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Nevada: Highway zum Gold

Das Grenzland zwischen Nevada und Kalifornien steckt voller Geschichten: Häuser und Saloons sind so prächtig wie damals.

Kerzengerade steht der schnauzbärtige Mann vor dem langen Holzsteg, im beigefarbenen Anzug, die Zigarre in der rechten Hand. Hinter ihm hat soeben der große Schaufelraddampfer angelegt. Das wuschelige, beinahe weiße Haar wird von der frischen Brise, die vom Lake Tahoe hereinkommt, zerzaust. „Willkommen an Bord der ,Tahoe Queen‘“, sagt er. „Mein Name ist Mark Twain, ich freue mich, dass Sie heute unsere Gäste sind.“ Ein Gentleman der alten Schule: Der Anzug, die braune Fliege, die höflichen Gesten – sie scheinen aus einer längst vergangenen Zeit zu stammen.

So wie er selbst. Er spielt die Rolle perfekt. Wüsste nicht jedes Kind in den Vereinigten Staaten, dass sich der Tod eines der bedeutendsten Schriftsteller ihres Landes im kommenden Jahr zum hundertsten Mal jährt, man möchte meinen, Mark Twain höchstpersönlich stehe dort. Das Ambiente passt. Der alte Schaufelraddampfer wird die Passagiere auf eine Rundfahrt über den Lake Tahoe mitnehmen, der genau auf der Grenze zwischen Nevada und Kalifornien liegt. Die schneebedeckten Bergspitzen des nordöstlichen Endes der Sierra Nevada erinnern daran, dass der Lake Tahoe ein Gebirgssee ist, auf knapp 1900 Metern Höhe einer der höchstgelegenen Nordamerikas.

Am Ostufer schlängelt sich der Highway 50 durch die hügelige Landschaft. Einst für die berittene Briefträgerstaffel Pony Express angelegt, gilt der Highway heute noch als einer der einsamsten Amerikas, auf dem man von Kalifornien bis Maryland an der Ostküste das gesamte Land durchkreuzen kann.

Auf dieser Straße soll auch Samuel Clemens, noch bevor er zum Schriftsteller Mark Twain wurde, kurz nach dem Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkriegs 1861 mit seinem Bruder von St. Louis/Missouri gen Westen geflüchtet sein. So beschreibt er es später in „Roughing it“ („Durch dick und dünn“, 1871). Die beiden Brüder allerdings bogen noch vor Erreichen des Lake Tahoe in Richtung Norden ab und landeten in Virginia City, der eben erst gegründeten Goldgräberstadt. Die Hoffnung auf schnellen Reichtum brachte tausende Goldsucher und Händler in den eher gottverlassenen Ort. Schnell wuchs die Bevölkerung auf 26 000 Menschen an.

Samuel Clemens buddelte hier vergeblich, doch „viele fanden, was sie suchten“, erzählt Chris Kiechler. Er führt Touristen durch die Chollar Mine, eine der alten Gold- und Silberminen im Süden der Stadt. „Die Goldgräber verdienten nur vier Dollar am Tag, doch für 25 Cent erhielt man bereits ein komplettes Abendessen.“

Der Reichtum überschwemmte Virginia City, das bald „the richest place on earth“ genannt wurde, der reichste Ort der Welt. Gelbes Edelmetall für geschätzte 700 Millionen US-Dollar wurde hier im Laufe von 25 Jahren abgetragen. Dann war Schluss.

Es war in Orten wie Virginia City, wo der Mythos des Wilden Westens geboren wurde, so wie ihn der Bundesstaat Nevada noch heute eifrig pflegt. Die karge Umgebung liefert den richtigen Schauplatz. Kaum eine Pflanze kann in der trockenen Hitze überleben, lediglich verschiedene Pinienarten wechseln sich mit dem Sagebrush (Wüstenbeifuß) ab, eines der Wahrzeichen Nevadas.

Fährt man auf der Innerstate 341 von Nevadas Hauptstadt Carson City ins auf 1896 Metern gelegene Virginia City, so zeugen an den Rändern der Serpentinen zahlreiche gräuliche Bäume von den vielen Feuern in der Gegend. Bisweilen kreuzen Wildpferde die kurvige Straße, auf der auch schon mal Fahrzeuge abstürzen.

Der Ort selbst steht heute unter Denkmalschutz. Doch Virginia City ist keine der sogenannten Geisterstädte: Rund 1100 Menschen leben hier, und sie alle pflegen das „Step back in time“-Image. Um die Saloons ranken sich Legenden. Im „Bucket of Blood“ soll früher jeden Morgen ein Eimer voll Blut vom Boden gewischt worden sein, während sich gegenüber im „Delta Saloon“ Glücksspieler nach einer verlorenen Partie am „Suicide Table“ reihenweise das Leben genommen haben sollen.

