zum Hauptinhalt
Nicht nur die Crew ist vom Segelvirus befallen. Auch bei den Gästen grassiert diese durchaus chronische "Krankheit"...

© Reinhart Bünger

Reisetagebuch Tag 5: Kommt Zeit, kommt Wind

Das Tagesmotto der Sea Cloud Cruises für den heutigen Tag lautet:„Ich wünsche uns den Mut, unsere Richtung neu zu finden, wenn wir ohne Orientierung sein sollten.“ Das exklusive Bordtagebuch.

Position um 8 Uhr morgens:

Exakt 30 Grad Nord

20 Grad, 40 Minuten West

Wassertiefe: ca. 4800 Meter

Stärke des Seegangs 3 Plus

Außentemperatur: 21 Grad Celsius

Wassertemperatur: 21 Gras Celsius

Luftdruck: ziemlich konstant um 1020 hp

Durchschnittliche Fahrt tagsüber unter Segeln: 5,5 bis 6,5 Knoten

Gesegelte Gesamtdistanz bis 8 Uhr früh seit Abfahrt: 765 Seemeilen

Streckenlänge Portugal–Las Palmas/ Gran Canaria (zum Vergleich): 650 Seemeilen

Wind unverändert aus Nordost mit Stärken 4 bis 5.

Entfernung bis zum Fahrtziel St. John's (Antigua): 2480 Seemeilen.

Gesegelte Entfernung von Montag, 5.12.2011 (8 Uhr) bis Dienstag, 6.12.2011 (8 Uhr):

229,3 Seemeilen

Durchschnittsgeschwindigkeit der „Sea Cloud“ seit Abfahrt: 8,9 Knoten

Sternenklare Nächte auf See – ein Traum. Diese Zeit ist für die Passagiere noch Verheißung, doch die romantischen Stunden kommen so sicher wie der Sonnenuntergang vor dem Bug der „Sea Cloud“. Der heutige Sonnenaufgang um 7.02 Uhr ist bereits spektakulär. Plötzlich schießt die feuerrote Zauberkugel förmlich über dem Heck aus ihrem Versteck hinter dem Horizont. Auf dem Hauptdeck beobachten die Frühaufsteher bei Kaffee oder Tee dieses schier unglaubliche Schauspiel am Himmel.

Warum sind diese Menschen eigentlich auf der „Sea Cloud“, dieser mit viel Patina überzogenen, vergleichsweise puristischen Schwester der größeren „Sea Cloud 2“? Was sucht ein Passagier auf diesem aus der Zeit gefallenen 80-jährigen Großsegler?

Menschen, die 16 Tage mit der „Sea Cloud“ auf Transatlantikpassage gehen, sind nun wahrlich nicht darauf aus, rasch von A nach B zu gelangen. Es ist auch – Überraschung – niemand an Bord, der mit einer Fahrt auf dem Flaggschiff der Hansa Treuhand protzen möchte – goldene Wasserhähne hin oder her. Die wurden ohnehin, so heißt es, von der ersten Besitzerin Marjorie Merriweather Post nur deshalb angeschafft, weil Messing schwieriger zu putzen ist.

Es geht auch nicht vorrangig um touristisches Interesse. Das ließe sich auf anderen Törns weitaus besser befriedigen. Auch werden an Bord kaum Kameras gezückt, keine Camcorder laufen heiß. Und schon gar nicht fragt jemand: „Können Sie mich mal hier an der Reling beim Sonnenuntergang fotografieren?“ Die Erinnerungsbilder, die hier an Bord entstehen, werden woanders gespeichert, nicht auf Chips oder Festplatten.

Von den 46 Gästen auf dieser Überfahrt kommen 11 aus den USA, jeweils drei Paare aus Finnland, Italien und der Schweiz. Die übrigen Mitreisenden stammen aus Deutschland, wenngleich dort nicht mehr alle ihren Wohnsitz haben. Bei den amerikanischen Gästen mögen bei der ersten Buchung Motive wie „back to the roots“ eine Rolle gespielt haben, wenn sie den Spuren der ausgewanderten Vorfahren aus Irland oder anderen europäischen Staaten folgen wollten.

Doch viele der Amerikaner an Bord sind überzeugte „Wiederholungstäter“, „Repeater“ im Branchenjargon. Warum buchen sie wieder und wieder, die zum Beispiel teuerste Eigner-Kabine Nr. 1 (Listenpreis: 10.795 Euro), die bei Seegang auch nicht weniger schaukelt als andere? „This ship makes me feel at home.“ Okay, so einfach kann die Antwort sein. Das Gefühl des Geborgenseins mag auch viele Alleinreisende zur Atlantikfahrt bewogen haben. Auf normalen, trubeligen Kreuzfahrtschiffen werden sie womöglich deutlicher und manchmal unangenehm an ihr Singledasein erinnert. Sammler und Jäger – diese Spezies ist nicht an Bord der „Sea Cloud“.

