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Das Kai in der Altstadt von Zürich.

© dpa

Zürich: Blankes Licht der Föhnbläue

Max Frisch war Züricher. Er mochte Tapas in der Bodega, las im "Odeon", eilte ins Schauspielhaus. Ortsbegehung mit Ex-Ehefrau Marianne Frisch.

Nein, Zürcher Geschnetzeltes gibt es hier nicht. Und auch keine Rösti. Stattdessen werden in der Münstergasse 15 spanische Tapas serviert. Höchst authentisch, übrigens. Stockfischkroketten, Fleischbällchen in scharfer Sauce, marinierte Champignons und Tortilla – wie es sich für eine Bodega Española gehört. Die Taverne mit ihren niedrigen Decken, den Holztischen, den großen Paellapfannen und den galicischen Kellern könnte ebenso gut in Madrid oder Santiago de Compostela stehen. Doch sie liegt mitten in der Altstadt von Zürich, nicht weit vom Münster entfernt. Herrlich kann man hier einen ganzen Abend verplaudern – wie es auch Max Frisch häufig tat. „Die Bodega Española gehörte zu seinen Lieblingskneipen“, erzählt Marianne Frisch, die elf Jahre mit dem Schriftsteller verheiratet und hier selber oft genug zu Gast war. „Das Schöne ist, dass sich hier seit damals nichts verändert hat, weil der frühere Besitzer es in seinem Testament so verfügte“, sagt die in Berlin und Zürich lebende Übersetzerin. Anders als etwa das Café „Odeon“, das der Autor des „Homo Faber“ wie andere Intellektuelle zum Schreiben, Denken und Entspannen frequentierte. Heute zieht das Café eine ganz andere Szene an: junge Schweizer und viele Touristen, die eifrig ihre Handys nutzen. „Früher war das ein typisches Wiener Kaffeehaus mit Marmortischchen, wo man den ganzen Tag über Zeitung lesen konnte. Aber heute sieht es ganz anders aus“, seufzt Marianne Frisch. „Da würde Max wohl nicht mehr hingehen.“ Wir wandeln auf den Spuren des Dichters in Zürich. Falls es in diesen Zeiten überhaupt noch Spuren von ihm gibt – außer dem Max-Frisch-Archiv, das in der Eidgenössischen Technischen Hochschule, wo er einst Architektur studierte, seinen Nachlass verwaltet. „Obwohl die vielen großen Toten ja wirklich tot sind, glänzt ihre Aura weiterhin in der Stadt. Ohne sie wäre Zürich weniger lebbar, ärmer, öder“, behauptet der Schriftsteller Urs Widmer in „Mein Zürich“. Vielleicht wäre die Stadt ohne die illustren Persönlichkeiten, die hier weilten, von Gottfried Keller über Büchner, Lenin, Thomas Mann und James Joyce bis eben Max Frisch, tatsächlich eine langweilige Banken- und Lifestylemetropole. Nur: Wo genau glänzt die Aura der großen Toten? Und im Speziellen die von Max Frisch? In der Heliosstraße 31, wo er 1911 geboren wurde? In der Zollikerstraße 265, wo er eine Zeit lang wohnte? Oder in der Stadelhoferstraße 28, wo er die letzten Lebensjahre bis zu seinem Tod im Mai 1991 verbrachte? Der Führer „Literarisches Zürich“ hat alle einschlägigen Orte versammelt. Doch die Fassaden der früheren Wohnhäuser sind stumm. Marianne Frisch hilft uns ein wenig auf die Sprünge. Mit dem Hinweis auf die spanische Bodega. Oder auf die Kronenhalle, wo Frisch immer wieder einkehrte. Zwar steht das altehrwürdige Restaurant von 1862 mit den holzvertäfelten Wänden, an denen echte Picassos, Braques, Chagalls und das Porträt der Madame Zumsteg von Varlin hängen und üppige Blumenbouquets das Interieur schmücken, in jedem Reiseführer. Mittags essen hier Geschäftsleute, abends gesellen sich zahlungskräftige Touristen zu den einheimischen Gästen. Trotzdem hat es sich etwas von seiner einzigartigen Atmosphäre bewahrt – und die Qualität seiner Küche. Während wir unsere