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So weit das Land. Hinter dem Hula-Tal erheben sich die auch im Sommer oft schneebedeckten Gipfel des Golan. Foto: mauritius images

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Israel: Golanhöhen: Vögel kennen keine Grenzen

Die Golanhöhen sind ein wichtiges Naturschutzgebiet. Touristen, viele aus Israel, logieren dort – in arabischen Hotels.

Am Muttertag brüllt Nadine Safadi in ein Megafon: „Oma, bist du wieder gesund?“ – „Alhamdu li-Allah – gepriesen sei Gott“ –, ruft eine Stimme zurück über elektronisch gesicherte Zäune und Minenfelder. Nadine Safadi steht am „Tal der Schreie“, wie sie es nennen, an der Grenze zum Niemandsland, ein hundert Meter breiter Streifen. Sträucher wachsen auf kargem Boden, allenfalls UN-Soldaten bewegen sich hier. Die anderen müssen draußen bleiben: Hunderte arabische Familien stehen in einer Reihe mit Nadine auf der israelischen Seite der Golanhöhen, sie alle teilen das gleiche Schicksal. 1967, im Sechs-Tage-Krieg, eroberte Israel den Golan von Syrien, seither trennt der militärisch gesicherte Streifen die beiden Staaten – und seither ist die Familie von Nadine Safadi zerrissen. Ihre Großeltern, Tanten und Onkel leben auf der anderen Seite der Zäune. Klar, heute kann Nadine über das Internet die Kontaktsperren der beiden Staaten überwinden, doch früher blieb den Menschen nur, am Zaun so laut zu schreien, wie sie konnten – zum Muttertag will es die Tradition noch immer so.

Keine zwei Kilometer von dieser Sperranlage entfernt leitet Nadine seit einem Jahr ein riskantes Projekt: das erste Luxushotel für Majdal Shams, das Drusendorf am Dreiländereck Syrien–Libanon–Israel. Was sich nach dem gefährlichsten Ort des Nahen Ostens anhört, ist seit Jahren von Terror und Raketen verschont geblieben – und der schönste Landstrich Israels, findet Nadine Safadi. Mit 25 Jahren hat sie den Job als Managerin bekommen und sich gegen die Männer in ihrer arabischen Gesellschaft behauptet.

„Hier entspringen die Quellflüsse des Jordan und speisen die Wasserfälle. Nirgendwo in Israel ist die Landschaft grüner“, sagt Nadine, sie glaubt an die Zukunft des Hochplateaus im Orient. Frische Luft im schwülen israelischen Sommer, Weingüter, die zum Verkosten des koscheren Rebensaftes einladen. Der Savitan-Fluss hat eine Schlucht in die Felsen gegraben, im Wadi Jehudija laufen Wanderer durch ein mit Eukalyptusbäumen bewachsenes Flussbett.

Nadine Safadi will, dass ihre Heimat sich vom Schlachtfeld von einst endlich in ein „Touristenparadies“ wandelt. Sie arbeitet für die Zukunft des Urlaubsgeschäfts in der israelischen Grenzregion. Genau wie die Israelin Inbar Rubin, Vogelexpertin im Hula-Tal. Eine halbe Milliarde (!) Zugvögel nutzen im Frühling und Herbst das Naturschutzgebiet am Fuße der Golanhöhen. Tausend Pelikane setzen zur Landung an, gleiten dicht über Inbar Rubin hinweg. Die Schwingen der Tiere messen drei Meter. „Du hörst nichts anderes mehr, nur noch, wie ihre Flügel schlagen“, sagt sie.

Das Naturreservat gehört zu den weltweit wichtigsten Rastplätzen der Zugvögel, ein Mekka für Vogelbeobachter und Wissenschaftler. Jetzt bewerben sich Inbar und ihre Kollegen bei der Unesco um den Status als Weltnaturerbe für das Hula-Tal. Sie verteidigen diesen Ort auch im Namen der Europäer, deren Zugvögel auf das Hula-Tal angewiesen sind. „Aber wir brauchen keine Hilfsmittel aus Europa, sondern Europäer, die verstehen, um was es hier geht“, sagt Inbar. Sie möchte, dass Europäer das Hula-Tal besuchen. Vergangenes Jahr kamen 300 000 – jedes Jahr werden es mehr.

Nadine Safadi hat ihr „Narkis Hotel“ mit Kingsize-Betten ausgestattet, in den Schlafzimmern gibt es Whirlpools. „Romantische Räume“ nennt sie das. Ihren Gästen bietet sie das Essen der Araber vom Golan: Ein Hühnchen kocht mit Reis, Gemüse und Gewürzen in einem Topf, dann wird er umgestülpt, fertig ist das arabische Maklube. Wer Nadine Safadis Kultur kennenlernen möchte, den lädt sie zu einer Hochzeit in Majdal Shams ein. Die Männer halten sich an den Händen und laufen und springen zu schnellen arabischen Rhythmen im Kreis.

Nadine Safadis Vier-Sterne-Hotel liegt in der oberen Preiskategorie für Orient-Verhältnisse. Eine Nacht kostet gut 100 Euro. An den Wochenenden ist fast immer ausgebucht – arabische Gäste sind allerdings selten. Nadine Safadi beherbergt weit mehr Menschen aus Tel Aviv oder Jerusalem, die ausreichend Geld nach Majdal Shams bringen können – erstaunlich für ein arabisches Hotel in den besetzten Gebieten.