In manchen der im Stil der viktorianischen Epoche restaurierten Häuser erinnern silberne Decken oder vergoldete Accessoires an die Zeit des überschwänglichen Wohlstands in Virginia City. „Die Arbeit aber, die diesen Wohlstand brachte, war knochenhart. Das hielten nicht viele durch“, erzählt Chris Kiechler. „Es war so heiß da unten, dass man Eis herunterbrachte, um die Arbeiter zu kühlen. Und das lediglich im Schein tausender Kerzen.“

Für Samuel Clemens war diese schwere körperliche Arbeit in der Goldmine nichts. So kam es, dass er die Geschichten aus den Minen und den Saloons der Stadt aufschrieb. Er veröffentlichte die ausgeschmückten Erzählungen in der lokalen Zeitung, der „Territorial Enterprise“. Clemens wurde bald Chefredakteur, später kaufte er die Zeitung, deren Gebäude heute auf der Hauptstraße von Virginia City ebenfalls zu besichtigen ist. In dieser Zeitung benutzte Samuel Clemens 1863 erstmals das Pseudonym Mark Twain, unter dem er später die Kinderbücher „Tom Sawyer“ und „Huckleberry Finn“ verfasste.

McAvoy Layne kennt alle Geschichten auswendig. Rund 50 Kilometer südwestlich von Virginia City hat der Schaufelraddampfer inzwischen abgelegt, und Layne erzählt in seiner Rolle als Mark Twain von der Zeit im Wilden Westen. Seit mehr als 20 Jahren macht der 65-Jährige nichts anderes, als Mark Twain darzustellen. „Er ist ein Teil von mir“, sagt Layne, und seine Kollegen sagen, dass sie manchmal nicht mehr wissen, ob er gerade der Schriftsteller ist oder er selbst, der Schauspieler und Geschichtslehrer. Layne erzählt, wie ihm 1975, eingeschneit in einer gemieteten Hütte am Ostufer des Lake Tahoe, die Decke auf den Kopf fiel. „Da stand eine Gesamtausgabe von Mark Twain“, sagt er. Layne begann zu schmökern. Zehn Jahre später hatte er die gesamten 18 000 Seiten, die Mark Twain hinterlassen hat, gelesen. Es war der Beginn einer Leidenschaft, die Layne als „Berufung“ beschreibt. „Ich will den Menschen erzählen, wie das Leben Ende des 19. Jahrhunderts im Westen war.“

Als Mark Twain verkleidet, fährt er mit den Besuchern über den Lake Tahoe, erzählt mit seiner angenehm ruhigen Stimme Geschichten von Benjamin Franklin und den ersten Bibliotheken Amerikas. Gemeinsam mit drei anderen Schauspielern führt er von Mai bis September jeden Tag zweimal die Tour auf der „Tahoe Queen“, dem Schaufelraddampfer. Die Figuren Bat Masterson, ein Sheriff und Revolverheld, Julia Bullete, die ein Freudenhaus in Virginia City besaß, und Captain Dick Barter, der erzählt, wie ihm in der Sierra Nevada die Zehen abgestorben sind, und diese in einem kleinen Säckchen mit sich herumträgt, liefern den Besuchern auf dem Dampfer eine unterhaltsame Show. Selbstverständlich endet sie mit dem obligatorischen Pistolengefecht.

Trotzdem bleibt genug Zeit, die Schönheit des Lake Tahoe zu bestaunen. Das tiefblaue Wasser des Sees, das von 63 verschiedenen Gebirgsbächen und -flüssen gespeist wird, ist nicht nur eiskalt (nur die ganz Mutigen wagen sich zum Baden hinein), sondern auch so klar, dass man vom Ufer aus weit bis auf den Grund sehen kann. Natürlich liefert der gut 500 Meter tiefe See reichlich Stoff für Legenden und Gruselgeschichten. Ein Ungeheuer wie das schottische Nessi – genannt Tessi – soll dort sein Unwesen treiben. Taucher, die sich hinunter gewagt haben, berichten hingegen von Leichen, die durch die Kälte perfekt konserviert wurden.

Abwechslungsreich zeigt sich die Landschaft. Pinien und Büsche weißer Bärentrauben wechseln sich auf den Bergen ab, am Ufer des Sees beherrschen Kiefern das Bild, körniger Sand bildet manch formidablen Strand. Hier erinnert nichts mehr an die triste Wüste Nevadas.

Auch McAvoy Layne ist täglich aufs Neue beeindruckt von der Schönheit des Sees. Zum Abschied steht er wieder als Mark Twain auf dem Steg und winkt den Besuchern galant hinterher. Die werden ihn so schnell nicht vergessen. Der Dichter, auch wenn er in Wahrzeit längst gestorben ist, gehört in diese Region.

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