zum Hauptinhalt
Goldbrunnen. An die Wasser speienden Designerstücke auf dem Platz der Republik haben sich die Pilsener inzwischen gewöhnt.

© Schiller

Kulturhauptstadt 2015: Mal ein Fass aufmachen

Pilsen wird 2015 Kulturhauptstadt. Dabei bietet es schon heute viel mehr als nur Bier.

Vaclav Slauf ist Mälzermeister in der möglicherweise berühmtesten Brauerei der Welt. Im tschechischen Pilsen. Jeden Tag zieht er Proben aus dickbauchigen Fässern. Anders als ein Weintester spuckt er jedoch keinen Tropfen aus. Und wenn er privat auf Reisen ist, kostet er überall das lokale Bier; ein besseres als das von zu Hause habe er noch nirgendwo gefunden. Sagt er. Wie er stehen auch andere Menschen für eine Stadt, die mit ihren 170 000 Einwohnern nur die viertgrößte in Tschechien ist, die jedoch schon jetzt – lange vor der Krönung zu europäischen Kulturhauptstadt 2015 – mehr zu bieten hat als den Patennamen für eine Biersorte.

Petr Forman, einer von vier kreativen Söhnen des amerikanischen Filmregisseurs Milos Forman („Einer flog über das Kuckucksnest“ und andere), ist in Prag geboren, hat jedoch seine Kindheit in Pilsen verbracht. Er zeichnet für das Programm der Kulturhauptstadt 2015 verantwortlich. Ein Programm, das überraschender und bunter zu werden verspricht als das so mancher Vorläuferstädte.

Marketa Formanova lässt als Direktorin eines spannenden Marionettenmuseums professionell die Puppen tanzen. Interaktiv geht es in ihrem Haus zu, mit modernster Computertechnik. Aber nach wie vor sind ihr und dem Publikum Klassiker wie der listige Soldat Schwejk und das Vater-Sohn-Duo Spejbl und Hurvinek die liebsten Figuren. Auch deswegen zieht die blonde Historikern schon jetzt die Strippen für das Großereignis 2015, an dem sie beteiligt sein wird.

Perlova, Praszka, Drevena: In diesen Gassen könnte man einen Film drehen

Vaclav Vrbik ist Student, einer von mehr als 25 000 in der westböhmischen Metropole, die endlich aus dem Schatten Prags treten will. Mit deutsch-böhmischen Projekten, die er betreut, und mit Führungen durch seine Heimatstadt beweist er kenntnisreich und fröhlich, dass die Zeit dafür reif ist.

Eva Stixova leitet die jüdische Gemeinde, die nur noch knapp 120 Mitglieder zählt. Die Große Synagoge, einst für einige tausend Gläubige erbaut, ist eine der herausragenden Sehenswürdigkeiten der Stadt. Eine Thora gibt es dort nicht mehr, auch keinen eigenen Kantor. Viele Jahre hat das Häuflein der Übriggebliebenen und Zurückgekehrten die hohen Feiertage in einem Hotel zelebriert. Jetzt aber freut man sich über ein restauriertes Bethaus in einem stillen Hinterhof, weit älter als die viel fotografierte Synagoge, die vom Verkehr einer Hauptstraße umtost ist und unter anderem als Konzertsaal dient.

Menschen, die sowohl die wechselvolle, oft tragische Geschichte als auch den Blick nach vorn spiegeln. Menschen, die eine hierzulande kaum bekannte Mischung aus altem Europa und jungem Aufbruch, aus Kultur, Spaß und Genuss repräsentieren.

Perlova, Praszka, Drevena, schmale Straßen, die zum Marktplatz und zur Kathedrale mit dem höchsten Kirchturm Tschechiens führen. Einen Film könnte man in diesen Gassen drehen. Einen, der an die Zeit erinnert, als Böhmen noch bei Österreich war. Hier eine Galerie, in der Kunst auf Krempel trifft, dort Hinterhofidylle mit einem Antiquariat, zu dem ein üppig wuchernder Blumenladen namens „Blütenrausch“ gehört. Hier ein winziges Café, das – ebenfalls auf Deutsch – „frischen Apfelstrudel“ anpreist, dort ein traditionelles Restaurant, eines von vielen, wo es Speckknödel mit geröstetem Schweinebauch gibt, Schwarzbier und Sauerkraut nach Babickas Rezepten.

Einmal rund ums Pilsener Zentrum

Marketa Formanova, Direktorin eines Marionettenmuseums, lässt die Puppen tanzen.
Marketa Formanova, Direktorin eines Marionettenmuseums, lässt die Puppen tanzen.

