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Bisschen gespenstisch: Die Kirche von Budir vor der Schneekulisse.

© Visit West Iceland

Magische Beobachtungen im Westen Island: Von Elfen getrollt

Straßen geplant im Feengebiet? Feld ohne Einverständnis bestellt? Magie prägt Island bis heute. Besuch in einem verwunschenen Ort

Es ist nicht so, dass das Rezept nicht einsehbar wäre. Dass man nicht wüsste, wie Hrafnhildur Guðmundsdóttir das hinkriegt. Sie hat es ja fett an die Wand geschrieben, in der Lounge ihres Pferdehofs Sturlureykir, anderthalb Stunden nördlich von Reykjavik. Da steht: Vier Tassen Roggenmehl, eine Tasse Weizenmehl, zwei Tassen brauner Zucker, ein Liter Milch, Backpulver, Salz. Und dennoch: Unmöglich, zu kopieren, was am Ende dabei herauskommt.

Warum, das kann man schon sehen, wenn man sich dem Pferdehof von Süden her nähert, über eine schmale Straße, die durch sanft verschneite Landschaft zu Guðmundsdóttir führt. Aus dem frisch gefallenen Schnee steigen feine Rauchschwaden zum Himmel. Aus jedem Erdloch dampft und brodelt es, in manchen blubbert gar eine heiße Quelle. Island, das ist Vulkanland, auch im Winter. Und Hrafnhildur Guðmundsdóttir weiß es zu nutzen.

Eines dieser heißen Löcher hat die Pferdebäuerin in Beschlag genommen. Es befindet sich gleich hinter ihrem Hof, geschützt mit einem Deckel. Guðmundsdóttir hebt ihn beiseite, greift mit dem Arm tief hinab in die dampfende Erde – und zieht ein kleines Bündel hervor. Brot. Roggenbrot. Und nachdem man das Bündel aufgeklappt, den Laib angeschnitten, eine Scheibe mit süßlich schmeckender Butter bestrichen und abgebissen hat, muss man feststellen: Es ist übernatürlich gutes Roggenbrot.

Bei diesen Farben am Hraunfossar-Wasserfall drehen nicht nur Fabelwesen durch.
Bei diesen Farben am Hraunfossar-Wasserfall drehen nicht nur Fabelwesen durch.

© Visit West Iceland

Mit der Magie ist das so eine Sache auf Island. Sie steckt im Detail, einem Brot aus dem Erdinnern, gebacken mit Vulkanhitze, sie zieht als Polarlicht über den Nachthimmel, wird reproduziert, in alten Sagen, hundertfach erzählt an einsamen Winterabenden. Und dann gibt es ja noch diese Wesen, die die ganze Insel bevölkern sollen. Unsichtbare Wesen.

Huldufolk, so nennen sie diese Geschöpfe auf Island, je nach Definition zählen dazu Trolle, Elfen, Zwerge, Geister. Besonders die Elfen haben es den Einheimischen angetan, jeder zehnte ist sich zu 100 Prozent sicher, dass sie existieren. 13 verschiedene Unterarten soll es geben, variabel in Größe, Gewicht, Erscheinungsbild. Ihnen allen gemein: Die Beine sollen lang und spindeldürr sein, die Ohren groß.

Ungewaschen und versteckt

Selbst einen Schöpfungsmythos erzählen sich die Isländer. Einige Zeit nach der Erschaffung des Menschen soll Gott Eva im Paradies besucht haben, der es jedoch nicht gelungen sei, all ihre Kinder rechtzeitig zu waschen. Die besonders schmutzigen versteckte sie – was Gott bestraft habe, in dem er just diese Kinder unsichtbar machte. Da waren die Elfen geboren.

Auch Jóhann Harðason kann von ihnen erzählen. Der Bauer und Restaurantbesitzer lebt nicht weit von Brothexe Guðmundsdóttir entfernt, auf einem Hof, der Hraunsnef heißt und nah beim Vulkan Grábrók steht, dessen Flanke voll erkaltetete Lava ist und sich sanft zum Gehöft neigt. Eines Tages wollte Harðason die Wiesen rings um seinen Hof mähen. Er hatte einen neuen Traktor gekauft, schließlich hatte er es sich zum Ziel gesetzt, sich endlich an jene Hügel auf seinen Ländereien zu wagen, vor dem ihn alle hier so lange gewarnt hatten.

Zuerst wollte Bauer Jóhann Harðason auch nicht an Elfen glauben.
Zuerst wollte Bauer Jóhann Harðason auch nicht an Elfen glauben.

© Visit West Iceland

Geh nicht dorthin, das ist Elfenland, so hatten sie gesagt, aber Harðason hatte nur gelacht. Er war ein Stadtkind, aufgewachsen in Reykjavik, und hatte erst spät im Leben beschlossen, Bauer zu werden. Mit Elfen konnte er nichts anfangen. Also mähte Harðason. Bis der Traktor liegen blieb, genau auf dem Hügel.

