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Goldener Herbst am Bodensee. Die Weinberge reichen bis hinunter ans Wasser, wie hier bei Meersburg. Foto: picture-alliance

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Reise: Visionen für tausend Jahre

Bestes Klima für feinsten Burgunder: Bei den Winzern am Bodensee

Genügend Wärme, ausreichend Feuchtigkeit, viel Abwechslung – es gibt auch Menschen, die über den Sommer 2011 nicht klagen. Die Winzer am Bodensee zum Beispiel. In diesen Tagen beginnt die Weinlese, wie immer rund hundert Tage nach der Blüte. Zuerst sind die Weißen dran, Müller-Thurgau, Weißburgunder, Grauburgunder, Chardonnay, und zuletzt der blaue Spätburgunder. Am Bodensee sagt man übrigens nicht, die Lese hat begonnen, sondern das Wimmeln.

Zwischen Hagnau und Meersburg wachsen die Reben bis hinunter ans Wasser. Wer die Weinberge hinaufgestiegen ist, steht oben mehr als hundert Meter über dem See und kann über dessen östlichen Zipfel bis nach Österreich schauen und in die andere Richtung über Meersburg hinweg bis Überlingen. Gegenüber überragt der Säntis im Kanton St. Gallen alle anderen Gipfel der Schweizer Bergkette. Der See spiegelt den Himmel, und manchmal sind es mehrere Wetterzonen gleichzeitig, die sich da abbilden. Da mag die Wasseroberfläche auf der einen Seite die Sonne blendend reflektieren und auf der anderen ganz still in ihrem grauen Blau verbleiben, während sie dazwischen die Schatten dunkler Wolken über sich ergehen lassen muss.

Die Rebstöcke stehen in geraden Reihen und in regelmäßigen Abständen. Im frühen Frühjahr beginnen die Winzer die jungen Triebe entlang gespannter Drähte zu leiten. Das Gleichmaß gibt der Landschaft ein Muster, etwas großflächig Ornamentales, und es strahlt eine tiefe Ruhe aus.

In diesen Tagen ist die gesamte Familie im Weinberg, zusätzliche Helfer sind engagiert. Kein Vergleich zum Frühjahr und Sommer, wenn die Weinbauern allein nach ihren Gewächsen schauen, sie betasten, prüfen, neu binden und gegebenenfalls beschneiden. Trieb für Trieb, Stock für Stock, Reihe für Reihe. Tag für Tag. Im Mai, wenn das Weinlaub noch hellgrün ist, im Juni, wenn die Rispen blühen und einen süßlichen Mandelduft im Weinberg verströmen. Die Winzer nennen die Rispen in diesem Stadium „Gescheine“, weil sie den Anschein haben, eine Traube werden zu wollen. Ob sie aber tatsächlich eine werden, kann noch keiner sagen. Das liegt teils an der Natur, teils aber auch an den Entscheidungen des Winzers. Er hat eine Vision von seinem Wein und weiß, wie viel potenzielle Früchte er um der Qualität Willen rechtzeitig wegschneiden muss und wie viel Ertrag er zulassen will.

Weinberge sind Kulturlandschaften, nach Hektar bemessene Gärten. „Diese Landschaft“, sagt Manfred Aufricht, „gehört der Allgemeinheit, auch wenn sie unser Eigentum ist und wir sie bewirtschaften dürfen.“ Gemeinsam mit seinem Bruder Robert führt er das inmitten des Landschaftsschutzgebietes Meersburg gelegene Weingut Aufricht in der dritten Generation als Familienbetrieb.

Das Nordufer des Bodensees ist das am südlichsten gelegene Weinanbaugebiet in Deutschland und mit bis zu 520 Metern überm Meeresspiegel zudem das höchstgelegene. Wein wird am Bodensee schon seit tausend Jahren angebaut. Damals wurden Setzlinge aus dem Burgund geholt, der Pinot noir, der blaue Spätburgunder. Kein Wunder, denn „wir liegen gleich südlich wie das Burgund und wir haben gleich viel Kalk im Boden“, sagt Aufricht, „nur liegt der Bodensee eben höher.“ Ein Vorteil für die Bodenseewinzer. „Die Höhe bedingt eine fruchtbare Spannung zwischen Tag- und Nachttemperaturen – viel Wärme am Tag und kühle Nächte –, die den Trauben mehr Zeit gibt zum Reifen.“ Außerdem verströmt der See im frühen Frühjahr, nach der Schneeschmelze, eine Kühle, die die Erwärmung im Weinberg reduziert. Die Rispen wagen sich später als in anderen Gegenden heraus. „Wir sind immer so etwa 14 Tage später dran. Im Spätsommer dagegen gibt der See gespeicherte Wärme ab, so bleibt das Blattwerk der Rebstöcke länger aktiv, und auch deshalb haben die Trauben mehr Zeit zum Reifen und können reichlich Aromastoffe ausbilden.“

