zum Hauptinhalt

Reise: Manchmal weist Lenin den Weg

Prächtige Klöster, breite Promenaden, bescheidene Bauernhäuser: Rechts und links des Flusses Dnjepr zeigt die Ukraine ihre unterschiedlichen Facetten

Windstärke 6 auf dem Schwarzen Meer. Das bedeutet gut und gern zweieinhalb Meter hohe Wellen, ein schwankendes Schiff, Seekrankheit. Letztere stellt sich zumindest bei einem geschätzten Drittel der 280 Passagiere an Bord des Motorschiffs „General Watutin“ ein. An Schlaf ist nicht zu denken. Ganz vorn, am Bug des 1986 auf der Elbe-Werft im mecklenburgischen Boizenburg gebauten Schiffes, schaukelt es am heftigsten. Hoch oben hüpfen die Sterne. Unten knarrt und rüttelt das Schiff. „Ihr müsst einen festen Punkt anvisieren“, rät Uwe aus München: „Das hilft!“ Erst mal einen finden, wenn alle Sterne tanzen und ansonsten stockdunkle Nacht herrscht.

Dabei hatte die zehntägige Kreuzfahrt durch die Ukraine vor zwei Tagen bei wolkenfreiem, blauen Himmel begonnen. Im Hafen von Odessa. In der Nähe der legendären Steintreppe, bekannt aus dem 1925 von Sergej Eisenstein gedrehten Stummfilm „Panzerkreuzer Potemkin“. Natürlich macht die Treppe was her. Aber so spektakulär wie erwartet, sind die vielen grauen Stufen dann doch nicht. Das liegt am Drumherum. Oberleitungen der Eisenbahn, eine Stadtautobahn und ein Gewirr von Zu- und Abfahrten verschandeln das Panorama vom Hafen aus.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatte Zarin Katharina II. den Auftrag gegeben, Metropole und Hafen zu bauen. Glücklicherweise wurde unter der Stalin-Ära nicht alles Edle und Dekorierte abgerissen und durch einfallslose Plattenbauten ersetzt. Zwischen Primorskij-Boulevard, der Oper und der Deribasivska-Straße reihen sich frisch herausgeputzte Restaurants, Kneipen und Hotels aneinander.

Die Sonne brennt. Es ist nahezu windstill, weshalb Karl aus Trier überhaupt nicht verstehen kann, warum das Schiff einen Tag länger als geplant im Hafen bleiben muss. 24 Stunden später wünschen sein Magen und er, sie hätten Odessa niemals verlassen. Am Bug des Schiffes spritzt die weißes Gischt des Schwarzen Meeres unaufhörlich über die Reling. Es ist einfach ungemütlich.

Die Mannschaft und den Großteil der Passagiere trennen gut fünfzig Jahre Altersunterschied. Kapitän Alexander Kovtun ist gerade mal 31, Kreuzfahrtleiterin Julia Dadvani erst 23 Jahre alt. Die sechs Sprachstudentinnen, die die einzelnen Reisegruppen betreuen, sind hoch motiviert, obwohl sie während der fünfmonatigen Saison fast täglich von sieben Uhr morgens bis in die späten Abendstunden gefordert sind. „Die Bezahlung ist besser, als wenn ich später mal als ausgebildete Lehrerin arbeite“, meint Studentin Jana.

Das Schiff ist nicht das modernste. Die Kabinen sind einfach und im 70er-Jahre-Stil eingerichtet: zwei Klappbetten, ein Schrank und eine kleine Toiletten-Duschkabine. Ein hochmoderner oder verschnörkelt verchromter Luxusdampfer würde auch nicht passen in einem Land, das noch lange nicht da ist, wo es einmal hin möchte. Das trotz zahlreicher sichtbarer Renovierungen und westlicher Ladenketten häufig noch ungeschminkt und grau wirkt. So stimmen Schiffsambiente und Umgebung. „Wir wollen nicht nur interessante Orte in der Ukraine zeigen, sondern auch eine familiäre Atmosphäre vermitteln“, erzählt Julia Dadvani.

Das Gute an Seekrankheit im Vergleich zu einem Magen-Darm-Virus ist, dass man nicht tagelang damit zu tun hat. Sobald man festen Boden unter den Füßen hat, ist alles vergessen. Am Grafenkai von Sewastopol warten schon die Busse zur Entdeckungstour über die Krim. „Bis 1992 war Sewastopol eine verbotene Stadt, nur für Angehörige der russischen Schwarzmeerflotte zugänglich“, erklärt Stadtführerin Ljuba, 2000 Denkmäler gäbe es noch aus der Sowjetzeit. Es bleibt nur Zeit, um fünf anzusehen.

Dann geht es weiter durch den Süden der Insel. Kiefern, Eichen, Buchen, Wacholder und kahle Felsen säumen die gut ausgebaute Straße. Tief unten gurgelt das Meer. Protzige Villen und Sanatorien schimmern durch die Bäume. Der Bus stoppt neben einer Reihe von Souvenirläden. Die Flasche Krimsekt gibt’s für sechs Euro. Laut Ljuba soll er wirklich von der Insel stammen.

