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Verweile doch, es ist so schön! Ob jenen Radlern im Brandenburgischen jemand dieses abgewandelte Faust-Zitat zugerufen hat?

© Schwarz, TMB

Havelradweg: Mitten durchs Stillleben

Auf dem abwechslungsreichen Havelradweg muss niemand befürchten, in einer Karawane unterwegs zu sein.

Wir stehen am vernagelten Bahnhofsgebäude von Klockow, umgeben von dichtem Wald, mitten im Nationalpark Müritz. Die Station bot sich scheinbar als Startpunkt an, weil sie der Havelquelle am nächsten liegt und man sich dieser von hier ganz unaufgeregt nähern kann – ohne die Radlerpulks, die vielfach an deutschen Flüssen entlangrollen. Ein bisschen Eigensinn also, bevor wir nur noch tagelang den Markierungen des Havelradwegs folgen.

Tatsächlich finden wir einen hübschen, gut befahrbaren Waldweg, vorbei am idyllisch gelegenen Ulrichshof, einer Enklave im Niemandsland. Unvermittelt taucht dann ein großer, frisch geschotterter Platz mit einer vier Meter hohen Stele auf. Obwohl es eine eigentliche Quelle nicht gibt, wurde hier vor wenigen Jahren eine flache Schale installiert, aus der tatsächlich Wasser strudelt. Offenbar hat jemand einen der nahen Seen unterirdisch angezapft. Von Natur aus flösse hier jedenfalls nichts, zumindest nicht so viel.

Eingriffe ins Wasserregime der Havel sind aber nicht neu. Um eine Mühle betreiben zu können, hatten die Mönche eines nahe liegenden Klosters schon im 14. Jahrhundert einen Damm aufgeschüttet und den Ausfluss des wichtigsten Quellsees nach Osten verlegt. Seitdem fließt das Wasser, das eigentlich der Havel gehört, nicht mehr den großen Umweg über die Elbe in die Nordsee, sondern direkt gen Norden, in Richtung Ostsee.

Eine Attrappe also, die vor uns liegende Havelquelle. „Die Menschen verdienen es aber nicht anders“, wird uns der Ranger im Nationalparkzentrum Kratzeburg später erklären. Radler und Ausflügler hätten sich immer wieder beschwert, dass im Quellgebiet nichts zu sehen sei. So hat die moderne Erlebnisgesellschaft bekommen, was sie verdient: Einen hübschen Platz für einen Fototermin, aber nichts Echtes, Authentisches. Kein Zweifel besteht indes, dass hier der 374 Kilometer lange Havelradweg beginnt. Er gehört zu den jüngsten der großen Flussradwege der Republik. Erst vor vier Jahren durchgehend markiert, folgt er dem weiten Halbkreis, den die Havel von der Müritz bis zur Mündung bei Havelberg macht.

Unweit der Quelle rollt man in eine offene Kulturlandschaft mit Wiesen, Äckern und Gehöften hinaus. Ein Graureiher stakst durch die Feuchtwiesen, oben schwebt ein Fischadler. Der einzige Mensch, der uns in der nächsten Stunde begegnet, ist ein Radler, der nach Kopenhagen unterwegs ist. Die Befürchtung, in der Karawane zu radeln, war also völlig unbegründet. Nur selten passiert man nun ein Einzelhaus oder ein Gehöft.

Auch der Radweg selbst ist nicht besonders aufregend. Kilometerlang geht es auf kaum befahrenen Sträßchen fern der Havel dahin. Mal rollen wir auf Verbundsteinpflaster, mal auf zweispurigen Betonplatten, entsprechend langsam sind die Autos hier unterwegs. Ungemütlich wird es erst kurz vor Wesenberg, wo die erste überörtliche Straße auftaucht. Immerhin weiß man jetzt wieder, wovor man aus der Hauptstadt geflohen ist.

Wer nicht aufpasst, stürzt zwei Meter in die Tiefe

Der Havelradweg gehört zu den jüngsten Flussradwege der Republik. Kilometerlang geht es auf kaum befahrenen Sträßchen durch die schönsten Landstriche des Havellandes.
Der Havelradweg gehört zu den jüngsten Flussradwege der Republik. Kilometerlang geht es auf kaum befahrenen Sträßchen durch die schönsten Landstriche des Havellandes.

