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Schön ist das Leben am Hafen. Allem Anschein nach zumindest für diese beiden Männer in einer Taverne nahe der Mole von Ierápetra auf Kreta.

© Tobias Gerber/laif

Kreta: Sehnsucht nach roten Fingernägeln

Ierápetra ist ein Städtchen im Südosten Kretas. Hier tanzte „Alexis Sorbas“ am Strand – und brachte Glanz. Ein bisschen ist geblieben.

Auf einer Landzunge, die weit ins Meer reicht, zeichnet sich vor der untergehenden Sonne die Silhouette der Stadt ab: steinerne Quader weißer Häuser, überragt von Palmwipfeln und Kirchtürmen. Den ganzen Tag über hat die Sonne die Hafenpromenade von Ierápetra bestrahlt, noch am Abend sitzen die Menschen kurzärmlig in den Cafés. Unter den Gästen sind nur wenige Touristen, dafür eine Runde von kretischen Hoteliers. Sie schimpfen auf die ausländischen Reiseveranstalter, die Griechenlands Krise ausnutzen, um die Preise weiter zu drücken. „Zehn Euro haben sie mir angeboten pro Person und Halbpension – zehn Euro!“ Einer sagt: „Ich verstehe das nicht, weshalb die plötzlich nicht mehr kommen. Sie kamen jedes Jahr, wir haben gegessen und getrunken. Ich dachte, wir seien Freunde.“

Ierápetra im Südosten von Kreta hat es schwer. Aber nicht erst jetzt. Bereits vor 500 Jahren verwandelte ein Erdbeben den letzten Hafen vor Afrika, die „südlichste Stadt Europas“ mit ihren damals 100 000 Einwohnern und drei Theatern mit einem Paukenschlag in einen Trümmerhaufen. Seitdem ist der Ort ein namenloser Punkt auf den Karten der Seefahrer und Touristen.

Dabei hat das heutige Städtchen mit seinen gut 15 000 Einwohnern alles, was Touristen suchen: lange Strände, Souvenirgeschäfte, ein Museum mit 4000 Jahre alten tönernen Sarkophagen, deren Griffe aussehen wie die Lederriemen gigantischer Überseereisekoffer, und mit Chrissi eine kleine karibisch anmutende Insel aus feinstem Sand und Blumen, zu der jeden Morgen kleine Schiffe übersetzen. Sogar ein altes, türkisches Viertel gibt es mit einer Moschee und kleinen Häuschen hinter krummen, weiß getünchten Gartenmauern voller Zitronenbäume und Jasminsträuchern.

Das Außergewöhnliche ist, dass es auch noch Geschäfte ohne Postkarten, ohne Bikinis und Sonnenbrillen gibt. Geschäfte mit Eisen-, Papier- und Kurzwaren, Läden von Schneidern, Schustern und Schreinern. Und dass über Ierápetra immer die Sonne scheint. Das ganze Jahr. Selbst im Januar fällt das Thermometer kaum unter zehn Grad. Die winterlichen Durchschnittstemperaturen sind Europarekord.

Weltrekord ist der griechische Salat, den 800 Freiwillige vor zwei Jahren klein schneiden mussten, damit die 13 Tonnen schwere Vorspeise ins „Guinnessbuch der Rekorde“ kam. Nur, um Touristen auf das vergessene Städtchen aufmerksam zu machen. Doch in den Reisekatalogen steht der Salat noch immer nicht.

Nicht einmal Nikos Kazantzakis’ berühmte Romanfigur Alexis Sorbas brachte dem Städtchen Glück. Obwohl der Roman, der 1964 mit Anthony Quinn verfilmt wurde, der erfolgreichste Exportschlager der Insel ist. Das Schwarz-Weißbild des am Strand tanzenden Griechen, dessen ausgebreitete Arme die ganze Welt zu umarmen scheinen, ist unvergessen, scharenweise besuchen Touristen den Drehort, überall auf der Welt tragen griechische Lokale den Namen des kretischen Prototypen.

Madame Hortense war keine Schönheit

Sorbas und Quinn sind berühmt geworden und geblieben. Lila Kedrowa, die für die Rolle der Geliebten des Sorbas den Oscar bekam, scheint hingegen vergessen. Ebenso wie Madame Hortense. Sogar in Ierápetra. Dabei hat sie hier gelebt, wurde hier beerdigt. Die Französin Adeline Guitar, die von ihren Verehrern mit dem Namen einer Blume geschmückt wurde: Hortensie. Ganz wie im Film hatte sie 1911 das erste Hotel in der Stadt eröffnet. Heute gibt es 10 000 Betten in der Region, in Hotels und Pensionen, die nicht Hortense, sondern El Greco, Sunrise oder Golden Beach heißen, wo Retsina getrunken, Tsatsiki gegessen und Sirtaki getanzt wird – ganz wie im Film.

