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Schafe im Glück. Auf Pellworm wächst nahezu überall Gras. Auch dort, wo insbesondere Kinder den Strand vermuten – direkt am Wasser. Den vielen Bauern der Insel ist es allerdings recht.

© Bildagentur Huber, picture alliance

Nordfriesland: Tausend Perlen im Watt

An Pellworm ziehen die Touristenströme vorbei. Das bekommt der Nordseeinsel gut. Denn so fühlen sich die Stammgäste wohl.

In der Nacht, als sich das Gestänge verdächtig neigt und die Plane mächtig beult, Blitze grell zucken und der Himmel brüllt, da schlüpft er dann doch unter das feste Dach seiner Schwester im Haus nahebei. Dabei bringt den passionierten Camper so schnell nichts aus der Ruhe. 15 Jahre lang hatte Uwe Görl, mehr geduldet als gestattet, im Norden der Insel gezeltet. Nun gehört der Berliner allerdings zu den Ersten, die den neu eröffneten Insel-Zeltplatz unweit der Alten Kirche nutzen.

Zur Orientierung: Pellworm. Nordsee. Höhe Husum. Leise, grün, entschleunigt. Tatsächlich liegt die kleine nordfriesische Insel etwas ab vom Schuss und dem Bewusstsein vieler Urlauber. Selbst in einschlägigen Magazinen kommt der kleine Fleck im Wasser kaum vor. Die großen Ferienströme, die sich alljährlich sommers in die dem norddeutschen Flachland vorgelagerte Inselwelt ergießen, ziehen weitgehend an Pellworm vorbei. Zu bieder mag dem einen oder anderen das Eiland vorkommen, nicht herzlich wie Föhr, nicht mondän wie Sylt, und längst nicht so sandig wie Amrum.

Die Fähre benötigt 35 Minuten von Strucklahnungshörn bis zum Tiefwasseranleger. Mit 37 Quadratkilometern ist Pellworm etwas kleiner als Berlin-Mitte, hat jedoch nur 1000 Einwohner. Einen Meter unter dem Meeresspiegel gelegen, gibt es hier eine Zentralschule für 150 schulpflichtige Kinder, eine Ampel, einen Shantychor und einen rot-weiß geringelten Leuchtturm von 1907, den alljährlich zahlreiche Paare zur Vermählung ansteuern.

Acht Meter hoch und 28 Kilometer lang ist der Seedeich, der Pellworm vom Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer abschottet und ein bedächtig-beschauliches Inselleben umfängt. Dessen Normalität macht den Erholungswert namentlich für Familien mit kleineren Kindern und für sogenannte Best Ager, also Menschen in den besten Jahren, aus. Alles erscheint aus bodenständigem Guss, kaum ein touristischer Komplex irritiert.

Auch das „Wattenmeercamping“, das die gebürtige Pellwormerin Karin Kobauer nach 30 Jahren leitender Tätigkeit im „Rauhen Haus“ in Hamburgs (Noch-)Problemstadtteil Wilhelmsburg aufgezogen hat, fügt sich hier ein. Zwölf Stellplätze für Wohnmobile und Caravans bietet die Anlage, dank EU-Förderung alles neu mit Strom- und Wasseranschluss. Sanitäreinrichtungen befinden sich im benachbarten „Wattenmeer-Haus“, vom Land Hessen lange Jahre als Schullandheim geführt, bis es sich nicht mehr rechnete. Seit 2011 ist hier auch die Schutzstation Wattenmeer untergebracht. Und ein Verein betreibt die „Kinnerstuv“, wo von April bis Oktober Kinder zur Ferienzeit basteln und spielen können, während den Eltern im Café nebenan Torte serviert wird. Im Obergeschoss gibt es noch eine Ferienwohnung für bis zu sechs Personen sowie eine „Bed & Bike“-Unterkunft.

Ingrid Ludwig samt Mann aus Bayern haben ihr grünes Wohnmobil fehlender Ausschilderung zum Trotz zielsicher auf den Zeltplatz gesteuert. Der brachte es im Premierenjahr 2012 auf 200 Personen mit 900 Übernachtungen. Das gewünschte Kontrastprogramm zu „den Bergen vor der Tür“ findet das süddeutsche Paar hier allemal: Nicht mal ein Hügel stellt sich in den Weg, kein Anstieg trübt entspanntes Radfahren; der Wind zur Kühlung weht beständig von vorn auf Pellworm.

Für Ornithologen ist die Insel ein wahres Dorado. Brand- und Graugänse, Seeschwalben, Pfuhlschnepfen, Säbelschnäbler, Rotschenkel, Löffler, Kiebitzregenpfeifer und viele andere mehr entgehen auch dem ungeübten Auge nicht. Es sind riesige Vogelschwärme, die vorwiegend in den Monaten April / Mai und August / September hier Zwischenstation machen – darunter mit den Ringelgänsen auch solche, denen die örtliche Landwirtschaft in Sorge um das Saatgut hier und da mit Heuldrähten begegnet. Dazu unzählige Möwenarten und Austernfischer, die gern auch mal einen Angriff auf jene fliegen, die ihrem Gelege zu nahe kommen.

