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Skisport ist Kniesport. Beim Telemarken wird das besonders deutlich. David Giacomelli macht’s vor.

© Barbara Schaefer

Skifahren in Italien: Tanz auf der Piste

Wer den eleganten Telemark-Stil erlernen will, kann leicht verzweifeln.

Telemarken ist kein Stil, sondern eine Notwendigkeit. Sagt David Giacomelli und fährt gleich mal vor, in eleganten Bögen, immer abwechselnd ein Knie fast bis zum Ski hinuntergebeugt. Eine Notwendigkeit! Man könnte auch sagen, Telemarken ist wie Fixie-Rad fahren: Obwohl die technischen Entwicklungen schon viel weiter sind, fährt man ein altmodisches Sportgerät. Ohne Sicherheitsbindung und mit freier Ferse das eine, ohne Gangschaltung und Bremsen das andere. Warum sollte man das tun? David Giacomelli würde das anders sehen. Hieße dies doch, beim Skifahren die Sinnfrage zu stellen; ein an sich schon sinnloser Ansatz.

Livigno, ein abgelegener italienischer Skiort an der Grenze zur Schweiz und früher für Schmuggel von Uhren, Pferden und Schokolade berüchtigt, hat sich als Telemark-Zentrum entwickelt; zum Ende der Saison findet dort ein „Free Heel Fest“ statt. Wir fahren nach Livigno, um uns die Grundlagen dieser Skitechnik beibringen zu lassen. Erfunden hat das Skifahren mit der freien Ferse 1868 ein Norweger aus der gleichnamigen Provinz, vulgo: Telemark.

David Giacomelli ist ein junger Kerl mit Vollbart, er fährt seit zehn Jahren auf diese Weise. Die normalen Ski nimmt er nur noch, wenn er als Skilehrer oder Trainer arbeitet. Er sagt: „Du kannst auf Telemark-Ski viel leichter das Gleichgewicht halten, wenn Du mit einem Bein in die Knie gehst.“ Soweit die Theorie.

Natürlich kann man in Livigno auch einfach normal Ski fahren. Sonntags, am ersten Skitag der Wochengäste, organisiert Fabio Giacomelli eine Pistensafari zur Orientierung. Livignos Pisten sind weit und nicht besonders steil, sie liegen zumeist über der Waldgrenze, man sieht vom Ortler bis zur Bernina. Fabio ist Hotelmanager, der Vater von David und Mitglied einer vielköpfigen Familie. Das „Imperium der Giacomellis“, wie eine lokale Zeitung schreibt, betreibt vier Hotels, einen Agriturismo (Ferien auf dem Bauernhof) und diverse Edelboutiquen.

Livigno versucht, wie alle Skiorte, anders zu sein als alle Skiorte. Denn warum sollen Gäste genau hierher kommen, in ein langgezogenes Dorf, das „zwei Stunden entfernt liegt von der ersten Autobahn-Mautstelle“ , wie ein Hotelmitarbeiter es ausdrückt. Wenige Orte im schmalen Italien liegen so weit weg von allem. In Livigno kann, wer das will, ein Pkw-Fahrtraining auf Schnee machen, im Auto mit angezogener Handbremse, schleudernd in den Kurven. Oder, was so ziemlich das Gegenteil ist, zu einer Schneeschuhtour aufbrechen. Geführt von Matteo – Giacomelli, natürlich.

Eine kleine Familiengeschichte: Emilio Giacomelli, der älteste von 13 Geschwistern, heiratete Domenia, eine von elf Geschwistern. 1962 eröffneten sie das Hotel Concordia mitten im Ort. Mamma führt das Hotel, bringt sieben Kinder auf die Welt. Papa Emilio baut die Firma aus, praktischerweise hat er auch eine Baufirma gegründet. Weitere Hotels kommen dazu, mit dem Lac Salin auch das luxuriöseste im Ort, ein Sportgeschäft, Boutiquen. Seit Napoleons Zeiten ist das abgelegene Tal zollfreies Gebiet. Eben weil es so abgeschieden liegt, bekam das Hochtal 1805 diesen Status verliehen, um Anreize für die Besiedlung zu schaffen.

Einkaufen – das zieht Besucher magisch an

Ehemalige Schutzhütten aus Stein sichern den Einkehrschwung.
Ehemalige Schutzhütten aus Stein sichern den Einkehrschwung.

© Barbara Schaefer

Heute säumen Parfümerien, Schnapsshops und Boutiquen die Fußgängerzone – zollfreier Einkauf ist ein starkes Argument. Auf die 6000 Einwohner kommen 15000 Gästebetten, 1,3 Millionen Übernachtungen weist die Statistik aus. Polen stellen die Mehrzahl der ausländischen Besucher, Deutsche stehen im Winter an zweiter Stelle, gefolgt von Belgiern. Im Sommer kommen überwiegend Italiener.