© Havelland Tourismus

Zum Ausgleich folgt eine wilde Passage, auf der eine ganze Stunde von modernen Baustoffen nichts zu sehen ist. Behagliche Naturwege führen von einem verträumten See zum nächsten. Nirgendwo Großparkplätze, laute Strandbäder und von Pommesfett umwehte Kiosks. Am stillen Trünnensee ist man vollends aus der Zeit gefallen. In seiner Mitte sitzt ein einsamer Angler bewegungslos in seinem Ruderboot. Landschaft als Stillleben statt als Freizeitpark.

Bis in den Norden von Berlin geht es weiter zügig dahin – wie kein anderes Bundesland hat Brandenburg in den Ausbau des Radwegenetzes investiert. Zwischen Tegel, Spandau und Potsdam ist dann auch einiges los. Einsamer wird es erst wieder jenseits von Werder. Auf dem eigens für Radler ausgebauten Haveldamm kommt man dem Fluss wieder einmal ganz nah. Nebendran dümpelt ein schwer beladener Frachter havelaufwärts, ein Segelboot gleitet über die reflektierende Wasseroberfläche. Auf den Wiesen daneben stehen Pferde, dazwischen Störche und Reiher, am Himmel macht ein Bussard-Pärchen mit seinen Jungen Flugübungen. Kurz vor den Götzer Bergen taucht man in ein unübersichtliches Netz von Altarmen des Flusses ein, zwischen denen sich Teiche und Tümpel gebildet haben. Einziger Fremdkörper in dieser Amazonas-Landschaft bleibt die schwarze Bitumenbahn, auf der man dahinrollt.

Kurz vor Brandenburg ist der Spaß dann vorbei. Bis nach Rathenow geht es nun immer wieder neben und auf die Straße. Das Problem ist jedoch anscheinend erkannt. Hier und da sind schwere Baumaschinen im Einsatz. Bei Marquede ist der schon beendet. Dort ist der Radweg zehn Meter neben die Fahrbahn gelegt – auf einen neu aufgeschütteten Damm, dessen schmale Krone komplett asphaltiert wurde. Wer allerdings einen Moment nicht aufpasst, stürzt zwei Meter in die Tiefe – ein gutes Beispiel dafür, dass moderne Ausbaustandards nicht zwangsläufig zu mehr Sicherheit führen.

Auf sachsen-anhaltinischem Gebiet wird es noch schlimmer. Eine satte halbe Stunde muss der Radler jetzt auf eine Landesstraße. Dass wenig Verkehr herrscht und wir durch eine grüne Traumlandschaft fliegen, ist nur ein schwacher Trost. „Vielleicht hätte man erst den Radweg und dann die Werbung machen sollen“, raunt die Seniorchefin der Fischerstube in Warnau. Sie bekomme immer die Klagen der Radler zu hören.

Kurz nach Havelberg sind wir geneigt, den Architekten des Havelradwegs alles zu verzeihen. Die letzten 20 Kilometer bis zur Mündung geht es auf einer langgezogenen Halbinsel dahin, die die Havel von der Elbe trennt. Einmal mehr stellt sich das Gefühl ein, das moderne Deutschland verlassen zu haben. Wer die Augen etwas zukneift, kann die am Sandstrand der Elbe lagernden Rinder für Seeelefanten halten.

An der Promenade von Wittenberge kommen wir dann mit einem der vielen Elberadler ins Gespräch. Wie die meisten Touristen fährt er mit dem Wind, also flussaufwärts. Bisher habe es ihm gut gefallen, nur leider gehe es zwischendurch immer wieder kilometerlang hinter dem Damm entlang, so dass man gar nichts von der bezaubernden Wasserlandschaft sehe. Wir grinsen uns verschmitzt an. Da ist der Havelradweg aber doch etwas abwechslungsreicher. Wie schnell man die drögen Passagen auf der Straße doch vergessen hat, wenn der letzte Eindruck so überwältigend ist.

Gerhard Fitzthum

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