Madame Hortense hatte jedoch kein Glück. So wenig wie Ierápetra. Die Französin ist fast vergessen. Obwohl sie das Städtchen gehörig durcheinanderbrachte mit ihrem Pelzmantel und ihren rot lackierten Fingernägeln. Die Männer waren fasziniert von der „Madama“ mit ihrem Salon und ihren Zimmern mit den Waschschüsseln. Aber auch auf die Ehegattinnen, die in dem kleinen Laden im Erdgeschoss Nüsse, Süßes und Zigaretten kauften, muss die Französin Eindruck gemacht haben: Noch heute sind die Frauen von Ierápetra ein bisschen feiner als in Heraklion oder Chania, tragen rot bemalte Fingernägel, Spitzen und goldenen Schmuck.

Dabei war die „Kiria Madama“, die „Dame Madame“, wie sie die Ierápetraner nannten, gar keine Schönheit. Sie war ein „Frauchen mit flachsblond gebleichten Haaren und einer behaarten Warze am Kinn“. So zumindest schreibt Kazantzakis, der tatsächlich einen Abend in Ierápetra verbracht haben soll. Sie „tauchte watschelnd und krummbeinig unter den Silberpappeln auf“ und „trug ein rotes Samtband um den Hals, und ihre verwelkten Wangen waren dick rot gepudert“.

Womit Madama Hortense die Männer derart fesselte, in welche geheimnisvollen Techniken der Liebe sie die Griechen einweihte, ist unbekannt. Dass die Französin jedoch mehr war als nur eine käufliche Dienerin, beweist eine Straße, die nach ihr benannt ist. Sie „ist kaum zwanzig Meter lang“, sagt Maria Dimitromanolaki, die Professorin aus der Stadt. „Aber in den Siebzigern, als alle Touristen noch Bücher von Kazantzakis im Rucksack hatten, da fragten viele nach ihr.“

Inzwischen ist das Straßenschild verblichen. Die Touristen suchen nicht mehr nach der kleinen Französin, sondern nach einem kleinen Franzosen, der in jedem Reiseführer steht. Er soll auf der Reise nach Ägypten im Juni 1798 eine Nacht in Ierápetra verbracht haben. Mit fünf Matrosen sei er an Land gegangen, um Trinkwasser zu bunkern. Andreas Peroulios zeigte ihnen den Weg zum Brunnen und lud den Kapitän auf einen Schnaps ein. Der Schnaps war stark, der Besucher wurde müde, schlief ein. Am nächsten Morgen aber war der Fremde verschwunden, nur ein Zettel unter dem Kopfkissen verriet, wer er gewesen war: Napoleon Bonaparte.

Der Zettel, und damit der einzige Beweis für den berühmtesten Besucher des Städtchens, soll später für eine nicht bekannte Summe den Besitzer gewechselt haben und ward seitdem nie wieder gesehen. Dennoch weist heute ein Schild von der Hafenpromenade in das Labyrinth des türkischen Viertels zum „House of Napoleon“ mit den vom Alter und der salzigen See silbergrauen Hölzern der Fensterläden. Dahinter, in einer Art Turm, die das napoleonische Quartier überragt, wohnt eine alte Frau. Sie sucht nach den weiß gekalkten Blechkanistern, „... jetzt haben sie mir die Blumentöpfe geklaut! Hier haben sie gestanden, vor dem Haus, meine Geranien ...“ Klagend läuft sie durch die enge Gasse, mit ihren toupierten Haaren und den geschminkten Lippen. Unter dem kurzen Kleid schaut der Saum eines Pettycoats und ein Paar krummer Beinchen in ausgeleierten Plastikpantoffeln hervor. „Madama, Madama, suchen Sie schon wieder Ihre Blumen?“, ruft ein Junge, der auf einem Mountainbike vorbeifährt.

So lebt sie noch fort, die alte Französin, tief unten im Gedächtnis der südlichsten Stadt Europas, über der soeben die Sonne untergeht. Sie verwandelt sogar die mit dreckigen Plastikplanen überzogenen Gewächshäuser im Westen in eine glitzernde Perlenkette. Sie passen zueinander, die Madame und diese Stadt. Sie sind beide keine Schönheiten. Aber wer sie einmal besucht hat, der kann sie nicht mehr vergessen. Der kommt wieder.

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