Leberknödelsuppe löffeln, können wir uns gut vorstellen, wie Max Frisch hier herkam, um sich mit Freunden auszutauschen oder Premieren seiner Theaterstücke im nahe gelegenen Schauspielhaus zu feiern. Zum Beispiel von „Andorra“, das im November 1961 seine Uraufführung erlebte. Besonders denkwürdig war ein Abend im Jahr 1978, als er hier auf seinen Freund und Kollegen Friedrich Dürrenmatt traf und ihm ein druckfrisches Exemplar von dessen „Lesebuch“ überreicht wurde. Nachdem Frisch die Widmung des Autors „An meinen alten Kumpan Max“ gelesen hatte, war er verstimmt und verließ still die Gesellschaft. „Umso auffälliger, wie er gegen Mitternacht zurückkam, schwankend und laut“, berichtet Heinz Ludwig Arnold in einem Nachtrag zu einem Vortrag über die beiden Schriftsteller. „Er knallte FD das gewidmete Buch auf den Tisch: Diese Widmung sei eine Zumutung und Unverschämtheit, er, Frisch, habe eben mit seinem Anwalt telefoniert, das Wort ’Kumpan’ sei ein Schimpfwort für Verbrecher (…). Und trat ab.“ Schräg gegenüber von der Kronenhalle befindet sich das „Café de la Terrasse“ am Limmatquai, wo Frisch sich vor mehr als einem halben Jahrhundert Notizen für sein „Tagebuch 1946–1949“ machte. Abends ist es hier häufig laut und verraucht. Aber tagsüber kann man in dem eleganten hallenartigen Raum mit seinen Säulen und Skulpturen noch immer wunderbar Kaffee trinken, lesen, plaudern – und nachvollziehen, was Frisch einst unter dem Eintrag „Café de la Terrasse“ vermerkte: „Ringsum die brandende Stadt, arbeitsam und rege, das Hupen der Wagen, das hohle Dröhnen von den Brücken – und hier diese grünende Insel der Stille, der Muße. (…) Es ist Samstag. Es ist elf Uhr, die Stunde, wie ich sie liebe: alles in uns ist noch wach, heiter ohne Überschwang, fast munter wie das rieselnde Baumlicht über den marmornen Tischlein, nüchtern, ohne die Hast einer wachsenden Verzweiflung, ohne die abendlichen Schatten der Melancholie ...“ Natürlich hielt sich der Dichter in Zürich nicht nur in Lokalen auf. Einer der wichtigsten Orte soll für ihn das Schauspielhaus gewesen sein, dessen Hausautor er lange Zeit war. „Das war seine Welt“, meint Marianne Frisch. „Da ging er als Erstes hin, als wir in Rom lebten und zu Besuch nach Zürich kamen.“ Immer wieder habe er mit den Schauspielern, Regisseuren und Intendanten wie Kurt Hirschfeld gesprochen, mit ihnen über das Theater und ihre Arbeit diskutiert. Hatte Frisch Besuch, so führte er ihn aber wenn irgend möglich auch zum Lindenhof, der sich im gleichnamigen Quartier über das Stadtzentrum erhebt. Von der Bahnhofsstraße laufen wir durch schmale Gassen mit schönen Einrichtungs- und Modeläden den Berg hinauf. Oben auf dem Aussichtsplateau angekommen, empfängt uns eine Oase der Ruhe. Kinder spielen, Großeltern sitzen auf Bänken, japanische Touristen fotografieren. Tatsächlich: Der Anblick ist fantastisch. Unten fließt die Limmat, gegenüber reihen sich adrette Häuserfassaden aneinander, zur Rechten das Großmünster, dahinter die Berge. „Zürich könnte ein reizendes Städtchen sein“, hatte Frisch seine Romanfigur Stiller notieren lassen. „Es liegt am unteren Ende eines lieblichen Sees, dessen hügelige Ufer nicht von Fabriken, jedoch von Villen verschandelt sind (…). In dem blanken Licht seiner Föhnbläue, die, vom Weiß der Möwen verziert, auch dem Einheimischen viel Kopfweh verursachen soll, hat dieses Zürich tatsächlich einen eigenen Zauber, ein ’cachet’, das mehr in der Luft zu suchen ist als anderswo, einen Glanz einfach in der Atmosphäre, der in seltsamem Widerspruch steht zum Griesgram wenigstens der einheimischen Physiognomien ...