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Reise: Ringelnatz mit Sanddornschnaps

Literarisches Mecklenburg-Vorpommern. Ein weites Feld auf der touristischen Landkarte dieser Urlaubsregion

„Montag DDR-Geschichten, Dienstag Ringelnatz mit Sanddornschnaps. Freitag poetische Wanderung mit Weltliteratur.“ Ringelnatz ist gut gebucht. Zu Christoph Hein und F. C. Delius kommen nur sechs Interessierte. Autorin und Verlegerin Ute Fritsch, bekannt für ihre Strandlesungen und literarischen Führungen, ist etwas enttäuscht. Dabei begann die Flucht des Paul Gompitz, das Alias des realen Kellners Klaus Müller im F.-C.-Delius-Roman „Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus“, hier. Hier auf Hiddensee. Eine wahre Geschichte, authentisch, spannend, anrührend. Bevor der Held 1988 über die Ostsee gen Westen segelte, arbeitete er auf dem Dornbusch, im „Klausner“, wo auch Christoph Hein seinen Protagonisten, den unangepassten Historiker Dallow, aus „Der Tangospieler“ Eis verkaufen ließ. Der „Klausner“ war Treffpunkt für Aussteiger und Dichter schon vor jener Zeit, an die hier noch immer die Angewohnheit erinnert, schöne Aussichten mit Tüllgardinen zu verhängen.

Bei Ringelnatz wird es lustiger. „Nackt im Sande / Purzeln Menschen, selig töricht“. Ach, der Ringel-Schlingel. In den Dünen mit seiner Seelenfreundin Asta Nielsen; im „Karusel“, dem von Max Taut in Form eines Karrussells erbauten blau- weiß-gestreiften Sommerhaus in den Wiesen von Vitte. Tanzabende im „Dornbusch“. Einkehr in der „Strandkiste“ am Hafen von Kloster, die heute ein Souvenirladen ist. Der Tanzsaal wurde zu Apartments umgebaut. Putz blättert vom „Karusel“ – doch Hiddensee will endlich das alte Image der Insel als Künstlerkolonie wieder aufpolieren. Schließlich kommen, laut Tourismusverband, mehr als ein Viertel der Gäste in den Nordosten auch wegen des Kunst- und Kulturangebots.

Die Historikerin und Germanistin Ute Fritsch lässt das literarische Hiddensee auf ihren Führungen lebendig werden. Dafür hat sie in Archiven gestöbert und die Gästelisten der alten Pensionen studiert. „Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo Thomas Mann am letzten Drittel des ,Zauberberg‘ schrieb, und erzähle Ihnen, warum er dort schlechteres Essen als Gerhart Hauptmann bekam.“ Ute Fritsch breitet die Künstlerkarte von Hiddensee aus, zeigt Fotos und Postkarten: Mascha Kaléko im weißen Hosenanzug, Hauptmann schreibend am Strand, Thomas Mann mit Familie, Ringelnatz auf Bernsteinsuche („Bernstein am Strand verloren, bitte Ringelnatz zurückgeben“). Sie weiß, wo Ringelnatz nie Bernstein fand, immer, aber auch immer eine Pulle Korn. „Ich trinke ein Korn. Nach dem anderen.“

Ute Fritsch erzählt von Ernst Toller, Erich Mühsam und Carl Zuckmayer. Und rezitiert das Gedicht, in dem Gottfried Benn seiner Geliebten Else Lasker-Schüler auf Hiddensee den Laufpass gab. Hiddensee ist plötzlich ganz Poesie. Dazu dieses Hauptmann’sche „stumme und mächtige Strömen des Lichts“.

Literarisches Mecklenburg-Vorpommern. Das ist ein weites Feld auf der touristischen Landkarte der Urlaubsregion. Nur in Einzeletappen zu erkunden. Kreuz und quer durch das Land. Zu Literaturhäusern oder mit einem Buch in der Hand auf den Spuren literarischer Zitate. Zum Beispiel mit Alfred Anderschs „Sansibar oder der letzte Grund“ nach Wismar: „Aber die Stadt war zum Staunen. Sie war nichts als ein dunkler, schieferfarbener Strich, aus dem die Türme aufwuchsen.“ Peter Wawerzinek, der Ingeborg-Bachmann-Preisträger, schrieb „meine Heimat ist Mecklenburg“, in „Das Kind das ich war“. In Rostock geboren wie Kempowski, liebte er die Heimat und litt an Verlust. Wie der Güstrower Uwe Johnson an Heimatverlust. Dabei sind Landschaft und Leute oftmals zweierlei.

Wie sehr das Kleinstadtmilieu albtraumhaft das arme Außenseiterkind Koeppen bedrängte, ist in seinem Buch „Jugend“ zu lesen. „Ich glaube ich wollte schon im Mutterleib nicht in Greifswald geboren sein.“ Mit Ehrendokorwürde und Ehrenbürgerschaft drückte die Stadt den schmähenden Sohn in den 1990er Jahren wieder an ihre Brust. 1997 erwarb die Uni Greifswald vom Suhrkamp Verlag Koeppens Nachlass. Doch erst nach Intervention von Günter Grass beim damaligen Bundeskanzler Schröder wurde 2002 aus dem grauen, von Nässe zerfressenen Geburtshaus Koeppens in der Bahnhofstraße am Rande der Altstadt ein leuchtend gelbes Literaturzentrum mit einer kleinen Dauerausstellung, möbliert mit Teilen aus Koeppens Münchner Zimmer. Das Archiv beherbergt unter anderem die mehr als 10 000-bändige Bibliothek Koeppens, tausende Manuskriptseiten und 12 000 Briefe. Übrigens nur wenige Straßenzüge von Falladas Geburtshaus entfernt.

