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Murnau

© Mauritius Images

Murnau: Harmonie der Reize

Expressionismus in Bayern: In Murnau verliebten sich der Russe Wassily Kandinsky und die Berlinerin Gabriele Münter. die Liste der Schriftsteller und Maler, die hier Station machten, ist lang.

Es ist das Licht. Dieses warme, fließende Licht, das die Landschaft einhüllt und sie immer wieder in anderen Schattierungen schimmern lässt. Das blassblau aus dem weißen Nebel aufsteigt, der sich am frühen Morgen wie ein Schleier über das Murnauer Moos legt. Das mittags die Berge am Horizont so klar und deutlich in den Himmel zeichnet, dass jeder Felsgrat des Karwendelgebirges und der Zugspitze wie im Okular eines Fernglases heranrückt. Und das am Nachmittag das Alpenpanorama zu einem einzigen Bergmassiv zusammenschmelzen lässt – zu einem schwarz-blauen Scherenschnitt jenseits der endlosen Schilfwiesen der Murnauer Moorweiden, die in der Abendsonne rostrot aufleuchten.

Es müssen diese Farben gewesen sein, die Wassily Kandinsky und Gabriele Münter so faszinierten. Vor nahezu hundert Jahren, im Frühsommer 1908, war das Künstlerpaar zum ersten Mal nach Murnau gekommen, einer kleinen Stadt in Oberbayern, rund siebzig Kilometer südwestlich von München: Er ein promovierter Rechtsanwalt aus Moskau, vierzig Jahre alt, der seine juristische Karriere der Malerei zuliebe an den Nagel gehängt hatte. Sie eine dreißigjährige Kunststudentin aus Berlin. In München hatten sie sich kennengelernt und ineinander verliebt. Sechs Jahre lang waren sie dann gemeinsam durch die Welt gereist – nach Holland und Tunesien, nach Skandinavien und Italien, immer auf der Suche nach Bildern und Motiven, die sie in ihrer Kunst inspirieren sollten. Bis ein Wochenendausflug sie zufällig in den kleinen Ort in den Voralpen führte.

Murnau im Frühsommer 1908: 2500 Einwohner, zwei Kirchen, zehn Bierbrauereien, eine Bahnstation und ein Kurhaus. Für die weit gereisten Kosmopoliten ist der Ort eine fremde Welt – kleinbürgerlich, ländlich-katholisch, konservativ. Ochsengespanne, beladen mit Bierfässern, rumpeln über das Kopfsteinpflaster. Und abends treiben die Bauern das Vieh von den Weiden zurück in die Ställe. Die biederen Bürgerhäuser, die sich um die barocke St. Nikolaus-Kirche scharen, sind geschmückt mit religiösen Wandmalereien, mit Marienbildern und Kruzifixen.

Doch Kandinsky und seiner Malerfreundin gefällt die Idylle. In Kurzbesuchen kehren sie immer wieder nach Murnau zurück, quartieren sich in einem kleinen Hotel ein und malen, was sie auf ihren Spaziergängen in der Umgebung sehen – wie besessen von dem Wunsch, die Landschaft in leuchtenden Farben einzufangen: die gelb, grün und blau getünchten Häuser unter roten Ziegeldächern, die Föhnwolken über dem Staffelsee, die Dorfkirchen mit ihren Zwiebeltürmen und die Gipfel vom Herzogstand und Heimgarten, die sich am Horizont in einer weißen Watteschicht verlieren. „Immer mehr berührte mich die Klarheit und Einfachheit dieser Welt“, schreibt Gabriele Münter in ihr Tagebuch, und ihr Lebensgefährte Kandinsky findet, dass es wohl die „friedvolle Harmonie“ sei, die ihn in dieser Landschaft so tief beeindruckt.

Heute ist die Einwohnerzahl Murnaus auf 12 000 gewachsen. Viele Gebäude, die Kandinsky und Münter vor hundert Jahren auf ihre Leinwände brachten, sind aus dem Stadtbild verschwunden – zugunsten von modernen Einkaufszentren und Ladenpassagen. Murnau gibt sich modern und weltoffen: Der Obermarkt, im Mittelalter ein wichtiger Handelsplatz auf der Salzstraße von Berchtesgaden nach München, hat sich in eine elegante Fußgängerzone gewandelt – mit Restaurants, Straßencafés und italienischen Eisdielen. Boutiquen und Souvenirläden sind hinter den kunstvollen Hausfassaden eingezogen, und in den Biergärten genießen Wochenende für Wochenende zahlreiche Ausflügler aus der bayerischen Hauptstadt die Sonne und das kühle Weißbier.