Eine Insel am Scheideweg

Pellworm – nur ein Klecks im Nationalpark Wattenmeer.
Pellworm – nur ein Klecks im Nationalpark Wattenmeer.

© Gerhard Launer, picture alliance

„Nach Pellworm“, sagt Manuela Ohrt, „kommt man ein Mal und nie wieder – oder immer wieder.“ Im Inselinneren betreibt die Landfrau einen Laden mit Holzspielzeug aus eigener Werkstatt und maritimem Tüdelkram „Made in China“, den es auch in jenen Klamottenläden auf der Insel gibt, wo dem entspannten Urlauber das Sonderangebot gerne 30 Euro mehr wert ist als zum Normalpreis zu Hause. Hier fahnden auch die Kinder von Mick Jürgensen und Ute Bankwitz aus Hamburg nach Mitbringseln. Die Familie hat längst einen Narren an Pellworm gefressen.

Fünf Mal war sie bislang hier. Die Eltern schätzen es, dass sie die Kinder „hier bedenkenlos von der Leine lassen“ können. Keine Sorgen machen sie sich, wenn Bela, Nino und Jasper zum Deich oder zum Reiterhof radeln. Auf den Straßen geht es auch dann ganz unaufgeregt und rücksichtsvoll zu, wenn Traktoren und Mähdrescher rollen.

Mit ihrem Acht-Meter-Reisebus, 1993 zum Wohnmobil umfunktioniert, waren Annette Wolf und Thomas Kurth aus Burgwedel auch dieses Jahr zu Ostern wieder die ersten Gäste am „Wattenmeer-Camping“. Auf 25 Quadratmetern gasbeheizter Wohnfläche hält man es gut aus, wenn der Frühling nicht so will, wie er soll. Die beiden „lieben diese Übergangsphase, wenn die Natur draußen noch unentschieden ist“. Für sie ist es die schönste Jahreszeit in der Welt des Watts.

Es ist das bescheiden Unspektakuläre, die fast natürliche Zurückhaltung, das so Unprätentiöse, das für Pellworm einnimmt. Ihre Reize gewinnt die Insel ohne Inszenierung, ganz ohne Disneyland, nur aus sich selbst und den Potenzialen ihres Umfelds. Und das bietet sich reichlich: begleitete Wattwanderungen, ein Besuch auf einer der nahe gelegenen Halligen, Südfall oder Oland etwa, Fahrten zu den Seehundsbänken; bizarr fast, auf einer der wüstengleichen Sandbänke das Gefühl unendlicher Weite und Verlorenheit zu kosten.

Außerdem erzählen kleine Museen auf der Insel die Geschichte der Pellwormer Schifffahrt oder die von Rungholt, jener in den Sturmfluten des 14. und 17. Jahrhunderts untergegangenen Stadt. In „Beates Wollkiste“ in der Liebesallee sind fröhliche Stricknachmittage anberaumt; Ilse Mehlbauer leitet die jüngeren Besucher an, mit einem alten Laminiergerät von Tchibo Lesezeichen anzufertigen. Und: Es wird vorgelesen, gewandert, geradelt, gebastelt; gesammelt werden Muscheln, Krebse, Federn, Wollflusen, Strandgut. Und es wird beobachtet: Wer sehr viel Glück dabei hat, sieht auch mal die Finne eines Schweinswals. Begünstigt all das in der Regel von angenehmem, nie übermäßig heißem Sommerwetter.

Am grünen Deich, wo zwischen Schafherden vereinzelt Strandkörbe stehen, genießt der Städter die Fülle der Zeit, den Blick auf das mit herannahender Flut fast unmerklich zuperlende Watt gerichtet. Ein Rhythmus im Wandel der Gezeiten. „Das Meer“, sagt Andreas Kobauer, seit 2009 Kurdirektor auf Pellworm, „ist hier grau oder es ist weg.“

1990 gründete sich auf der Insel der „Verein Ökologisch Wirtschaften! e. V“. Sieben Jahre zuvor ging im Inselinneren ein Hybridkraftwerk ans Netz, das aus Sonne, Wind und Biomasse unterdessen 240 000 Kilowattstunden pro Jahr gewinnt. Fast zehn der rund 60 Bauernhöfe auf der Insel wirtschaften ökologisch, einer verkauft freitags seine Produkte auf dem Markt am Hafen. Sichtbare Anzeichen für eine deutliche Prägung der Insel, etwa für eine Ausrichtung auf klimaneutralen Tourismus, wie ihn andere Inseln schon beschreiten, gibt es auf Pellworm gleichwohl nicht.

Überhaupt, so hat es den Anschein, steht die Insel an einem Scheideweg, wohin sie sich touristisch entwickeln will: Verbleib in der Nische unaufgeregter Selbstgenügsamkeit oder Aufbruch zu neuen Ufern? Ob die sechs „exklusiven Ferienhäuser mit Reetdach“, die in der Insel-„Hauptstadt“ Tammensiel entstehen sollen, von einer Richtungsentscheidung künden, bleibt abzuwarten. Der Mangel an touristischer Infrastruktur auf Pellworm, den mancher beklagt, ist andererseits ein Vorteil, hat der Insel bisher ihre Eigenheiten bewahrt, sie vor den Folgen des gängigen Massengeschmacks geschützt.

Stefan Woll

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