Und dann die Bodenbeschaffenheit. „Die Böden sind hier sehr schwer, auch schwer zu bearbeiten, sowohl für den Winzer, als auch für die Rebe. Die Rebe muss um den Boden kämpfen.“ Das sei schon mal kein Nachteil. Die Mühe wird belohnt, denn der Boden biete viele Nährstoffe, erwärme sich leicht und speichere die Feuchtigkeit. „Wir Bodenseewinzer können ohne Bewässerungsanlagen arbeiten, und der Trockenheitsstress in regenarmen Zeiten bleibt den Reben erspart.“

„Wir Bodenseewinzer“, sagt Manfred Aufricht immer dann, wenn er von den Begünstigungen durch die Natur spricht, auf die alle Kollegen in diesem mit nicht ganz 1000 Hektar Ertragsfläche eher kleinen Weingebiet bauen können. Sowohl diejenigen, die sich einer Winzergenossenschaft angeschlossen haben, als auch die Einzelgänger, die ihre eigene Idee vom Wein verfolgen.

Zwar hat ein gewisser Herr Müller aus Thurgau gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine besonders ertragreiche Weißweintraube aus der Schweiz über den See gebracht, doch werden vor allem Burgundertrauben angebaut. Spät-,Grau-, Weiß- und bei Aufrichts sogar der Gelbburgunder; in Frankreich heißt er Auxerrois, eine fast schon in Vergessenheit geratene Traube. „Bei uns in der Familie ist es üblich, alte Rebsorten zu erhalten, wir betreiben sozusagen weinbaulichen Denkmalschutz.“

In Gegenden, die vom Weinbau geprägt sind, wird traditionell gut gegessen, mancherorts exzellent. Das Besondere hat hier nichts mit spektakulären Neukreationen zu tun wie in den großen Städten, sondern mit der Verfeinerung des Traditionellen, mit dem Ehrgeiz, das Einfache besonders gut zu machen. In Meersburg gibt es da beispielsweise schon seit dem späten Mittelalter die Winzerstube Zum Becher, die Karl Benz, als er 1884 die erste Winzergenossenschaft am Bodensee gründete, zum Vereinslokal machte. Heute wird der „Becher“ von dem Urenkel des Gründers, Michael Benz, geführt, der auf seinem kleinen Gut seinen Wein ganz nach seinen Vorstellungen anbaut. Und er kocht das Einfache besonders gut. Kalbskopf in Meerrettichsoße zum Beispiel, Bodenseefelchen in Mandelbutter, natürlich darf weder der Zwiebelrostbraten fehlen noch die sauren Kutteln oder saure Nieren. Winzerkost ist kräftige Kost, traditionell.

Die Weinberge am Bodensee sind eine alte Landschaft. „Die Rebe“, sagt Manfred Aufricht, „geht sehr pfleglich mit dem Boden um.“ Das muss man sich mal vorstellen: „Die Reben können tausend Jahre und länger an derselben Stelle wachsen, das gibt es in der Landwirtschaft bei keiner anderen Pflanze.“ Und im Unterschied zu vielen anderen Weinanbaugebieten sind die Hänge hier nicht flurbereinigt worden, um sie maschinell schneller bearbeiten zu können. „Wir lesen mit der Hand. Das hat den Vorteil, dass wir die Trauben zum optimalen Zeitpunkt abnehmen können, nicht alle gleichzeitig. Zuerst die frühreifen, dann kommt die Hauptlese, und dann gehen wir ein drittes Mal durch.“ Allergrößte Sorgfalt ist ein hohes Gebot im Weinberg, auch bei der Lese, denn „ein Winzer hat nur ungefähr 40 Jahrgänge in seinem Leben zu verantworten, da darf nicht viel schiefgehen“.

Deshalb sollte ein Winzer seinen Weinberg nicht lange allein lassen, mehr als ein paar Tage Urlaub im Jahr sind nicht drin. Doch das ist wieder eine Gelegenheit, einen Satz mit „wir Bodenseewinzer“ zu beginnen: „Wir Bodenseewinzer haben doch sowieso den schönsten Arbeitsplatz.“

Burkhard Meise

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