Streit im Haus hat Nadine nur an einem Tag im Jahr. Dann schließen alle Geschäfte im Dorf, jede Straße, jede Gasse hängt voller Fahnen, die rot-weiß-schwarz gestreift sind, darauf zwei grüne Sterne – es ist syrischer Nationalfeiertag. Israelische Gäste irritiert der Anblick tausender syrischer Flaggen. „Warum feiert ihr denn so einen Unsinn?“, fragt ein Israeli, der in Nadine Safadis Hotel übernachtet. „Weil wir Syrer sind und keine Israelis“, antwortet Nadine. „Aber jetzt lebt ihr hier!“, sagt der Mann – und geht. Bei Loyalität mit dem Feind hört auch die Toleranz vieler Israelis auf, die politisch links stehen.

Dass Syrer und Israelis eines Tages Frieden schließen, ist Nadines Hoffnung – und ihre Angst: In einem groß angelegten Friedensvertrag könnte Israel den Golan wieder an Syrien abtreten. Dass Nadine zur Managerin geworden ist und ihre Haare nicht bedeckt, all das wäre in Syrien für eine Frau schwierig. Sicher wünscht sich Nadine, eines Tages wieder in Syrien leben zu können, „aber dann mit dem gleichen Lebensstil wie hier“. Frieden im Nahen Osten könnte Nadine manche persönliche Freiheit kosten – und ihr Geschäft: Wenn der Golan wieder syrisch wird, muss sie fürchten, dass ihre zahlungskräftigen Israelis das Hochplateau meiden – das Ende fürs Hotel.

Aber sie selbst hat sich auf den Frieden vorbereitet: Die israelische Staatsbürgerschaft hat sie abgelehnt, sie ist staatenlos – das hält ihr den Rückweg nach Syrien offen. Zu groß wäre die Gefahr, als Kollaborateurin in Syrien verfolgt zu werden.

Dieser Zwiespalt zwischen den Vorteilen eines Lebens nach westlichem Vorbild in Israel und der eigenen arabischen Identität macht nicht nur Nadine Safadi, sondern vielen Arabern auf dem Golan zu schaffen. Die Jugend von Majdal Shams hat sich an ein freies Leben gewöhnt und daran, dass Frauen und Männer gleichberechtigt leben.

Der Morgen graut. Inbar Rubin beobachtet eine dünne schwarze Linie über dem Hula-See. Die Linie hebt sich schwingend aus dem Wasser. Es sind zehntausende Kraniche, die sich, nach dem Schlaf im flachen See, auf die Suche nach Futter machen. In Formation fliegen sie auf die Felder. Diese Gelegenheit will Inbar Rubin nutzen und zählt, wie viele Kraniche an diesem Tag im Hula-Tal campieren. Dafür braucht sie zehn Kollegen zur Unterstützung, ihr Rekord liegt bei 41 000 Kranichen an einem Tag.

Bis vor vier Jahren hatte Inbar Rubin wenig Ahnung von Vögeln. Sie war Barkeeperin. Dann kam der Krieg und veränderte ihr Leben: Die westliche Seite des Hula-Tales begrenzen Berge, auf deren Kamm die libanesische Grenze verläuft. 2006 standen diese Hänge mit dem trockenen Gras in Flammen, entzündet von Katjuscha-Raketen, die die Hisbollah abgefeuert hatte. Inbar Rubin musste orten, wo die Raketen gefallen waren, und dann die Löschtrupps zu den Bränden lotsen. In den Pausen hat sie sich um die Soldaten gekümmert: Im Besucherzentrum, dort, wo heute Golfkarts und Mieträder auf Touristen warten, schliefen im Libanon-Krieg Soldaten auf Feldbetten. Inbar hat angepackt, Essen gekocht und verteilt, zur Ablenkung Robbie-Williams-CDs gespielt.

Das hat dem Manager des Hula-Parks gut gefallen. „Inbar, bleib doch hier“, hat er gesagt – und sie tat es. „Wollen wir einfach nur überleben, oder wollen wir ein wirklich gutes Leben?“, fragte sie sich. Jetzt, so glaubt sie, hat sie es gefunden. Und will es an Besucher weitergeben. „Ich nehme das, was die verrückten Profi-Vogelbeobachter sehen, die elf Stunden auf einen Schreiadler warten, und übersetze es für normale Leute.“ Dann steigt Inbar Rubin auf den Traktor, der eine in Tarnfarben gestrichene Tribüne zieht. Damit können Touristen bis auf zehn Meter an die Vögelschwärme heranfahren.

Warmer Herbstwind streicht durch Nadines schwarze Haare, als sie sich auf die Zehen stellt und im Kreis dreht. Sie streckt ihre Hand aus, zeigt auf ein Häusermeer in der Ferne, die syrische Hauptstadt Damaskus. In der anderen Richtung, über den Libanon hinweg, deutet sich das Mittelmeer am Horizont an, hier liegt Beirut, gen Süden kann Nadine Tel Aviv erahnen. „Und sie alle kämpfen um uns“, sagt sie.

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