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Alte Schule. Wanderer studieren im Kanton Graubünden eine Landkarte. Foto: p-a

© Picture-Alliance/KEYSTONE

Wander-App vs. Wanderkarte: „Grüezi! Kann ich helfen?“

Orientierung beim Wandern: Landkarte kontra Smartphone. Ein Selbstversuch in Graubünden.

Das Tal von Poschiavo breitet sich vor mir aus: Ganz vorne thront das Dorf mit seinen großen Steinhäusern und eleganten Villen, am südlichen Ende glitzert ein türkisfarbener Stausee. Doch die Schönheit dieser Graubündner Berglandschaft nehme ich nur aus den Augenwinkeln wahr. Denn ich starre auf mein iPhone. Auf dem Bildschirm ist eine Wanderkarte zu sehen und ein blauer Punkt, der zwischen zwei Höhenlinien blinkt, genau auf einer roten Linie – meinem Wanderweg.

Als ich wieder aufblicke, ist von diesem Wanderweg jedoch nichts zu sehen. Stattdessen spüre ich, wie meine Wanderstiefel langsam in regennasser Erde versinken. Ich stehe mitten auf einem Acker. Der Feldweg, auf dem ich eben noch gewandert bin, hat hier abrupt geendet. Keine fünf Meter von mir entfernt dreht ein junger Bauer – Typ Naturbursche: bullige Statur, blonder Bart, rote Wangen – mit seinem Traktor eine Kurve. Ich ahne, dass ich nicht auf einem Feldweg gegangen bin, sondern auf den Spuren dieses Traktors. Der Bauer blickt mich mit regungsloser Miene an, kein Lächeln, kein Gruß. Ich bin sicher, er denkt: „Wieso liest diese Frau auf meinem Feld ihre E-Mails?“ Ich fühle mich wie ein verzogenes Stadtkind und bringe es nicht mehr über mich, den Bauer nach dem Weg zu fragen. Ein Punkt für die Karte.

Am nächsten Tag stehe ich auf dem gepflasterten Dorfplatz des Dörfchens Bever, ein paar Kilometer nördlich vom Tal von Poschiavo. Es ist 10 Uhr, ein Wochentag. Hausfrauen eilen durch die schmalen Gassen, ein paar ältere Männer unterhalten sich vor einer Bäckerei, aus der es nach Engadiner Nusstorte riecht. Aus der Seitentasche meiner Hose ziehe ich eine Wanderkarte. Kaum habe ich sie aufgefaltet und mich ein wenig umgeblickt, kommt einer der Männer zu mir. „Grüezi! Kann ich helfen?“ Noch ein Punkt für die Karte.

2:0. Das ist der aktuelle Spielstand im Wettstreit zwischen einer Wanderkarte und einer Wander-App. Es geht um die Frage: Wie wandert es sich besser? Schiedsrichterin und Organisatorin bin ich. Austragungsort ist die Schweizer Wanderregion Graubünden. Einen Tag lang nutze ich nur die App zur Orientierung, am anderen nur eine Wanderkarte. Ausgangspunkt ist jeweils ein Dorfplatz, beide Touren liegen an der Trasse der Rhätischen Bahn und auf beiden Wanderungen lege ich rund 1000 Höhenmeter und gut zehn Kilometer zurück.

Die Idee zu dem Wettkampf entstand bei einem Blick auf die neuesten Wanderführer. Seit etwa einem Jahr gibt es kaum eine Neuerscheinung, auf deren Cover nicht das Siegel „mit GPS-Daten“ prangt. Käufer eines solchen Buches können die Koordinaten der Touren samt entsprechendem Kartenausschnitt herunterladen und auf ihr eigenes GPS-Gerät überspielen. Unterwegs lässt sich dank eines Peilsenders immer herausfinden, wo man sich gerade genau befindet. Es ist also eine große Orientierungshilfe.

Weil die wenigsten Wanderer ein GPS-Gerät besitzen, liefern die Verlage das Datenpaket aus Karte, Routenverlauf und Ortungsfunktion seit Neuestem auch als App. Und nicht nur Wanderbuchverlage bieten solche Apps an, auch die Wanderregionen selbst. Im Kanton Graubünden kann man zum Beispiel mit einer App entlang der Trasse der Rhätischen Bahn wandern – so wie ich es für meinen Wettstreit gemacht habe. Die Apps bieten außerdem Informationen zu Hotels, Gasthäusern und Sehenswürdigkeiten – viel mehr also als die gewöhnliche Wanderkarte. Sie war bisher der einzige Begleiter auf meinen Wanderungen.