“ Doch, doch, er muss sie schon gemocht haben, seine Vaterstadt, in die er nach langen Auslandsaufenthalten immer wieder zurückkehrte. Wenn sich auch immer wieder Seitenhiebe über seine Landsleute in die Beschreibungen mischen. Was hatte er persönlich für ein Verhältnis zu der Stadt? „Auf jeden Fall ein liebendes“, ist Marianne Frisch überzeugt. „Er mochte die Urbanität, die Limmat, den See, die Berge und vor allem die blauen Straßenbahnen. Deshalb war Blau auch seine Lieblingsfarbe, mit der er seine Bücher einbinden ließ.“ Auf einer anderen Seite stand die Kritik an den Banken – schon früher forderte er die Aufhebung des Bankgeheimnisses –, an der Politik oder der Gesinnung vieler Schweizer. „Wage ich es dennoch, mein naives Bedürfnis nach Heimat zu verbinden mit meiner Staatsbürgerschaft, nämlich zu sagen ICH BIN SCHWEIZER, (...) so kann ich mich allerdings, wenn ich HEIMAT sage, nicht mehr begnügen mit Pfannenstiel und Greifensee und Lindenhof und Mundart, nicht einmal mit Gottfried Keller; dann gehört zu meiner Heimat auch die Schande, zum Beispiel die schweizerische Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg und anderes, was zu unsrer Zeit geschieht oder nicht geschieht“, bekannte er 1974 anlässlich der Verleihung des Schillerpreises. Wegen solcher Äußerungen wurde er als Nestbeschmutzer beschimpft und sogar vom Staatsschutz überwacht. Inzwischen scheinen sich die Zürcher mit dem kritischen Geist, dessen 100. Geburtstag im kommenden Jahr gefeiert wird, mehr oder weniger ausgesöhnt zu haben. Seit 1998 wird ihm zu Ehren der Max-Frisch-Literaturpreis verliehen. Am Bahnhof Oerlikon wird ein Platz nach ihm benannt, außerdem plätschert seit einigen Jahren der MaxFrisch-Brunnen am Rosenhof. „HIER RUHT 1967 NIEMAND / kein großer zeitGENOSSE patriot (…) hier ruht kein kalter krieger / dieser stein der stumm ist, / wurde errichtet zur zeit des / krieges in VIETNAM/1967“, lauten die Zitate des Schriftstellers, die hier in Stein gemeißelt wurden. Es macht einige Mühe, sie zu entziffern. Doch tut es gut, in dem liebenswerten Innenhof, der sich zwischen der quirligen Ladenzeile am Limmatquai und Lokalen wie der Spaghetti Factory verbirgt, ein wenig innezuhalten, bevor man sich auf den Weg zur letzten Max-Frisch-Station macht. Am Letzigraben nordwestlich des Stadtzentrums wartet das beeindruckendste Denkmal. Der Dichter hat es sich, ganz ohne Absicht, selber gesetzt: das Freibad, das er als junger, durchaus erfolgreicher Architekt baute. 1949 in einem Arbeiterviertel eröffnet – zuvor hatte er noch Bertolt Brecht über die Baustelle geführt –, fügt es sich mit seinem 50-Meter-Becken, großem Naturschwimmbecken, Wellenbad und Strömungskanal wunderbar in die von Gustav Amman gestaltete Landschaft ein. „Heute, Samstag, achtzehnter Juni, ist die Anlage eröffnet worden. Sonniges Wetter und viel Volk. Sie schwimmen, springen von den Türmen. Die Rasen sind voll von Menschen, halb nackt und halb bunt, und es ist etwas wie ein wirkliches Fest“, heißt es im „Tagebuch 1946–1949“. Noch heute rücken im Sommer Scharen von Erholungsuchenden mit Kind, Kegel und Kühlboxen an, um es sich auf den Liegewiesen bequem zu machen, im kühlen Nass zu plantschen und an den Grillplätzen ihre Würstchen zu brutzeln. Frisch hätte wahrscheinlich seine Freude daran, zu sehen, dass das Volksbad für viele eine Art Urlaubsersatz ist. Ab Mitte Mai hat es im kommenden Jahr wieder geöffnet.

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