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Wie im richtigen Leben. Spektakulär, doch keine Show. Auch bei der täglichen Rancharbeit haben Cowboys so manchen Ringkampf mit Jungstieren zu bestehen.

© Franz Lerchenmüller

Kanada: Kerle mit goldenen Herzen

Die kanadische Cowboystadt Calgary feiert sich jedes Jahr auf der Stampede, dem größten Rodeo des Landes.

David Cowley ist ein höflicher Cowboy. Deshalb holt der 32-Jährige jetzt ein Eisen aus der Tasche und kratzt sorgfältig den Dreck aus den Hufen von Spencer. Schließlich ist für sie beide ganz weit oben schon der rote Teppich ausgerollt. Dann schwingt er sich in den Sattel und dirigiert das Pferd vorsichtig durch die Glastür ins Innere des Calgary Towers – und dann hinein in den Aufzug. 160 Meter weiter oben öffnet der sich in der verglasten Aussichtsplattform, und hoch zu Ross beantwortet David die Fragen eines brasilianischen Fernsehteams.

Ja, 1998 war es, da ritt er hin und wieder zur allgemeinen Belustigung in eine Bar, und als ihm irgendjemand eine Wette anbot, dass kein Pferd der Welt zu bewegen sei, einen Aufzug zu betreten, besorgte er sich binnen einer Stunde eine Art Genehmigung und fuhr auf seinem Gaul zum allerersten Mal nach oben. Seitdem hat er keine Stampede ausgelassen, und sein Auftritt wurde zu einem weiteren ungewöhnlichen Ritual dieses bunten Volksfestes in der kanadischen Prärieprovinz Alberta.

Einige solcher Kuriositäten sind dazugekommen, seit der Lassokünstler Guy Weadick im September 1912 zum ersten Mal Cowboys aus ganz Nordamerika in die aufstrebende Viehzüchterstadt Calgary einlud. Für 20 000 Dollar Preisgeld maßen sie ihre Kräfte beim Rodeo, dazu zogen 1800 Angehörige von Indianerstämmen in einer farbenprächtigen Parade durch die Straßen. Aus der Wildwestschau von damals ist ein millionenschweres Großereignis geworden, Rummel und Sportveranstaltung zugleich, Laufsteg, Industrieschau und Showzirkus. Wer sich als Besucher darauf einlässt, erfährt eine ganze Menge über den Lebensstil und das Selbstverständnis der Präriekanadier.

Eröffnet werden die zehn tollen Tage mit der großen Parade. Vorneweg reitet der Bürgermeister, gefolgt von einem bunten Zug aus 4000 Menschen, 700 Pferden und diversen Fahrzeugen, aufgeteilt auf 120 verschiedene Gruppen. Mächtige Firmen wie Halliburton oder ATB Financial sind mit ihren Angestellten vertreten, aber auch die Vereinigung chinesischer oder muslimischer Unternehmer. Christliche Schulen, Cheerleader und Freimaurer haben ihre eigenen Wagen. Die Stadtbibliothek lädt mit einem großen Ohrensessel zum Schmökern.

Festtagsfedern.
Festtagsfedern.

© Franz Lerchenmüller

Zu Dudelsackklängen marschieren die Veteranen der Royal Canadian Mounted Police (RCMP) auf, und von ihrer Kutsche winkt altersmilde, aber unerschütterlich zäh die „älteste Pionierfrau“, Ralphine Locker, 87 Jahre alt. Besonders gefeiert von den 350 000 Zuschauern am Straßenrand werden die Abgeordneten der Indianer – politisch korrekt in Kanada First Nations genannt – in ihrem Federschmuck. Schüler aus Taiwan, junge Frauen aus Helsingör und der Fanfarenzug Potsdam, ganz in Rot und Weiß, vertreten die große weite Welt. Immer mal wieder trillern zwischendurch Animateure, wedeln mit den Armen, und das Publikum brüllt unermüdlich „Yaaa... hooo“.

So viel blitzendes Blech, wippende Federbüsche, glattrasierte Gesichter, von denen der Schweiß rinnt. Immer wieder Märsche, Pfeifen, Trommelwirbel – und um die Ecke biegt schon mit Trippelschritten der Musikchor der Marine, gefolgt von drei röhrenden Panzern, die kreiselnd Asphalt von der Straße kratzen. Der Jubel steigert sich ohrenbetäubend. Die Botschaft ist klar: „Calgary first! Canada on top!“ Big business und Mittelstand, Armee, Wohltätigkeitsvereine, Sportler – hier sind die Säulen der kanadischen Gesellschaft versammelt. „Wir riskieren etwas. Wir halten zusammen. Jeder macht mit.“ Und tatsächlich sind es Hunderte von Freiwilligen, die neben den Profis die Stampede vorbereiten und am Laufen halten.

„Keiner geht hier raus mit einem schlechten Gefühl“

Ausgehstiefel.
Ausgehstiefel.