Der Stopp an dieser Stelle hatte natürlich seinen Grund. „Von der Terrasse aus können Sie einen Blick auf das Wahrzeichen der Krim werfen – das berühmte Schwalbennest“, sagt Ljuba stolz. Ein 1912 von einem deutschen Ölbaron erbautes Schlösschen, das auf einem Felsen thront. Heute beherbergt es ein italienisches Restaurant.

Kurz darauf steht die Gruppe an historischer Stelle im Liwadija-Palast bei Jalta. Vor dem runden Tisch, an dem Churchill, Roosevelt und Stalin im Februar 1945 über das Schicksal Deutschlands und Europas entschieden.

Das Kurbad Jalta: Auf dunklen Kieseln räkeln sich dicht gedrängt schwitzende Körper in der Sonne. Die Promenade ist garniert mit Kunst und Kitsch. Porträtmaler, Wahrsagerinnen und Fotografen warten vor ihren Ständen auf Kundschaft. Für kleine Summen kann man sich als Katharina II. oder Peter der Große vor Pappmaché-Kulisse ablichten lassen. Einen original-amerikanischen Burger gibt es an der nächsten Ecke gegenüber dem Lenin-Denkmal, falls jemand keinen Appetit hat auf die ukrainischen Teigtaschen (Wareniki), die unter anderem am Abend serviert werden.

Der Sturm hat sich zum Glück gelegt. Die Rückfahrt übers Meer zum Dnjepr-Delta verläuft angenehm ruhig. Das Menü, bestehend aus Suppe, Hauptgericht und Dessert, mundet wieder. Ab Cherson geht es in Ausflugsbooten mit Kalinka-Folklore für ein paar Stunden durch die Seitenarme des großen Stroms. Natur links. Natur rechts. Da hängen tiefe Zweige, dort recken Seerosen ihre Köpfe. Kleine bunte Häuschen aus Holz, die typischen Datschen, schimmern hinter Schilf und Obstbäumen. Einige Bewohner haben ihre Angeln ausgeworfen. Mit 2280 Kilometern Länge ist der Dnjepr nach Wolga und Donau der drittlängste Fluss Europas. Fünf Schleusen und Stauseen passiert die „General Watutin“ vom Delta bis Kiew. Wälder, Wiesen und Industrieschlote größerer Städte säumen das Ufer. Die Schleuse Saporoschje ist mit 36 Metern Höhenunterschied die größte. Mehr als eine halbe Stunde dauert die Durchfahrt, während ein riesiger Lenin unbeirrt vom gegenüberliegenden Ufer grüßt.

In der Gegend um Saporoschje ließen sich im 15. und 16. Jahrhundert Kosaken nieder. Auf der Insel Chortitsa, der größten von 215 Inseln im Fluss, wird das Leben der tollkühnen Männer in einem Museum und im Freilichttheater gezeigt.

Kiew, die sogenannte Mutter aller russischen Städte, kommt näher. Kleinere und größere Villen zeugen vom Reichtum einiger weniger. Ihnen folgen einfallslose Hochhäuser, dicht an dicht gebaut, bis zum Horizont. Beim Anblick des goldverzierten Kiewer Höhlenklosters klicken die Kameras. Der Hafen befindet sich mitten in der Stadt. Zwischen Standseilbahn und Metro-Station „Postova“. Kiew ist die Stadt der Kirchen, ob restauriert, wieder aufgebaut oder ganz neu errichtet. Ob russisch- oder ukrainisch-orthodox. Goldene Kuppeln leuchten von der Sophien-Kathedrale, dem Michaelis-Kloster, der Andreas-Kirche oder der Wladimir-Kathedrale. Hotels, Boutiquen, Restaurants, Bars und Coffee-Shops prägen das Bild der Prachtstraße Kreschtschatik. Doch bei einem monatlichen Durchschnittseinkommen von 250 Euro wird ein Cappuccino für 2,90 Euro bei „Kofe & Tschai“ oder „Double Coffee“ wohl schnell zum Luxusgegenstand. Bei 80 Euro Rente ist sein Genuss undenkbar. Am Ende des Boulevards liegt der Unabhängigkeitsplatz, eingefasst von Repräsentativbauten aus sowjetischer Zeit. Hier fand im Jahre 2004 die „Orange Revolution“ statt.

Der vorletzte Abend. Tagelang haben die Reiseleiterinnen an Bord mit Freiwilligen Lustiges, Besinnliches, Ballett- und Tanzeinlagen eingeübt. Vor ein paar Tagen tobte noch das Meer, jetzt herrscht beste Stimmung im Saal. Nicht nur Karls Augen glänzen. Das meinte Kreuzfahrtleiterin Julia also mit familiärer Atmosphäre. Als der gemischte Chor schließlich das Watutin-Lied nach der Melodie „Mein Vater war ein Wandersmann“ anstimmt, singen alle mit: „Watutin, Watuta. Bis bald, auf Wiedersehen!“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false