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Ob Thüringer oder Fränkische – ist doch Wurst. Aber welche schmeckt besser? Die einen sagen so, die anderen so.

© imago/Westend61

Westdeutsche in der DDR: Geht doch mal nach drüben

Nach dem 9. November 1989 entdeckten Westdeutsche die DDR – und staunten über eine fremde Welt.

Am Rand der Stadt war die eine Republik zu Ende, und die andere begann. Direkt hinter Lübeck-Schlutup sperrten Grenzbefestigungen die Straße, dahinter lag die DDR, das unbekannte Terrain, ein Buch mit sieben Siegeln.

Wien und Venedig, das waren feste Größen. Aber wie sah es wohl in Wismar aus? Saragossa, Helsinki, Amsterdam: all diese Orte längst gesehen – doch wo genau lag eigentlich Karl-Marx-Stadt? Und hieß das früher nicht einmal anders? Nach Ost-Berlin hatten wir es geschafft und einmal in den Spreewald, immerhin. Aber sonst? Ein großer, weißer Klecks war dieses realsozialistische Gebilde.

Dann kam der 9. November. Als die Schlagbäume geöffnet wurden, strömten nicht nur Bürger der DDR in die Grenzstädte. Auch im Westen herrschte Aufbruchstimmung – zumindest bei denen, die von Berufs wegen neugierig waren, ein entsprechendes Gen in sich trugen oder einfach Abenteuerliches erleben wollten. Gemeinsam mit einem Heer von Beamten, Versicherungsvertretern und Möbelverkäufern setzten sich auch Journalisten in Bewegung. Wir fuhren hinüber. Rumpelten durch eimertiefe Schlaglöcher. Irrten herum. Sahen uns um – und staunten.

Da dämmerten, keine 30 Kilometer von zu Hause entfernt, marode Herrenhäuser hinter dichten Brombeerhecken vor sich hin. Auf Rügen sammelten sich im Herbst die Kraniche zu Tausenden. Am Schaalsee, wo noch die Minen im Grenzstreifen lagen, fühlten sich Gänsesäger und Seeadler wohl. Und in Sebnitz in Sachsen wurden also die Kunstblumen hergestellt, die im Winter die Kränze auf unseren Friedhöfen zierten. Soso. So viel war da draußen, da drüben, was wir nie erwartet hätten. War Anlass zum Kopfschütteln, Grübeln oder Gruseln – und Grund, das eigene Weltbild infrage zu stellen. Plötzlich öffnete sich ein neuer Kontinent, direkt vor unserer Haustür.

Was wollen die hier?

Wir kamen ins Gespräch mit „denen drüben“. Längst nicht überall waren wir willkommen. Die Treuhand arbeitete schon heftig am Kahlschlag und hinterließ tiefe Wunden. Menschen beäugten sich gegenseitig, besonders intensiv die, die mit fremden Autokennzeichen ankamen. „Was wollen die hier?“ schienen sie sich argwöhnisch zu fragen. Uns gegenüber blieben sie meist stumm. Man rieb sich aneinander. Es dauerte, bis der richtige Ton gefunden war.

Den Journalisten, die sich vom Osten in den Westen aufmachten, ging es nicht anders. Die dreiste Ruppigkeit alter Kellner in Rheinsberg oder Zittau – „Sie-werden-immer- noch-platziert“ – entsprach der verächtlichen Herablassung, die andere in Braunschweig oder Darmstadt erfuhren, wenn sie den Kaffee mit sächsischem Zungenschlag bestellten und die Tasse auf den Tisch geknallt bekamen. Manchmal fühlte man sich, Ost wie West, im anderen Teil der Republik fremder als in St. Petersburg oder Glasgow.

Die Jahre, die kamen, wurden zu den interessantesten. Wer hat schon die Chance, ein Land im Umbruch aus nächster Nähe zu beobachten? Wir lernten pfiffige Waldgänger kennen, die vor Vergnügen glucksten, dass die DDR es noch im Abgang verstanden hatte, große Flächen für den Naturschutz zu sichern. Wir trafen großmäulige Investoren mit D-Mark- Zeichen in den Augen und touristische Überzeugungstäter, die ihren letzten Pfennig in eine winzige Pension ohne Zukunftschancen steckten. Idealisten und geldgeile Idioten – es gab sie in Ost- und Westversion.

Lasst mal, das versteht Ihr nicht

Und auch zu schmecken fand sich immer wieder Neues: Von der Dresdner Eierschecke über die Rostocker Rauchwurst und den Quark mit Leinöl in Thüringen bis zu den Spreewälder Hefeplinsen probierten wir alles durch.

Nach und nach lernten wir voneinander – zum Teil sogar eine neue Sprache. Was meinte die Wanderführerin im Elbsandsteingebirge, wenn sie „an der nächsten Baude die fuffzehn machen“ wollte? Rast an einem Unterstand – na klar, was denn sonst? Manchmal stritten wir heftig. Und manchmal gab es dieses gegenseitige Grinsen: FKK im Osten, Kiffen im Westen – lasst mal, das versteht Ihr nicht!

Schlimm aber war die Zeit, als nationalbesoffene Glatzen wüteten und man keinen Besucher mehr guten Gewissens für Thüringen oder Brandenburg begeistern konnte und wollte. Allerdings ebenso wenig für Mölln, nicht zu vergessen.

Seitdem sind wir jedes Jahr mehrere Male im Osten Deutschlands unterwegs. Wir sind die Elbe entlanggeradelt, haben uns im Erzgebirge als Schnitzer versucht, die Weine von Saale und Unstrut lieben gelernt. In der Kutsche zuckelten wir durch die „Griese Gegend“, zogen auf den Spuren Luthers und Liszts durch Thüringen, und als wir die Prora-Bauten auf Rügen sahen, verstanden wir den Nationalsozialismus ein ganzes Stück besser. In Lehesten in Thüringen war zu erfahren, dass es im Schieferwerk auch Gastarbeiter aus dem Westen gab. Es gab unzählige Grenzgeschichten zu hören, von Menschen, die geflüchtet und anderen, die bewusst geblieben sind.

Thüringische Volksmusik ist und fremd geblieben

Und immer wieder haben wir uns Ruinen angesehen, von VEBs und LPGs, von Kasernen, Kirchen und Konsum-Läden. Wir mögen den Klützer Winkel in Mecklenburg, bewundern die Silhouette von Dresden – aber die Volksmusik aus Thüringen ist uns so fremd geblieben wie die bayrischer Blaskapellen. Und in Stockheim in Franken sind wir schließlich auch auf das kulinarische Ergebnis des Zusammenwachsens gestoßen: Bei der „wiedervereinigten Bratwurst“ liegen eine Fränkische und eine Thüringer dicht nebeneinander im Brötchen.

Längst ist das Reisen in Ostdeutschland nicht mehr so aufregend wie einst. Heute sind die Straßen im hinterletzten Dörfchen Sachsens besser als die in Gelsenkirchen-Mitte. Die Luxushotels in Leipzig stehen denen in Hamburg in nichts nach. Und die Touristiker in Gera und Potsdam beten das Marketing-Alphabet von „Partnerbetrieben, Themenmix und Alleinstellungsmerkmalen“ so routiniert herunter wie ihre Kollegen in Füssen oder Freiburg.

Doch nach wie vor gibt es zwischen Zwickau und Kap Arkona unendlich viel zu entdecken. Und noch immer kann man über vieles staunen. Und da das Herumkommen so viel einfacher geworden ist, gilt immer noch und heute erst recht für alle Seiten: Geht doch nach drüben! Zumindest hin und wieder.

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