Der "Segelvirus" geht um.

„Eigenartigerweise haben Alleinreisende wie ich hier an Bord keine Angst“, erzählt eine Mitreisende. „Wenn ich darauf aus wäre, unbedingt jemanden kennen zu lernen, dann würde ich eine Fahrt mit der „Aida“ buchen, oder eine mit der „Royal Clipper“ – und damit nach Ibiza fahren oder nach Barcelona.“ Sie fühle sich an Bord des Windjammers, als sei sie mit einer amerikanischen Großfamilie unterwegs, die soeben mit entfernten Verwandten auf dem Rückweg aus dem Land ihrer Vorfahren in die USA sei. „Das sind Freunde hier“, sagt sie ganz entspannt. „Man darf sich fallenlassen.“

Andere Reisende lassen durchblicken, dass sie Abstand gewinnen wollen von Trennungs- und Verlusterlebnissen. Und dann ist da noch die große deutsche Gruppe ehemaliger Fahrensleute der Marine- oder Handelsschifffahrt, die quasi eine Reise in die Vergangenheit machen. Einige von ihnen wurden denn auch richtig nostalgisch, als sie gestern Abend die Refrains Shanties mitsangen.

Unter den Alleinreisenden sind auch Menschen, die an Land liiert, verheiratet oder sonst eng in Familien oder besondere Verpflichtungen eingebunden sind. Bei ihnen bestand einfach der Wunsch nur mal raus – aber warum dann die „Sea Cloud“? „Ich wollte eine Auszeit von der  Belagerung durch meine Frau Mama“, sagt eine Frau, die mit den strengen Maßstäben ihrer 85-jährigen Mutter immer weniger zurechtkommt. Weg vom Alltagstrott, fort vom Gefordertsein.

„Ich wollte einfach mal keine E-Mails und SMS mehr bekommen“, sagt ein 53-Jähriger, der lange für den Computerriesen Microsoft gearbeitet hat und jetzt selbstständig ist. „Außerdem war das ein Kinder- und Jugendtraum von mir, einmal auf einem großen Segelschiff zu reisen.“ Das verbindet ihn nicht nur mit der überwiegenden Mehrheit der Mitreisenden, sondern auch mit Teilen der Mannschaft. Verbrüderungsmomente hat es dabei immer wieder mal gegeben, wie sich die alten Hasen an Bord erinnern. Warum soll sich auch selbst ein Kapitän nicht in eine Mitreisende verlieben?

Der 1. Offizier Christian Haas, promoviert in Philosophie, ist ein gutes Beispiel für Sehnsüchte, die Passagieren und Mannschaft gemeinsam sind. „Ich habe das Segelvirus bekommen, als ich beim Bund auf der ,Gorch Fock’ war“, sagt Haas. Ende der sechziger Jahre war das, er war Zeitsoldat auf vier Jahre – verdammt lang her. „Ich habe während meiner Ehe dann immer versucht, dieses Virus zu unterdrücken“, sagt der stämmige Mann aus Wiesbaden.

Haas ist Jahrgang 1949. Und vor dreieinhalb Jahren setzte er sich nach der Trennung von seiner Frau noch einmal auf die Schulbank, schaffte sein nautisches und technisches Patent. Damit veränderte sich für Haas das Leben dramatisch. Es fuhr auf einem Frachtschiff in Asien, offiziell als Kadett, tatsächlich aber als 3. Offizier. Ein Jahr lang pendelte er auf Frachtern hierhin und dorthin, dann heuerte auf der „Royal Clipper“ als 2. Offizier an. Nur wenige Monate fehlen ihm noch, dann kann er sein Kapitänspatent machen. „Ich lebe meinen Jugendtraum“, sagt er. Dabei hat er schon ein gesamtes Berufsleben als Mann für alle Marketing- und Vertriebsfälle hinter sich. Doch das war gestern.

Heute bereitet Haas unter anderem an den Vormittagen ein Wetter- und Positionsbriefing für die Gäste vor. Pünktlich um 9 Uhr 30 steht er am Heck an Deck und gibt sein gesammeltes Wissen immer mit einem Augenzwinkern zum Besten – und setzt so an Bord einen Kontrapunkt zum Kapitän. Der ist auch sympathisch, jedoch kein Mann zum Anfassen. Muss ja auch nicht. Hauptsache er hält die „Sea Cloud“ auf Kurs. Und die fährt genau richtig – warmen Gefilden entgegen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false