„Vielleicht ist es diese Verbindung von südländischer Heiterkeit und dörflicher Idylle, die Murnau so reizvoll macht“, sagt Gina Feder, eine Malerin, die am Untermarkt eine Galerie für zeitgenössische Kunst besitzt – mit einem gemütlichen Bistro unter demselben Dach. Weil in diesem Ort ihrer Meinung nach Kunst und Genuss zusammengehören, ebenso wie Farben und Licht.

Dabei standen die Murnauer der künstlerischen Vergangenheit ihres Heimatortes lange Zeit eher gleichgültig gegenüber. Gewiss, die Namensliste von Malern und Schriftstellern, die auf Reisen hier Station machten oder die Stadt zu ihrem Wohnsitz wählten, ist lang – von Goethe über Carl Spitzweg bis zum Dramatiker Ödön von Horváth. Der deutsche Stummfilmregisseur F. W. Plumpe („Nosferatu“) war von der Schönheit des Ortes so angetan, dass er seinen Künstlernamen nach ihm wählte: Friedrich Wilhelm Murnau. Doch Wassily Kandinsky und Gabriele Münter schienen bald vergessen, und nur wenigen Einwohnern war bewusst, dass sich in dieser ländlichen Idylle etwas ereignet hatte, was man eher in den europäischen Kunstmetropolen Paris, Rom oder Berlin erwartet hätte – der Durchbruch der Malerei in die Moderne, den Expressionismus.

„Noch in den achtziger Jahren gab es kaum einen Urlauber, der deswegen nach Murnau kam“, erzählt Fritz-Walter Schmidt, einst Leiter des Tourismusbüros. „Niemand in dem Ort wäre auf die Idee gekommen, mit ihren Namen Werbung für den Fremdenverkehr zu machen.“ Das ist heute anders. Von Jahr zu Jahr wächst der Zahl der kunstinteressierten Besucher, die Fritz-Walter Schmidt durch Murnau und das Alpenvorland führen kann – auf Spurensuche zwischen Kochel- und Staffelsee.

1909 hatte Gabriele Münter in Murnau ein Haus erworben, das schnell zum Treffpunkt der Münchner Avantgarde avanciert: Vom nahen Tegernsee kommt August Macke zu Besuch, aus München Paul Klee und von Sindelsdorf am Kochelsee, nur einen Katzensprung von Murnau entfernt, der Maler Franz Marc. Gemeinsam mit den russischen Malerfreunden Alexej Jawlensky und Marianne von Werefkin entwickeln sie ihre Ideen und Vorstellungen der modernen Kunst und verfassen einen Almanach als Programm: der Blaue Reiter. „Diesen Namen erfanden wir in der Gartenlaube am Kaffeetisch“, erinnerte sich Kandinsky später. „Es war ganz einfach: Franz Marc malte Pferde, ich malte Reiter, und beide liebten wir die Farbe Blau.“

In Murnau wird die junge Künstlergarde im „Russenhaus“ argwöhnisch beobachtet. Auch wenn Kandinsky sich zuweilen echt „bajuwarisch“ gibt, in Lederhosen und Kniestrümpfen im Garten werkelt und Treppengeländer und Möbel im Haus mit bäuerlichen Motiven bemalt – die Künstler bleiben Fremde in einer Umgebung, die mit ihrer Malerei nichts anfangen kann. „Diese Verrückten, die Tiere und Wiesen blau malen“, schimpfen die Bauern.

1914, bei Ausbruch des ersten Weltkrieges, ist der Kunstspuk in Murnau vorüber. Die Wege der Künstler trennen sich: Kandinsky kehrt zurück nach Moskau, August Macke und Franz Marc sterben auf den Schlachtfeldern in Frankreich, Gabriele Münter geht wieder auf Reisen – nach Berlin, nach Schweden, nach Dänemark. Kandinsky wird sie nicht wiedersehen. Der aber hat bei seiner überstürzten Abreise aus Deutschland fast alle seine Bilder in Murnau zurückgelassen – mehr als achtzig Gemälde, Skizzen und Zeichnungen. Gabriele Münter wird sie verwahren, eingemauert unter einer dicken Putzschicht im Keller ihres Hauses und damit gut versteckt vor den Nazis, die diese Malerei als „entartete Kunst“ beschimpfen.

1962 stirbt Gabriele Münter, 85 Jahre alt. Von ihrem Grab, etwas oberhalb der Murnauer Kirche, geht der Blick hinüber zu dem Haus, in dem alles angefangen hat – hinüber zu dem Ort, an dem schon Jahrzehnte vor Picasso die Epoche der neuen Kunst begann …

Martin Dziersk

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