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© laif

Neuseeland: Napir: Schätze in Pastell

Alles wie aus einem Guss: Die neuseeländische Stadt Napier gilt als weltweit schönstes Beispiel für den Art-Déco-Stil.

Man mag seinen Augen kaum trauen: Haben wir uns vertan in Raum und Zeit? Verirrt auf den falschen Kontinent und verlaufen in die 1930er Jahre? Wieso gibt es am Ende der Welt, im hintersten Neuseeland, so eine pastellfarbene Wundertüte, in der ein fast hundert Jahre altes nordamerikanisches Architekturdesign steckt? Oder dieser spanische Missionsstil, den man aus Kalifornien kennt? Seltsame geometrische Formen, stilisierte florale Muster, ägyptische Motive und sogar Elemente aus den Bildsprachen der mittelamerikanischen Maya und der einheimischen Maori? Und davon nicht etwa nur ein paar mühsam zu findende Beispiele, sondern wie auf dem Präsentierteller gleich eine ganze Stadt mit kompletten Straßenzügen und Hunderten von Gebäuden. In der gearbeitet wird und eingekauft, wo man ausgeht und diniert, sich mit Freunden trifft und amüsiert. In der ihre Bewohner also stinknormal leben und die folglich nichts weniger ist als ein gigantisches Open-Air-Museum.

Der Besucher darf staunen über das weltweit einmalige Art-Déco-Wunder von Napier, das selbst den berühmten Art-Déco-Distrikt von Miami South Beach in den Schatten stellt.

Mathilda Schorer ist Fachfrau für Antworten. Die Schwäbin, vor 20 Jahren einem Neuseeländer aus Liebe auf seine Farm in der Nähe von Napier gefolgt, ist Mitglied des Art Déco Trust. Dieser kümmert sich seit den 1980er Jahren um den Erhalt und Denkmalschutz des einzigartigen Ensembles und unterstützt zum Beispiel Ladenbesitzer finanziell bei der möglichst originalgetreuen Restaurierung von Fassaden und Details. Deutsche Gäste begleitet Mathilda je nach Wunsch auf ein- bis mehrstündigen Spaziergängen durch Napiers Innenstadt, für uns hat sie einen unvergesslichen halben Tag Zeit.

Zunächst einmal aber gibt es Kaffee und Fakten zum Thema. Anfang des 20. Jahrhunderts wird mit dem Namen Art Déco ein neuer dekorativer Stil bezeichnet, der sich Mitte der 1920er Jahre weltweit etabliert und zum Inbegriff wird für die Gestaltung von Architektur, Innenräumen und Industriedesign. Art Déco symbolisiert den neuen Geist dieser Periode, die gekennzeichnet ist von revolutionären Entwicklungen in Wissenschaft, Technik und Maschinenbau, der wachsenden Emanzipation der Frauen und der Überwindung überkommener Konventionen.

All das findet sich wieder in entsprechenden Symbolen: Für Kraft und Geschwindigkeit steht der gezackte Blitz, für Freiheit und das anbrechende neue Zeitalter etwa der springende Hirsch. Die moderne Frau wird oft als elegante Tänzerin dargestellt und als wahrscheinlich bekanntestes Motiv taucht immer wieder die aufgehende Sonne auf. Funktionalismus und Jugendstil verschmelzen zu klaren eleganten Formen. Verwendung finden ungewöhnliche geometrische Muster, das enorme Interesse an alten Kulturen manifestiert sich in der Entlehnung des Designs von Ägyptern, Maya und Azteken.

Dass Napier, idyllisch gelegen übrigens am Fuß des Bluff Hill in der sanften Krümmung der Hawke Bay, sich heute rühmen kann, das weltweit schönste Stadt-Ensemble dieser Art zu besitzen, ist paradoxerweise der schlimmsten Naturkatastrophe in der überlieferten Geschichte Neuseelands zu danken: Am 3. Februar 1931 nämlich legte ein Erdbeben mit gewaltigen 7,8 auf der Richterskala die gesamte Innenstadt blitzartig in Schutt und Asche.

Doch – oh Wunder – im Frühjahr 1933 schon war Napier wieder auferstanden. Der einheimische Architekt Louis Hay hatte die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und in nur zwei Jahren die modernste, stilistisch uniformste und zugleich erdbebensicherste Stadt der Welt aus dem Boden gestampft. Und das obendrein während der schlimmsten Weltwirtschaftskrise.

Mathildas kurzem Grundkurs in Art-Déco- und Stadtgeschichte folgt der ausgiebige Rundgang durch das gitternetzartig angelegte Geschäftszentrum. Erster Stopp am Städtischen Theater von 1938. Ein Gebäude mit ägyptisch anmutenden Säulen und Bögen, originalen Glastüren und schönen Nymphen im Foyer. Der Clou – die Beleuchtung im großen Saal: Alle paar Sekunden ändern sich die Neonfarben des großen Deckenlichts wie bei einem Chamäleon.

In der Tennyson-Street ist der Straßenname ins Pflaster eingelassen. „Das war damals überall so“, erklärt Mathilda, „weil Stromkabel und Telefonleitungen nach dem Erdbeben unterirdisch verlegt wurden und es damit auch keine Masten zum Anbringen von Schildern mehr gab.“ Heute sind noch zwei dieser originalen Schilder erhalten.

Unser Streifzug führt uns zunächst weiter zu den wichtigsten Art-Déco-Schätzen: dem Daily-Telegraph-Gebäude von 1932 mit stilisiertem Brunnen als Krönung der Stützpfeiler. Ebenfalls 1932 entstanden das Masonic- und das Criterion-Hotel. 1936 wurde das T & G Building errichtet, dessen Kuppelbau Napiers Wahrzeichen an der Marine Parade ist, der Flaniermeile am Meeresufer, mit Park und Brunnen aus der gleichen Zeit. Die ASB-Bank wiederum zeigt innen wie außen die schönsten Beispiele für Maori-Dekor und -Schnitzarbeiten.

Auf Schritt und Tritt ziehen uns Häuser und Details in ihren farbenprächtigen Bann. Der Balkon eines einstigen Kinos ist spanischer Missionsstil in Reinkultur, gezackte Friese und ungewöhnliche Fenster zieren das Kidson Building. Die Fassade des Crombie-Lockwood-Hauses ist dekoriert mit Pflanzen- und Farnmustern im Maya-Stil. Ägyptisch anmutende Lotuskapitelle mit Falkenemblem an den Säulen, Sonnenaufgänge und Zickzack-Rahmen um die Fenster wiederum machen das in Weiß und sanftem Rosa gehaltene Hotel Central zu einem herausragenden Art-Déco-Beispiel.

Manch anderes sehen wir nur dank Mathilda und ihres riesigen Schlüsselbundes, das Zugang verschafft zu versteckten Perlen: Glastüren, Spiegel, Bilder, Neonlichter. Manches war jahrelang verschollen, wie zwei prächtige, herrlich geschwungene Türgriffe, „die wir irgendwann per Zufall bei jemandem entdeckten, der sie ahnungslos in sein Gartenhaus eingebaut hatte“.

Die letzten Art-Déco-Meter legen wir standesgemäß zurück: Der rot-schwarze Buick mit den Weißwandreifen – ein Traum jedes Oldtimer-Fans – chauffiert uns im Schritttempo zurück zum Art Déco Centre, das – wie könnte es anders sein – ganz stilecht untergebracht ist: in der ehemaligen Feuerwehrstation.

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