Man erfährt diese Geschichte vom Elfenskeptiker selbst. Er steht inmitten seines Schafgeheges und füttert die Tiere aus einem Eimer. Die Stiefel voller Matsch, der reflektierende Overall leuchtet in der Nachmittagssonne, das Grinsen eines Neunjährigen. Er steigt über den Zaun und bedeutet, ihm zu folgen. In die Gaststube.

Um Erlaubnis bitten

In wenigen Ländern der Welt dürfte der Übergang zwischen Schafstall und Restaurant so fließend ablaufen wie auf Island. Klaviermusik spielt im Hintergrund, Designerlampen beleuchten hübsch eingedeckte Tische, die Kellnerin trägt Lachs mit ganzen Kartoffeln auf. Ihr Chef, Harðason, hat sich da schon an den Tisch gesetzt und zu erzählen begonnen. Also, die Elfen.

Ein paar Mal noch habe er, Harðason, versucht, sein Gefährt wieder zum Laufen zu kriegen, dann gab er auf. Beim Abendessen erzählte er kleinlaut seiner Frau Brynja von dem Vorfall. Sie sagte: „Hast du die Elfen vor dem Mähen um Erlaubnis gebeten, wie ich es dir gesagt habe?“

„Nein“, sagte Jóhann.

„Selber schuld“, sagte seine Frau.

So ist es oft auf Island. Bauern mähen ihre Wiesen an bestimmten Stellen nicht, manche Grundstücke bleiben unbebaut, und selbst das Straßenverkehrsamt sieht sich gezwungen, Straßen anders zu planen, als der natürliche Verlauf es nahegelegt hätte: Überzeugte Isländer protestieren dafür, im Weg liegendes Elfenland zu umkurven.

Befremdliches Verhalten

Wer weiß schon, was passieren würde, hätte man die Straße einfach durchgezogen. Der Großteil der Bevölkerung ist sich zwar bewusst, dass es auf Außenstehende befremdlich wirken kann, das Gespräch mit unsichtbaren Wesen zu suchen, schwören, dass es diese nicht gibt, würde auf Island aber fast niemand. Was, wenn doch was dran ist? Am Tag nachdem sein Traktor liegen geblieben war, stapfte Harðason erneut auf seinen Hügel. Er blickte sich um. Als er sah, dass niemand ihn beobachtete, begann er zu sprechen. Einfach mitten rein in die Landschaft, eine kleine Entschuldigungsrede ans Jenseits. Ich bitte um Verzeihung, liebe Elfen, dass ich nicht um Erlaubnis gefragt habe. Ich würde diesen, euren Hügel, nun gerne mähen. Würdet ihr mir das gestatten?

Er lauschte. Hörte nichts. Nach einigen Minuten setzte er sich auf den Traktor. Er sprang an. Harðason mähte den ganzen Hügel raspelkurz.

Überall in Island erinnern Statuen an die Allgegenwärtigkeit von Sagen und Fabeln.
Überall in Island erinnern Statuen an die Allgegenwärtigkeit von Sagen und Fabeln.

© Visit West Iceland

Der Bauer führt nun hinaus aus dem Lokal, zurück in den Mist. Er zeigt eine Stelle unten an der Straße, von der es heißt, dass Elfen und Trolle dort hausen würden, und lächelt nur noch milde, wenn man fragt, woher er das wisse. Weiß er halt. Gänzlich weltlich dagegen die Lammhaxen, die gleich nebenan in seiner Räucherkammer hängen. Der Bauer bleibt stehen, lässt den Blick schweifen über die ockerfarbenen Weiden, die bis zum Horizont reichen und erst an einem gezacktem Felsgrat in der Ferne Halt machen. „Mein Gebirge“, sagt er. Sein Grundstück geht wirklich so weit, dass es die Felsen noch miteinschließt.

Vielleicht ist es kein Wunder, dass Menschen an Fabelwesen zu glauben beginnen, wenn sie in einen Landstrich ziehen, der von Drehbuchschreibern regelmäßig als Kulisse für düstere Mystik auserkoren wird. In der Netflix-Serie „Katla“ zum Beispiel, ganz in der Nähe gedreht, erheben sich nach einem Vulkanausbruch plötzlich Zombies aus der Asche.

An Bord eines Raketenwerfers

In „Game of Thrones“ wiederum ist Island Schauplatz für alles Geschehen nördlich der sagenhaften Mauer, hinter der Wildlinge und weiße Wanderer leben, eine Spezies, deren Haut so fahl ist, dass sie beinahe elfenhaft durchsichtig wirkt. Wildnis und Magie liegen in dieser Landschaft nah beisammen. Vom Hof von Bauer Harðason kann man an der gegenüberliegenden Bergflanke die Schneegrenze sehen, über Nacht hat es erneut geschneit. Der Winter naht.

