Reisetagebuch Tag 10: In den Klauen Neptuns
Das Wetter macht sich gut, viel Wind in den Segeln. An Deck rollende Teller und die unvermeidliche Taufe; für abends ist ein Krimi-Dinner angesagt. Tag 10 im exklusiven Bordtagebuch von Reinhart Bünger.
Tag 10, Sonntag, 11. Dezember 2011
5.15 Uhr Bordzeit.
In der Nacht zum Sonntag sind wieder die Uhren um eine Stunde zurückgestellt worden. Da kann man doch schon mal – gegen alle Gewohnheit – eine Stunde eher aufstehen, frische Luft schnuppern und nachsehen, ob die Wellen immer noch so schön rollen.
5.30 Uhr
Das Duschwasser läuft sich in den Rohren nur langsam warm.
5.45 Uhr
Ein Blick aus dem Bullauge: Wird gut heute. Schöner Wellengang, viel Wind in den Segeln.
5.50 Uhr
Das Frühaufsteher-Frühstück rollt an. Mitglieder der Crew bringen die ersten Croissants an Deck. Die fünfköpfige Runde früher Vögel freut sich jedoch vor allem auf frischen Kaffee.
6.06 Uhr
Zeit für den Sonnenaufgang. Nichts zu sehen am Horizont – außer ein paar Strahlen. Zu viel Dunst und Nebel.
6.12 Uhr
Kaffee!! Die Crew ist wirklich auf Zack. Offiziell öffnet das Open-Air-Café für Frühaufsteher nämlich erst um 6.30 Uhr.
6.30 Uhr
Mal sehen, was auf der Brücke los ist. Der 1. Offizier hat seit 4 Uhr wieder Dienst. Just misst er den Wind.
7.30 Uhr
Startschuss fürs Frühstücksbüfett im Restaurant auf dem Panoramadeck. Eier mit Speck, Rührei, frisch geschnittene Früchte und frisch gepresster Orangensaft. Der Tag beginnt ein zweites Mal.
8 Uhr
Arbeitsbeginn für den Rest der Crew. Erst einmal die Segel setzen, die am Vorabend eingeholt wurden. Dann: raustreten zum Messing putzen und Rost klopfen.
8.31 Uhr
Einige Passagiere bewegen sich zur ersten Erholungs- oder Lesepause zu ihren Lieblingsplätzen. „How are you this morning?“ ist hier, „Einen guten Morgen!“ dort an Deck zu hören. Die Sonne brennt die Nebelstreifen nieder.
9.30 Uhr
Die Passagiere sind auf dem Lido-Deck fast vollzählig versammelt und erwarten gespannt das Wetter-Briefing. Bleibt alles so wie es ist – sonnig, warm und windig. Eine leichte Jacke darf aber doch zur Hand sein. Nach 20 Minuten Briefing durch den 1. Offizier Rückkehr zurück an die Lieblingsplätze. Jetzt: Sonnencreme auftragen und gut verteilen. Manche Nase pellt schon. Einige Gesichter bekommen tüchtig Farbe. Nicht immer die gewünschte.
Mittagsstunde auf der Sea Cloud? Siesta sieht anders aus...
11 Uhr
Die angekündigte Segelkunde mit dem 1. Offizier wird kurzfristig abgesagt. Schade eigentlich. Auf der Brücke soll im Moment sehr viel zu tun sein. Das vorgesehene Frage- und Antwort-Spiel zwischen Passagieren und Schiffsführung soll am nächsten Tag nachgeholt werden. Leichte Enttäuschung.
12.00 Uhr
Das Mittagsbüfett wird angerichtet. Das Servicepersonal ist nicht zu beneiden. Alle Speisen und Getränke müssen über das Hauptdeck und hinauf auf das Lido-Deck getragen werden. Einen Aufzug gibt es im hinteren Teil des Schiffes offenbar nicht. Die Kombüse liegt mittschiffs. Die Kellner tragen alles, und alles mit Fassung.
12.30 Uhr
In die Eröffnung des Mittagsbüfetts platzen mehrere Teller, die beim Rollen des Schiffes ihre Position auf dem Büfett verlassen haben und zu Boden gehen. „Put them over there“, ruft Hoteldirektor Simon Kwinta der Servicecrew zu. Es werden kleinere Tellerstapel auf einem anderen Tisch geschichtet. Schnell noch eine Tischdecke, damit nichts rutscht.