© Berd Schiller

Kontraste in direkter Nachbarschaft: eine Vinothek im lila Design, die guten Wein aus Südmähren ausschenkt, ein junges Lokal mit Bio-Burgern im Angebot, ein Pub mit einem Dutzend verschiedener Biere aus Irland, ein modernes Kaffeehaus mit eigener Rösterei. Pilsen lebt gut vom Gestern und, vor allem die Jugend, optimistisch im Hier und Jetzt.

Auf dem heute so benannten „Platz der Republik“ – Markt und Treffpunkt seit altersher, von Bürgerhäusern mit bunten Giebeln gesäumt – schlägt das Herz der Stadt. Es soll einer der größten Plätze Europas sein (139 mal 193 Meter). Doch weil aus seiner Mitte die Kathedrale St. Bartholomäus ragt und an der Seite eine Pestsäule, gekrönt von einer Kopie der Madonna aus dieser Bischofskirche, wirken seine Maße menschlich.

Einmal rund ums Pilsener Zentrum: das Rathaus im Norden, ein Schmuckstück der Renaissance, links daneben das Kaiserhaus, 1599 Zufluchtsort für Rudolf II., im Westen das Haus zum Roten Herzen, in dem vor 130 Jahren der böhmische Statthalter, Erzherzog Ferdinand, erstmals seine große Liebe Philippine traf, deretwegen er auf den Thron in Wien verzichtete. Nebenan die rosafarbene Bischofsresidenz, ein Barockjuwel ... jedes Haus erzählt hier Geschichte.

Und dann dies: drei goldene Brunnen, hochmodern, 2011 vom Designer Ondrej Císler installiert ... Einen Aufschrei habe es seinerzeit gegeben, erzählt Vaclav Vrbik, der Student, mit dem wir durch die Stadt schlendern. Er kennt seine Pilsener gut. Konservativ seien sie, sogar misstrauisch, wenn etwas Ungewohntes auf die Beine gestellt werde. Aber als die ersten Gäste die Brunnen bewunderten, sie im Internet sogar zu neuen Wahrzeichen erklärten, änderte sich die Meinung. Inzwischen, sagt Vaclav, weisen die Pilsener ihre Gäste durchaus stolz auf die neuen Wasserspender hin, die dem Platz eine neue Dimension von Charme eröffnen.

Öffnet euch, macht euch locker!

„Open up“ heißt denn auch das Motto für das kommende Jahr: Öffnet euch, macht euch locker! Mentale Mauern sollen überwunden, Träume und Fantasien ausgelebt, ein Fass der Lebensfreude aufgemacht werden. Viel Zirkus wird dazu gehören, viel Theater, viel Kunst im öffentlichen Raum, reichlich Humor. Aber auch Hochkultur in klassischen Konzertsälen und Theatern. Themen wie Architektur (Stichwort Adolf Loos) und Industrie (Stichwort Skoda) sollen die 600 000 Besucher aus aller Welt ansprechen, die im kommenden Jahr erwartet werden.

Schon jetzt bieten sich unterschiedliche Perspektiven an. Zum Beispiel Pilsen von oben, von der Aussichtsplattform der Kathedrale (301 Stufen) auf die roten Dächer der Puppenstuben-Altstadt, ein paar wuchtige Gebäude wie das Hotel Slovan, in dem schon Kaiser Franz Joseph logierte, das Westböhmische Museum, das Große Theater gegenüber der Synagoge. Oder Pilsen von unten: durch ein Kellerlabyrinth streifen, dunkles Mittelalter schnuppern, nach 45 Minuten an einer Urquell- Theke mit einem frischen Pils das Tageslicht begrüßen.

Natürlich wird 2015 auch die Kult-Brauerei zu den Attraktionen gehören; sie bleibt ein Symbol für Pilsen, obwohl sie längst einem südafrikanischen Konzern gehört. Die Besichtigung ist eindrucksvoll. Busse fahren mit den Besuchern über ein 50-Hektar-Gelände, riesige Tanks können aus keimfreier Distanz bestaunt werden. Nur Vaclav Slauf, seit 40 Jahren dabei, arbeitet noch an traditionellen Holzfässern, wie Vater und Großvater.

Slauf freut sich auf das Großereignis im kommenden Jahr. So stolz er auf „sein“ Bier ist, so sehr hat es ihn in der Welt oft gewurmt, dass alle das Produkt kannten, kaum jemand hingegen die Stadt. Dabei sei doch Pilsen, so sagen es augenzwinkernd auch die Herren Forman und Vrbik, so gut wie Prag eine Goldene Stadt – so goldglitzernd wie das Bier, das den Namen ihrer Stadt in die Welt getragen hat. Denn ganz ohne Ur-Pilsner, da sind sich die Macher der Kulturkapitale und ihre Bürger einig, geht es nicht: Open up!

Bernd Schiller

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false