Der erste Tag ist App-Tag. Während ich auf dem Acker immer noch auf den Bildschirm des iPhones starre, in der Hoffnung, meine Orientierungslosigkeit zu beenden, fängt es an zu nieseln. Ich packe das Handy schnell weg, gehe mit gesenktem Kopf am Bauern vorbei und auf den Spuren des Traktors zurück bis zu der Straße, auf der ich fünf Minuten zuvor abgebogen war. Auf der Straße treffe ich einen Einheimischen. Von ihm erfahre ich, dass mein Weg keine zehn Meter oberhalb meines vermeintlichen Feldwegs verläuft, hinter einem kleinen Hügel. Die nächste Stunde grübele ich über der Frage, was ein Peilsender bringt, wenn ich mich trotzdem verlaufe – und sehne die Karte herbei. Nicht das Rauschen der hellblauen Wildbäche, die meinen Weg kreuzen und begleiten, empfinde ich von da an als beruhigend, sondern das Rattern der Rhätischen Bahn, entlang deren Gleise mein Weg immer wieder verläuft. Später erfahre ich, dass die Peilsender die Position mit einer Ungenauigkeit von durchschnittlich 15 Metern angeben.

Schmale Pfade führen mich durch dunkle Nadelwälder und vorbei an grünen Wiesen bergauf, das Läuten der Kuhglocken begleitet mich. Als ich vor einer Abzweigung stehe, an der kein Wegweiser angebracht ist, hole ich das Smartphone heraus und es sagt mir sofort, dass ich nach rechts muss. Weiß man einmal um die Ungenauigkeit des Peilsenders, kann man sich mit der App eigentlich nicht mehr verlaufen.

Der Gletschergarten von Cavaglia – die Strudel eines Gletscherflusses haben hier vor Millionen Jahren tiefe Löcher in den Berg gebohrt – ist mein erster Rastplatz. Ich beiße in ein Stück Bündner Nusstorte, das ich in einer Bäckerei in Poschiavo gekauft habe, und blicke wieder auf das Poschiavo-Tal, das jetzt rund 700 Meter grün unter mir liegt, und auf die grau-weißen italienischen Alpen dahinter – und fühle mich, als hätte ich den ganzen Vormittag am Computer gearbeitet. Nicht entspannt wie normalerweise beim Wandern. Ein Punkt für die Karte.

Am nächsten Tag, dem Wanderkartentag, gehe ich von Bever aus zunächst einige Kilometer durch ein schmales Tal, durch das sich ein breiter, hellblauer Fluss schlängelt, gesäumt von Weiden, auf denen grau-braune Kühe grasen. Orientierungshilfe brauche ich erst mal also nicht. Ich gehe auf die schneebedeckten Gipfel am Ende des Tals zu und vergesse den Wettkampf. Nach einer guten Stunde entdecke ich einen schmalen Pfad, der rechts den steilen Hang hinaufführt und an dem kein Wegweiser angebracht ist.

Am Morgen habe ich auf der Karte gesehen, dass mein Wanderweg nach etwa sechs Kilometern das Tal in Richtung Norden verlässt und zu einem Pass hinaufführt. Sechs Kilometer, eine gute Stunde – ich könnte an der Abzweigung angelangt sein. Kurzentschlossen biege ich ab. Nachdem ich ein paar Minuten aufgestiegen bin, wird der Pfad immer schmaler und verzweigt sich unzählige Male. Ich fürchte, dass ich auf Tierpfaden stapfe – und nicht auf einem Wanderweg.

Tatsächlich stehe ich nach ein paar weiteren Minuten einer Herde Gämsen gegenüber. Mindestens zehn Tiere starren mich erst regungslos an und klettern dann die Felswände hinauf, als ich die Kamera aus meinem Rucksack krame. Ich gehe weiter und stoße schließlich auf ein gelbes Schild an einem Baumstamm. „Dies ist kein Wanderweg“, steht darauf. Ich kehre um, gehe zurück mit Blick auf den eisblauen Bergbach zwischen grünen Weiden und erinnere mich daran, dass sich Irrwege bisher meistens gelohnt haben. Noch ein Punkt für die Karte.

Wettkampfkritik: Die Wanderkarte ist der unschlagbare Gewinner. Zwar ist die App bei der Orientierung zuverlässiger – solange man die 15 Meter Abweichung berücksichtigt und seinen Orientierungssinn nicht ausschaltet. Doch das iPhone fühlt sich in den Bergen zu sehr nach Großstadt an, der Bildschirm lenkt die Sinne ab von den Landschaften. Und auf den Wanderrouten der Alpen reichen ja meist die Wegweiser und eine Karte für alle Fälle, um sich nicht zu verlaufen.

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