Adrian Pop ist geborener Rumäne und daher kein unmittelbarer Magieexperte. „Dracula“, sagt er, wenn man ihn nach übernatürlichen Wesen fragt. Dafür ist Pop Spezialist für Gebilde, die sich auf Island seit Jahrtausenden züngelnd fortbewegen: Gletscher. Der Experte steht, einen Tag nach dem Besuch bei Bauer Harðason, an Bord eines Raketenwerfers, der irgendwann umfunktioniert wurde, um Touristen aus dem Dorf Húsafell aufs ewige Eis zu transportieren, genauer: auf den Langjökull, einen der mächtigsten und beeindruckendsten Gletscher der Insel, 20 Kilometer breit, 55 Kilometer lang. Wenn man ihn nur sehen würde!

Mit diesem Ungetüm fahren Touristen in den Gletscher hinein.
Mit diesem Ungetüm fahren Touristen in den Gletscher hinein.

© Visit West Iceland

Draußen, vor den Scheiben des Raketenwerfers, staubt der Schnee, er wirbelt und schwebt und vermengt sich so perfide mit dem bereits gefallenen Weiß, dass sich alles zu einem opaken Schleier vermischt. Die unbefestigte Straße, die das Fahrzeug hinaufkriecht, Kaldiladur ihr Name, was kaltes Tal bedeutet, führt immer tiefer hinein in diesen Nebel. Würden sich die Elfen jetzt zeigen wollen, man würde sie schlicht übersehen.

Also beschreibt Bergführer Pop, was draußen los ist: ein Fluss hier, Geröll da, sogar ein Wäldchen soll zu sehen sein – an normalen Tagen. Irgendwann rumpelt der Raketenwerfer aufs Eis. „Allerdings“, wie Pop gleich anmerkt, „viel später, als das früher der Fall war.“ Auch die mächtigen Island-Gletscher sind dem Klimawandel ausgesetzt.

Der Zungenbrechervulkan

Vielleicht deshalb boomen auf Island Aktivitäten, die den Menschen mit dem Eis in Berührung bringen: als Abschied von diesem Element, dass eines Tages nur noch in alten Erzählungen bestehen wird, als Fabelwesen. Doch während man sich bei Gletscherwanderungen oder Eisklettertouren lediglich auf der Oberfläche dieses Naturphänomens bewegt, wird der Langjökull zum 3D-Erlebnis. Hinter dem Eingang, den Bergführer Pop erst freischaufeln muss, beginnt ein 800 Meter langer Tunnel, den ein gigantischer Bohrer ins Innere des Eises gedrechselt hat – es ist der längste der Welt.

Drin zieht man sich Steigeisen an und stakt damit durch den Eiskanal. „Da“, sagt Pop, „seht ihr die graue Schicht?“ Es ist die Asche des Eyjafjallajökulls, jenes isländischen Zungenbrechervulkans, der 2011 ausbrach und den Flugverkehr in ganz Europa lahmlegte. Seine Überreste haben sich in Ascheform aufs Eis gelegt und sind durch den darauf fallenden Schnee so zusammengepresst worden, dass sie nun als konservierte graue Schicht im Gletscher erkennbar sind.

So geht es in eisige Höhlen hinab.
So geht es in eisige Höhlen hinab.

© Visit West Iceland

Das Eiswesen, auf den ersten Blick nur weiße Masse, hat also ein Gedächtnis und ist damit, auch wenn im Sterben liegend, ein lebendiger Organismus, so sieht Pop das, jetzt doch ziemlich isländisch. Dabei muss man gar kein Isländer sein, um die Magie darin zu sehen.

Wie gut, dass schon wenige Kilometer entfernt erneut die Wärme wartet. Unweit vom Gletscher schlüpft man in den Holzumkleiden des Húsafell Canyon Baths raus aus den Klamotten und rein in die Schwimmhose, bademantelt ein paar Meter zwischen Umkleide und Pool – und gleitet langsam hinein in das runde Becken, das sie hier Heitur Pottur nennen und das auch Elfen sehr zu schätzen wissen, wenn man der isländischen Erzählung glaubt.

Hat es noch einen Beweis gebraucht, dass dieses Land zu Übernatürlichem fähig ist? Dieser ist es: Wasser, das nur wenige Kilometer von einem lebendigen Eisriesen entfernt, teekocherwarm aus der Erde sprudelt, während der Mond am kalten Winterhimmel aufgeht.

Reisetipps: Icelandair fliegt direkt von Berlin nach Reykjavik, Tickets ab 470 Euro hin und zurück. Das Doppelzimmer im Hraunsnef Country Hotel kostet ab 145 Euro pro Nacht, mehr unter hraunsnef.is. Diese Reise wurde unterstützt von Island Tourismus.

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