sich an eine glückliche Kindheit mit wenig Stress, viel Sport – Skifahren im Winter, Fußball im Sommer – und keinerlei Gefahren durch Autoverkehr.

Skischuhe aus Leder gibt es heute nicht mehr, doch gefahrlos über die Straßen schlendern kann der Mensch immer noch. Auch wenn leider seit ein paar Jahren eine kleine motorisierte Taxiflotte auf Wengens Straßen verkehren darf. Die etwas gereiftere Dorfjugend hat vielleicht bloß einen einzigen Grund, über Veränderungen zu klagen. Famiglietti: „Das Nachtleben von Wengen war früher spannender als heute. Wir sind inzwischen mehr ein Ferienort für Familien geworden.“

„Top of Europe“ lockt Asiaten magisch an

Und im Verbund kommen inzwischen auch zunehmend Gäste aus Japan, China und Indien. Ober-Skilehrer Famiglietti fasst seine Erfahrungen mit der neuen Kundschaft kernig zusammen: „Der Chinese ist sportlicher und ehrgeiziger als der Inder. Doch der Lernfortschritt geht dem ungeduldigen Chinesen oft nicht schnell genug.“ Eine Stunde beim privaten Skilehrer soll da manchmal genügen, um das Nötigste zu erlernen. Gut für Ercole Famiglietti, dass es noch den lernwilligen Engländer gibt.

Kleine Kinder und erwachsene Anfänger finden ihr erstes Übungsgelände mitten im Ort. Wenn sich dort morgens um 9 Uhr 30 die Skischulklassen treffen, sieht hier nichts mehr nach demografischem Wandel aus. Nicht nur fortgeschrittene Eltern zieht es dann meist in die direkt von der Dorfstraße startende Luftseilbahn, die die Skifahrer in sieben Minuten auf den 2343 Meter hohen Hausberg Männlichen katapultiert. Wer es nicht ganz so eilig hat, kann auch die Zahnradbahn vom Bahnhof am Beginn der Dorfstraße nehmen.

Wichtigster Haltepunkt ist die Kleine Scheidegg. Von dort aus ergeben sich die meisten Möglichkeiten – runter nach Grindelwald, hinauf zum Lauberhorn im Schatten des Eigers. Oder noch ein Stückchen höher – zum Jungfraujoch, das marketingmäßig nicht ungeschickt, stets in einem Atemzug „Top of Europe“ genannt wird. Zumindest für Eisenbahnfreunde stimmt das auch, denn die Bergstation auf 3454 Meter ist die mit Abstand höchstgelegene Eisenbahn des Kontinents.

An der Kleinen Scheidegg trennen sich die Wege von Skifahrern und Gipfeltouristen, von Okzident und Orient, denn es zieht vor allem Chinesen und Japaner nach ganz oben. Ihnen gilt eine Europareise nur etwas, wenn das Jungfraujoch abgehakt ist. Hoch oben auf dem Sattel zwischen Mönch und Jungfrau erwartet sie unter anderem ein Uhrengeschäft – natürlich das höchstgelegene Europas. Hinter den prall gefüllten Auslagen blickt man in ebenso freundliche wie exotische Gesichter: Beide Verkäufer sind Chinesen und sprechen Mandarin. „That’s kind of the basic language up here“, lässt uns der Polyglottere der beiden wissen.

Zurück vom Gipfel

Für Wagemutige. Der Molitor-Ski, exklusiv in Wengen zu haben.
Für Wagemutige. Der Molitor-Ski, exklusiv in Wengen zu haben.

© Stefan Quante

Aber die potenzielle Kundschaft hat keinen Blick übrig für bis zu 60 000 Euro teure Schweizer Präzisions-Chronometer. Es zieht sie ins frische Freie – minus 20 Grad bei denkbar blauem Himmel und steifer Bergbrise. Mit kindlicher Begeisterung füllen sich Speicherkarten mit allem, was sich zum Ablichten eignet. In Sachen Winterkleidung tut sich bei den Temperaturen eine erstaunliche Spanne auf. Zwischen der minimalen Beinkleidung in Form von Leggins über farbenfroheste Overalls bis hin zum weißen Riesendaunenmantel eines sicherlich würdigen älteren Herrn, dem der Dress aber eher ein yetihaftes Äußeres verleiht.