13.20 Uhr
Tja, also irgendwas machen die in der Bordküche ja richtig. Richtig gut war alles wieder. „Noch einen Kaffee oder einen Espresso?“ So könnte es zu Hause weitergehen. Ob meine Frau sich umstellen kann? Nun hat der Wind aufgefrischt. Müssen wir schon zurück in die Kälte? Na ja, erst mal den Kaffee. Gott-sei-Dank sind es noch sieben Tage bis zur Ankunft in Antigua. Wie oft wir wohl noch die Uhr zurückstellen? Die Frau eines alten Fahrensmanns äußert ihre Besorgnis, dass dieses Bordtagebuch aus dem Internet verschwindet, sobald das Schiff angekommen ist. Keine Sorge, es bleibt noch eine ganze Weile stehen.
14.02 Uhr
Auf dem Promenadendeck werden Feuerwehrschläuche an rote Rohre angeschlossen. Ja Himmel, schon wieder Alarm?
14.05 Uhr
Nein, das kann keine Übung sein. Da kommt ja Günter, der Transatlantikfahrer, der die Überfahrt auf der „Sea Cloud“ schon 19 Mal gemacht hat. Er trägt einen Dreizack bei sich. „Der alte war besser“, sagt er. Ach ja, heute mimt Günter den Neptun. Um 15 Uhr ist die Atlantiktaufe angesetzt. Deshalb ist auf dem Vordeck so viel los. Schade, dass der alte Neptunstab beim Werftaufenthalt der „Sea Cloud“ im Frühjahr in Bremerhaven verloren gegangen ist, obwohl wir nicht wissen, warum der besser gewesen sein soll.
14.55 Uhr
Brücke und sogenanntes Monkeydeck füllen sich mit Publikum. Die Crewmitglieder, die das mitmachen müssen, sind nicht zu beneiden. Wissen die Passagiere, die freiwillig auf dem Vordeck angetreten sind, eigentlich worauf sie sich da einlassen? Sie werden auf dem 5-Sterne-Schiff Exerzitien ausgesetzt, wie man sie sonst nur aus dem TV-„Dschungelcamp“ kennt. Möchte man da mitmachen? Nein! Möchte man da zusehen? Jaaaa!
15.02 Uhr
Neptun Günter betritt die Bühne, an seiner Seite eine schöne Amerikanerin. Auch sie kommt aus dem Reich der Tiefe, verkleidet als Thetis, Neptuns Ehefrau. Schon geht’s los. Eijeijei – wie schön kann Schadenfreude doch sein. Die Novizen, die heute getauft werden – ein gutes, demnächst dreckiges – Dutzend stehen schlotternd vor dem Klüverbaum. Neptuns Helfer reichen Günter einen toten Fisch.
15.10 Uhr
Ein weibliches Crewmitglied sucht ihr Heil in der Flucht Richtung Heck. Sie möchte nun doch nicht mitmachen. Simon Kwinta, der einen Piratenkapitän mimt, ruft kehlig: „Go and get her.“ Mitglieder der Mannschaft tragen die junge Frau zurück auf das Vordeck. Es geht los.
15.16 Uhr
„Stay away from those who stir around the fire hose” (Bob Dylan) Geh denen mit dem Feuerwehrschlauch aus dem Weg – selbst Impressario und Hotel-Direktor Simon Kwinta fängt sich eine volle Breitseite Wasser ein.
15.22 Uhr
„Oh, das hatte ich schon alles vergessen“, sagt ein Passagier zu seiner Frau. Ihm geht es ganz anders als „Sea Cloud“-Hausdame Katja Knopp, die schon zum vierten Mal auf „Sea-Cloud“-Schiffen gute Miene zu Neptuns bösem Spiel macht. „Man gewöhnt sich irgendwie nicht dran“, sagt sie. Wie auch? Neptun Günter lässt sich von den Novizen die Füße küssen, schlingt ihnen dann zum Dank den toten Fisch um den Hals. Die Schuppen des Tieres bleiben in den Haaren der Täuflinge kleben.
Sie müssen auch noch etwas Seetang essen. Und schon geht es weiter auf dem Parcours. Der Feuerwehrschlauch füllt einen Plastiksack mit Wasser, der von Neptuns Vasallen an beiden Enden zugehalten wird. Durch diese hohle gleichwohl wasserreiche Gasse müssen sie kriechen. Um sich schließlich auch noch rohe Eier um die Ohren schlagen zu lassen. Das volle Programm. Und ganz Aufmüpfige bitten gar um eine weitere Ladung. Mancher fürchtet schon, zum Frühstück morgen könne es nicht ausreichend Eier geben.
