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Rio de Janeiro: Radeln bis zur Kokosnuss

In offenen Jeeps fährt die Urlaubergruppe gut gelaunt den Corcovado hinauf. Die Straße zur Christusstatue auf dem Gipfel führt in steilen Serpentinen neben der Strecke der roten Zahnradbahn durch dichten Urwald.

In offenen Jeeps fährt die Urlaubergruppe gut gelaunt den Corcovado hinauf. Die Straße zur Christusstatue auf dem Gipfel führt in steilen Serpentinen neben der Strecke der roten Zahnradbahn durch dichten Urwald. Plötzlich fällt ein schwerer Gegenstand aus dem Blätterdach und landet mit einem Knall auf der Kühlerhaube des ersten Autos. Eine große Schlange ist aus den Bäumen gefallen. Zwar überlebt das Tier den Sturz, doch im Blech hinterlässt es eine tiefe Beule – und bei den Passagieren große Freude darüber, dass es niemandem auf dem Schoß gelandet ist. Willkommen in der frischgebackenen Olympiastadt Rio de Janeiro!

Derlei Wildbegegnungen sind im Straßenverkehr der Metropole, die über echten, wild wuchernden Dschungel verfügt, jedoch eher die Ausnahme. Allerdings ist die Fortbewegung in Rio mühsam. Hier sind schlicht zu viele Menschen unterwegs. Mit 1,4 Millionen Passagieren im Monat ist die U-Bahn keineswegs die Stütze des Systems. Die Cariocas, wie man die Bewohner Rios nennt, fahren Auto. Sie stehen im Stau, kämpfen sich durch Tunnel ohne Standstreifen, quälen sich im Schritttempo über die schöne Küstenstraße, vorbei an Stränden, die aussehen wie aus dem Prospekt und deren Namen klingen wie Musik: Copacabana, Ipanema, Leblon.

Die Idee, das Fahrrad zur Fortbewegung zu nutzen, ist in Rio trotz dieser Widrigkeiten neu – wohl auch wegen der Gefahren durch Automassen und der Risikobereitschaft der Verkehrsteilnehmer. Dabei sprechen ruhige Nebenstraßen und die Vielzahl Schatten spendender Bäume durchaus fürs Rad.

„Tecnologia Samba“ heißt eingängig das Kurzwort für die „Solução Alternativa para Mobilidade por Bicicletas de Aluguel“. Dahinter verbergen sich zehn bis zwanzig Fahrradstationen in drei zentralen Regionen der Riesenstadt, nämlich an ihren berühmtesten Stränden. Im vergangenen Dezember wurden die ersten acht Stationen an der Copacabana und ihren U-Bahn-Stationen eröffnet. 14 Räder sind an jeder verankert. Wer sie leihen will, muss sich im Internet registrieren – Einheimische mit der Steuer-, Urlauber mit der Reisepassnummer –, erhält per E-Mail einen Zugangscode und kann damit ein Rad auslösen.

Zehn Real, etwa drei Euro, kostet der Tagespass, 30 Real der für die ganze Woche. Das ist preiswert, doch die Stadtverwaltung hat das System mit einem Schönheitsfehler ins Rennen geschickt: Damit die Räder sich nicht allzu weit entfernen und womöglich in einer Favela enden, müssen sie zwischen 6 und 22 Uhr alle 30 Minuten in einer der Stationen angedockt werden, wo ihr Chip registriert wird. Für jeden verpassten Stopp werden drei Real, etwa ein Euro, zusätzlich von der Kreditkarte abgebucht.

Wie den Cariocas so aufs Fahrrad geholfen werden soll, weiß auch Carlos Pinheiro nicht recht, dessen Technologie-Firma das Projekt für die Stadt entwickelt hat. „Die Menschen sollen erfahren, dass Radeln nicht nur Spaß macht, sondern das Auto ersetzen kann“, sagt er. Der regelmäßige Boxenstopp erzwinge jedoch eine Entschleunigung der Tagesplanung, die kaum praktikabel sei. Einfacher haben es Urlauber: Wer genug vom Treten hat, lässt sein Rad an der nächsten Station stehen und ist aller Sorgen ledig. Bis dahin macht man alle halbe Stunde eine Pause, etwa um eine Kokosnuss auszuschlürfen. Bei den klimatischen Verhältnissen ist das ohnehin geboten.

Vier Kilometer misst die Copacabana, ein wenig länger ist der Abschnitt von Ipanema und Leblon, der sich jenseits des Felsens Arpoador an die Copacabana anschließt. Weil in Rio, wo bekanntlich jeder schön ist und auch jeder an die segensreiche Wirkung der Körperertüchtigung, insbesondere an die vor Publikum, glaubt, sind hier ebenso wie rund um die Lagune Rodrigo de Freitas und im Flamengo-Park Radwege angelegt.