Die anderen Glanzpunkte auf dem „Top of Europe“ haben es gegen die spektakuläre Aussicht von der Sphinx-Terrasse auf den trotz Schwund immer noch mächtigen Aletschgletscher, auf die zum Greifen nahe Jungfrauspitze oder auf das tiefe Tal von Lauterbrunnen schwer. Die bizarren Eisskulpturen im Tunnel tief unter dem Gipfeleis, die zahlreichen Dokumente und Artefakte des Bahnbaus von vor mehr als 100 Jahren, die überdimensionale Schneekugel voller witziger Holzschnitzereien und selbst das ausgezeichnete Käsefondue und die ambitionierte Weinkarte im Restaurant Crystal locken die Massen eher bei schlechterem Wetter an.

Zurück vom Gipfel kurz vor dem Umsteigen bei der Kleinen Scheidegg sind die meisten Besucher aus Fernost in tiefen Schlaf gefallen – sei es weil sie die Höhenluft schlecht vertragen oder wegen des tief sitzenden Jetlags. Sie könnten sich gleich gegenüber dem Bahnhof bestens erholen in einem der wenigen noch existierenden Grand Hotels des 19. Jahrhunderts – dem Bellevue des Alpes. Mit viel Liebe zum Detail restauriert zeugen hier historische Fotografien vom touristischen Glamour der 20er Jahre, als Pelzmantel bei den Damen sowie Zylinder und Krawatte bei den Herren noch zur Standardausstattung gehörten. In der jüngsten Verfilmung des Dramas der Eigernordwand im Jahr 1936, als unweit von hier vier Bergsteiger den Tod fanden, dient der äußerlich kaum veränderte Prachtbau als authentische Kulisse. Wer allerdings draußen bei schönem Wetter auf der Terrasse einkehren möchte, sollte besser reservieren. Die wenigen Plätze sind sehr begehrt.

Vieles ist hier anders

Von der Kleinen Scheidegg aus bietet sich für jedes skifahrerische Niveau die richtige Piste an – die sanfte blaue Abfahrt Richtung Grindelwald zum Arven-Lift, die gut präparierten roten Skiautobahnen Richtung Wengeralp oder Tschuggen oder nach kurzer Lift- oder Bahnfahrt die schwarzen Pisten vom Eigergletscher oder die berühmt-berüchtigte Lauberhornabfahrt hinab, wo es die Profis während des Abfahrtrennens auf bis zu 160 Stundenkilometer bringen.

Am Ende eines mehr oder weniger langen Skitages führt eine der schönsten Abfahrten, teils entlang der Bahnstrecke, hinunter nach Wengen. Vorbei an dem unvergleichlichen Panorama von Eiger, Mönch und Jungfrau samt Silberhorn. Das Skigebiet von Mürren mit dem James-Bond-Fans bekannten Drehrestaurant Piz Gloria gegenüber. Dicht an Scheunen vorbei, in denen das Vieh auf den kommenden Frühling wartet. So klingt der Tag herrlich entspannt aus.

Wer mag, kehrt noch kurz auf einen wärmenden Trunk im Glanz der letzten Sonnenstrahlen in eine der schönen Hütten entlang der Piste ein, etwa gleich im Bergrestaurant Allmend, das eine atemberaubende Aussicht auf Wengen beschert. Ein Unterschied zu den vielen lärmenden Après-Ski-Stationen der Alpenwelt fällt hier in der Region sofort auf: Wenn überhaupt Musik läuft, wie etwa in der offenen Schneebar vor dem Hotel Brunner, dann wird sie eher leise als laut gedreht.

Ja, vieles ist hier anders. Und deshalb lacht auch immer noch das halbe Dorf über jenes aufgebrezelte Paar aus den Emiraten, das darauf bestand, mit der Luxuslimousine im autofreien Wengen vorfahren zu können. Zwei Tage hatte ihr Trennungsschmerz gedauert, dann waren auch diese beiden dem Charme der Jungfrau erlegen.

Stefan Quante

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