Kaum ein paar Schritte hinter der Rostocker Universität, die Walter Kempowski 2002, fünf Jahre vor seinem Tod, zum Ehrendoktor ernannte, drohen die Schätze des großen Sammlers die engen Räume eines alten Klosterhäuschens zu sprengen. Manuskripte und Modelle – Material für die von Kempowski entwickelte Zitier- und Collagetechnik, mit der er die Vergangenheit seiner eigenen Familie, einer Reederdynastie aus Rostock, und das eigene Schicksal in den Wirren der Kriegs- und Nachkriegszeit aufbereitete. Zum Rostocker Teil des insgesamt 600 Meter langen Werkarchivs gehört auch die Zellentür, hinter der einst die Mutter Margarete in Untersuchungshaft saß. Gespenstisch, die puppenstubenhaft nachgestellten Verhörszenen. Und Bücher über Bücher. Sogar die eigene Kindheitsbibliothek hat Kempowski rekonstruiert.

Dem anderen ausführlichen Chronisten Mecklenburgs, Uwe Johnson, wurde eine mehr als zwei Meter große Stele vor dem Güstrower Gymnasium zuteil. Johnson machte aus seiner ehemaligen Oberschule die Gustav-Adolf-Oberschule von Wendisch in „Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953“. Scharenweise begeben sich Literaturfreunde auf Spurensuche nach Güstrow, Güstrower treffen sich zu Vorträgen in der Uwe-Johnson-Bibliothek. Die hiesigen Lebensspuren Johnsons von 1947 bis 1952 scheinen einfach begehbar zu sein und werden doch manchmal so irrlichternd wie die von Gesine Cresphal und Ingrid Babendererde. Da steht am Pferdemarkt noch der Name Papenbrock über dem Haushaltswarengeschäft; über dem Musikhaus ist der Name Abs zu lesen, und im Telefonbuch gibt es noch eine Babendererde. Das Hotel Erbgroßherzog aus den Jahrestagen am Markt heißt heute Hotel Stadt Güstrow.

„Die Texte Johnsons vereinen Versatzstücke vieler Realitäten“, warnt Anja- Franziska Scharsich vom Uwe-Johnson- Haus in Klütz vor allzu exakter Verortung. Auch die Kleinstadt Klütz, weit im Nordwesten Mecklenburgs, ist nur ein „reales Element“ in einer fiktiven Geschichte. Johnsons Mecklenburg ist eine literarische Landschaft, Produkt seines „tatsächlichen Erfindens“. Zwischen Johnson und dem alten viergeschossigen Getreidespeicher, der seit 2006 als Literaturhaus dient, exisitiert kein realer Bezug.

Viel Holz, Mauerwerk, Beton, schwarzer Stahl und, als Anspielung auf eine Vorliebe Johnsons, viel schwarzes Leder. Keine authentischen Erinnerungsstücke beschreiben dessen Leben, sondern digitalisierte Dokumente und Zeitzeugenberichte. Klütz heißt bei Johnson Jerichow und war „ein Nest aus niedrigen Ziegelbauten entlang einer Dorfstraße aus Kopfsteinen, ausgespannt zwischen einem zweistöckigen Rathaus mit falschen Klassikrillen …“. Das hat Wiedererkennungswert. Gegenüber dem Johnson-Haus hofft das feine Landgasthaus Sophienhof auf den Herbst, die Jahreszeit der Kulturtouristen.

In Stavenhagen sind sie längst da. 10 000 Besucher kommen übers Jahr verteilt. Ein ausgeschilderter Radwanderweg führt auf Reuters Spuren durch die Mecklenburgische Schweiz. Am Anfang steht Stavenhagen. Reuter ist der Held der Stadt, die am 7. November den 200. Geburtstag des ersten Mecklenburgers, der als Schriftsteller in ganz Deutschland prominent wurde, feiern wird.

Der Direktorin des Stavenhagener Fritz-Reuter-Literaturhauses ist um die niederdeutsche Sprache nicht bange. Schon zu Reuters Zeiten habe man sie totgesagt. „Soll sie sterben“, zitiert Cornelia Nenz den Dichter, „aber mit einem schönen lauten Glockenschlag.“ An der Wand hängt ein Brief von Günter Grass: „Während der Arbeit an meinem Roman ,Der Butt‘ habe ich, nunmehr zwecks Quellenstudium, ,Ùt mine Franzosentid‘ gelesen.“ Mit Grass kommt man zurück auf die Insel Hiddensee, Ort der Inspiration für „Ein weites Feld“: „Dort kam man auf vogelfreie Gedanken. Von dieser Trauminsel öffnete sich uns zumindest der Horizont und ein Nahziel mit Fernblick.“

Auf dem Foto, das auf Seite R 1 diesen Text ankündigt, ist eine Ringelnatz-Figur abgebildet. Die 60 Zentimeter große Marionette (Kopf und Hände aus Lindenholz) des Künstlers Martin Klingel kann nachgefertigt werden. Kontakt: 04 51 / 708 49 93, Internet: www.TheaterLinde.de

Hanne Bahra

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