Eine Holzbank markiert die letzte Station. Hier werden die armen, auf den Planken liegenden Täuflinge mit Suppenlöffeln voll ekelhaften Zeugs übergossen. Endlich, endlich dürfen sie sich in einem improvisierten Becken waschen. Darin hatte vorher zwar der tote Fisch gedümpelt. Doch das ist jetzt wurscht. Zum Abschluss verabreicht die Schiffsärztin den nun Getauften einen Schluck aus einem Drainage-Beutel mit gelblich-brauner Flüssigkeit. Apfelsaft? Hoffentlich. Könnte aber auch etwas anderes sein. Wasser ist es jedenfalls nicht.
15.52 Uhr
„Das haben die schon entschärft“, bemerkt Lektor Erich Übelacker. Ist da ein Hauch von bedauerndem Unterton zu hören? Gelegentlich seien bei diesem Zeremoniell zu früheren Zeiten Verletzte zu beklagen gewesen.
16.10 Uhr
Seit zehn Minuten gibt es Kaffee und Kuchen. Das Vordeck wird aufgeräumt. Ob es heute Abend den Fisch gibt?
Sonnenuntergang, Cocktailstunde, Krimi-Dinner und mehr...
16.50 Uhr
In fünf Minuten geht die Sonne unter. Noch einmal schnell zum Lieblingsplatz auf dem Schiff – dem Monkeydeck über der Brücke. Wie schön das Schiff doch ist, wie schön die „Sea Cloud“ segelt. „Vor zwei Jahren war es die gesamte Fahrt über so – vom zweiten Tag nach der Abfahrt an“, erzählt ein Mitreisender. Wir mussten uns länger gedulden, bis es warm, wohlig und windig wurde. Jetzt genießen wir es umso mehr.
18.30 Uhr
Cocktailstunde mit Gaynor am Klavier. Die US-Amerikanerin ist eine Magierin, wenn es um das Erfassen und Schaffen von Stimmungen durch musikalische Schwingungen geht. Oder liegt alles nur am Alkohol? Nein, unmöglich.
19.30 Uhr
Im Tagesprogramm ist von einem „Krimi-Dinner“ die Rede. Zum Vier-Gänge-Menü soll ein rotes Accessoire mitgebracht werden. Muss aber nicht sein. Mal sehen, was es gibt. Es riecht nach Lamm. Na, den Fisch werden sie wohl nur für Günter gemacht haben.
20.52 Uhr
Wir haben alle Teller leer gegessen. Morgen gibt es also gutes Wetter. Von Verbrechen trotz vieler roter Accessoires keine Spur. Gott-sei-Dank! Oder war das wohlschmeckende Lamm etwa kein Lamm?
21.37 Uhr
Wir rätseln über das „Crime Dinner“. Noch immer ist nichts passiert. Aber halt! Spielt da nicht unsere fabelhafte Bar-Pianistin „Strangers in the night“ an? Das kann ja noch spannend werden. Ruhig bleiben, erst mal Zeit für einen Absacker.
23.45Uhr
An der Reling hängt eine rote Schleife. Das verstehe wer will. Zeit schlafen zu gehen, bevor noch etwas Schlimmes passiert. Ein letzter Blick – ach je, Vollmond.
Reisekoordinaten
Koordinaten
Position um 8 Uhr morgens:
22 Grad, 17 Minuten nördlicher Breite,
37 Grad, 18 Minuten westlicher Länge
(auf geografischer Höhe von Mauretanien)
Wassertiefe: zirka 4320 Meter
Außentemperatur: 24 Grad Celsius
Wassertemperatur: 24 Grad Celsius
Luftdruck 1015 Hektopascal
Fahrtgeschwindigkeit aktuell unter Segeln: 10,2 Knoten
(alle Rahsegel gesetzt, nachts ohne Royals und ohne Skysegel, keine Stagsegel und kein Besan)
Kurs über Grund: nachts: 215, morgens wieder 270 Grad
Gesegelte Entfernung von Sonnabend, 91012.2011 (8 Uhr)
bis Sonntag, 10.12.2011 (8 Uhr): 220 Seemeilen
Windstärken 5 bis 6 aus östlicher Richtung
Entfernung bis zum Fahrtziel St. John's (Antigua): 1436 Seemeilen (=Reststrecke).
Zurückgelegte Gesamtstrecke: 1826 Seemeilen
Rücklaufender Golfstrom schiebt weiterhin mit 0,5 Knoten
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