Jetzt also eine Schneeschuhtour mit Matteo, der ein Mal in der Woche Gäste ins Val Fedaria führt. Seine Schwester Lelia, Juristin in Mailand und in der Familie fürs Marketing zuständig, ist zu Besuch und schließt sich an. Einsam spuren wir am Hang entlang, vorbei an einer Kirche mit barocker Haube, an tief verschneiten Höfen, kein Rauch, keine Menschen, das Seitental ist im Winter praktisch unbewohnt. Eine schwarz-weiße Wanderung, durch Schnee und vorbei an von der Sonne geschwärztem Holz.

Am Talausgang kehren wir im rustikalen La Calcheira ein, essen unbekannte italo-alpine Tellergerichte wie Sciatt und Manfrigola, Fettgebäck und Crêpes mit Bittokäse gefüllt, Slinzega und Bresaola, mit Salz und Gewürzen eingeriebenes Pökelfleisch. Matteo und Lelia kabbeln sich freundschaftlich, die Geschwister sind einander offenbar gewogen, trotz der wachsenden Geschäftszweige. Wir sollten mal zum „Free Heel Fest“ kommen, sagt Matteo. Da sei dann ganz Livigno mit losen Fersen auf den Beinen. Es gibt Touren, Kurse für Anfänger, Pasta-Abende, eine 70er-Jahre-Party und im Val Fedaria eine enogastronomische Wanderung – in jedem Heustadel werden Häppchen und Schnäpschen gereicht.

Weil wir es also wissen wollen, wie das gehen soll mit lockerer Bindung, ziehen wir mit David auf die Piste, die gar nicht so flach erscheint. Es gilt alles zu vergessen, was der Körper in 40 Jahren Skifahren gelernt hat. Die Bergschulter soll nach hinten, und bei jeder Kurve schiebt sich der Fuß mit dem Talski nach vorne, das Bergknie wird zum Ski gedrückt, die Ferse löst sich nach oben. Ein interessantes Gefühl, wieder Skianfänger zu sein. Mit wackligem Rumeiern stellt sich der Eindruck ein, ganz tief in die Knie gegangen zu sein. Der Skilehrer sagt: „Du fährst fast aufrecht.“

Alpakas schauen drollig über die Stalltür

Italo-alpine Kost.
Italo-alpine Kost.

© Barbara Schaefer

David behauptet, in Livigno gebe es bereits 80 Prozent Telemarker. Warum steigen die Einheimischen um auf die instabilen Bretter? David sagt, vielleicht wollten sie einfach mal was Neues ausprobieren. „Und mit Telemark kannst du überall hin, auf die Piste, ins Gelände, mit Fellen dran auch bergauf.“ Und wenn du es gut kannst, sagt David, „dann ist es wie Tanzen“.

Wenn David keine Skischuhe trägt, arbeitet er als technischer Angestellter in den Familienhotels, sein Bruder ist Skirennläufer, eine Cousine macht eine Ausbildung als Hotelfachfrau. Und manchmal treffen sie sich bei Onkel Paolo, der aussieht wie John Malkovich. Der führt einen Agriturismo im Ortsteil La Tresenda, zu dem ein einsamer Winterwanderweg jene Gäste führt, die nichts vom Pistentrubel wissen wollen. Papa Emilio hatte diese große Wiese am Ortsrand gekauft, sie wollten sie nicht aufteilen.

Es ist das größte Grundstück Livignos, erzählt Paolo nicht ohne Stolz auf Papa. Im Stall stehen schlanke Pferde, stämmige Haflinger, zwei klitzekleine Ponys, Schweine, Kühe, Schafe, Ziegen. Alpakas, die drollig mit fusseligen Ohren über die Stalltüre schauen. Lamas mit ihrem arroganten Blick. Eine Gans meldet die Besucher lauter als ein Wachhund. Paolos Frau Barbara geht zu einer Glasvitrine, in der die herrlichsten Nachspeisen glänzen: Beerentorten, Cupcakes, Schokoschnitten, Kiwiglibber. Auch nach dreimaligem Hinsehen ist nicht zu erkennen, dass nichts davon essbar ist. Es handelt sich um Seifenstücke.

Und noch einmal erklärt David: Talski nach vorne, Bergbein beugen! Und dann macht es Klick. Im Kopf, nicht in den Gelenken. Es funktioniert, mal das linke Knie nach unten, mal das rechte, das müssten ein paar sehr schöne Kurven geworden sein. Vielleicht sollten wir im Frühling mal ein Fixie-Rad ausprobieren. Daniel wartet geduldig, schaut sich die drei, vier gefühlt schönen Kurven an und sagt: „Ja, ich weiß, am Anfang ist es wirklich schwierig.“

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