Und was für welche. Zwei Spuren regeln den Verkehrsfluss. Im Pflaster nehmen geschwungene helle und dunkle Wogen aus Kalksandstein und Basalt die Wellen des Ozeans vorweg: ein Werk des Landschaftsarchitekten Roberto Burle Marx (1909–1994), der das Wesen der Stadt genau erfasste. Gemeinsam mit Oscar Niemeyer ist er für Rios moderne Tropenästhetik aus geschwungenem Beton verantwortlich. Anderswo mögen Hochhäuser hässlich sein. Inmitten der Farbexplosion aus blauem Meer und Himmel, samtgrünen Bergen und üppiger Vegetation wirken sie wie der Beweis, dass die Gegenwart gut ist, aber die Zukunft noch besser wird.

Sonntags ist die Avenida Atlantica, die Küstenstraße an der Copacabana, für Autos gesperrt. Beliebte Treffpunkte der Einheimischen sind die im Kilometerabstand errichteten Badehäuser. Gewusel – auch auf dem Radweg. Hunde mit Sonnenbrillen werden ausgeführt, Eltern radeln mit Kindern auf dem Lenkrad, Inlineskater verlassen die Promenade, um statt Flaneuren Radlern ins Gehege zu kommen. Doch trotz einer Hand an der Klingel und ständiger Bremsbereitschaft zeigt sich: Umweht von warmer Meeresbrise, mit dem Panorama aus ArtDeco-Fassaden zur einen und dem einzigartigen Strandballett der Cariocas zur anderen Seite, hat man vom Fahrradsitz aus den schönsten Blick auf Rio – nach der Aussicht vom Corcovado jedenfalls.

Furchtlos legen sich die Cariocas in die pralle Sonne. Sie telefonieren, beobachten durch dunkle Sonnenbrillen die allerschönsten Frauen und durchtrainiertesten Männer, sie spielen „futebol“ und Beachvolleyball, sie tauchen kurz ins Wasser und genehmigen sich einen Caipirinha. Die meisten Bewohner Rios bleiben ein Leben lang dem Strandabschnitt verbunden, an dem sie ihre Eltern zum Buddeln in den Sand setzten. Allenfalls für ein Lager am „Posto 9“ am Strand von Ipanema, eigentlich nur einer der in regelmäßigen Abständen aufgestellten Lebensrettungsposten, würde man den Wechsel wagen: Er ist der berühmteste Treffpunkte für Schöne und Reiche, auch wenn man Letztere angesichts minimalistischer Badebekleidung kaum erkennt.

Viel Gepäck sollte man nicht mitnehmen aufs Rad, so wird stets gewarnt: Am Strand, der wie Karneval und Fußballstadion ein Schmelztiegel aller Bevölkerungsschichten ist, sei nichts sicher. Tatsächlich bildet sich auf der Höhe des Caesar-Park-Hotels in Ipanema, wo Ronaldinho absteigt, Madonna und Liza Minelli sich bei Gastspielen in der Suite im obersten Stock einmieten, ein Menschenauflauf. Mittendrin ein junger Mann, dem ein Rucksack entrissen wird. Allerdings, so stellt sich heraus, ist der Attackierte nicht Opfer, sondern Täter: Einem in der Sonne dösenden Urlauber hatte er den Rucksack entwendet und war davongerannt. Eine Masseurin des Hotels hatte es beobachtet und die Umliegenden alarmiert. Rucksack und Tourist werden vereint und verbringen gemeinsam mit dem gescheiterten Dieb den Tag bei der Polizei.

„Die Strände halten Rio zusammen“, erklärt Gionia Belmonte, die in einem Café Platz genommen hat. Zierlich, blond und gebräunt sieht sie auch mit 47 Jahren ganz aus wie ein „Girl from Ipanema“. Gionia wohnt nahe am Strand, arbeitete früher als Stewardess und heute als Reiseleiterin. Von der integrativen Kraft der Gratis- Freizeiteinrichtung Strand ist sie überzeugt. Wenn hier nicht jeder die Möglichkeit hätte, an 80 Kilometern prachtvoller Strände Atem zu schöpfen in einem Leben, das den Großteil der Bevölkerung sehr harsch behandelt, hätte das soziale Ungleichgewicht die Stadt womöglich längst zum Implodieren gebracht.

In Leblon, wo die Küstenstraße zur Avenida Niemeyer wird, spielen Kinder in der tiefen Sonne des Spätnachmittags Fußball. Es ist Zeit, vom Sattel in den Stuhl einer Bar zu wechseln und sich zu berauschen: am Bild der wilden Stadt vor weißem Sand und blauem Meer.

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