© Franz Lerchenmüller

Die Frauen und Männer des „Downtown Attractions Committee“ – so etwas wie die AG City in Berlin – etwa braten jeden Morgen auf der Olympic Plaza frische Pfannkuchen und brutzeln Speck. Drei- bis viertausend Menschen stehen in langen Reihen für ihr Gratisfrühstück an. „Es macht einfach Spaß, sie zu versorgen“, sagt die Rentnerin im Clownskostüm lachend. „In diesen Tagen kann ich der Gesellschaft etwas zurückgeben“, begründet ein Offizier a. D. seinen Einsatz als Sanitäter. Musik, Squaredance und Kutschfahrten gibt es fast überall in der Stadt, und beim „Hat Stomp“- Wettbewerb kann, wer will, seinen Strohhut möglichst originell zerreißen, zerboxen, zertreten.

Das eigentliche Geschehen aber findet auf dem abgetrennten Areal der „Stampede Grounds“ statt. In gut belüfteten Hallen scharren preisgekrönte Pferde, Bullen, Ziegen und Hühner. Schafscherer und Hufschmiede zeigen ihr Können, Korsos historischer Traktoren feiern das gute alte Landleben und den nicht weniger geliebten Fortschritt. Vor den Tipis der First Nations trocknet Fleisch am Feuer, bronzefarbene Männer mit Federschlappen und rotgelockte Schönheiten mit weißen Hüten üben gemeinsam Tanzschritte.

Menschenmassen schieben sich zwischen Achterbahnen und Losbuden hindurch, von den Pizza-, Popcorn- und Bavarian-Sausages-Buden riecht es nach Karamell und heißem Käse. Jahr für Jahr verblüfft die Industrie die Besucher mit neuesten Schockern aus der Fritteuse: frittierter Käsekuchen, frittierte Schokokekse, und als letzten Schrei: „deep-fried Kool-Aid“ – Limonadenkonzentrat im Backteig.

Am heftigsten aber schlägt das Herz der Stampede in der Arena: Tag für Tag treten sie hier gegeneinander an, die Planwagenfahrer, Stierringer und Reiter. Letztere müssen sich mit und ohne Sattel mindestens acht Sekunden in möglichst eleganter Haltung auf einem wild bockenden Pferd oder Bullen halten – die längsten acht Sekunden der Welt. Sie sind Stars eines großen, von Rodeo zu Rodeo reisenden Wanderzirkus, an den während der zehn Tage insgesamt zwei Millionen Dollar an Preisgeldern ausgeschüttet werden.

Die Kritik der Tierschutzverbände hat ihnen zugesetzt. Insbesondere bei den „Chuckwagonraces“, den Wagenrennen, bei denen ehemalige Rennpferde am Start sind, kamen immer mal wieder Tiere zu Schaden. „Ja, es gab Unfälle“, gibt Fahrer Troy Flad zu. „Und es gab verrückte Kollegen. Aber“, fährt der 37-Jährige fast beschwörerisch fort, „die haben wir inzwischen kaltgestellt. Unsere Strafen sind so streng, dass jeder sein Gespann gern vom anderen fernhält. Wir lieben unsere Pferde.“

Rund 20 000 Zuschauer auf der Tribüne folgen enthusiastisch den Wettkämpfen. „It’s our tradition“, antwortet jeder Zweite, den man nach dem Reiz der Veranstaltung fragt – und es klingt, als antworte er in Großbuchstaben. Die Männer dort unten verkörpern die Eigenschaften, die den weißen Siedlern das Überleben ermöglichten: Mut, Kraft, Zähigkeit, ein gutes Auge und Entscheidungsfreude – Fähigkeiten, wie sie heute noch auf den Ölfeldern der Provinz gefragt sind. Die berühmten rauen Kerle mit den legendären goldenen Herzen riskieren hier ihre Knochen, schweigsame Burschen, in Freundschaft verbunden selbst im Wettkampf. „Es gibt eine Regel hier“, sagt der Stadionsprecher, als wieder einmal einer der Jungs nach knapp drei Sekunden vom Bullen gedonnert ist. „Keiner geht hier raus mit einem schlechten Gefühl. Beifall für den Mann!“

Gleich nach dem Wagenrennen startet die große Show. Sie wird gigantisch, wie nicht anders zu erwarten in der Stadt der Ölmilliarden – der einzigen Kanadas, in der die Immobilienpreise immer höher in den Himmel schießen.

Flammen züngeln, Lassowerfer aus China zeigen den Profis, was Sache ist, Motorradfahrer schlagen Saltos über die Bühne. Immer wieder werden die großen Stars abgelöst von jungen Tänzern und Sängern der „Young Canadians“ aus Calgary, die seit fast 50 Jahren fest zur Stampede gehören. Endlich gleitet ein Goldener Adler über den Nachthimmel, auf einem silbernen Truck schwebt Countrystar Paul Brandt ein, und der Himmel explodiert in einem exquisiten Feuerwerk. Wenn das Guy Weadick noch erlebt hätte – er wäre glücklich gewesen, sagt man in Calgary.

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