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Zu Hause: Die Entdeckung der Einsamkeit

Für sieben Monate war Judith Kronbergs Welt drei Kilometer lang und eineinhalb Kilometer breit: die Insel Trischen in der Nordsee. Und die Vogelbeobachterin war dort ganz allein

Sie wohnt auf dem Festland, wo es fester nicht sein kann: in Nürnberg. Aber ihre grünen Gummistiefel räumt Judith Kronberg nicht weg. Jeden Morgen, wenn sie das Haus verlässt, kommt sie an ihnen vorbei. Sieben Monate lang hat sie sie fast jeden Tag getragen: im letzten Jahr, als sie auf der Insel Trischen lebte, ganz allein. Wenn sich die 27-Jährige jetzt an ihren Schreibtisch setzt, blickt sie auf ein Foto von der Insel, auf drei Baumstämme, die im Watt stecken. Auch wenn sie am Computer arbeitet, ist sie in Gedanken auf der Insel.

Drei Kilometer lang, eineinhalb Kilometer breit, das war ihre ganze Welt. Von März bis Oktober verließ Judith Kronberg Trischen kein einziges Mal. Von oben sieht die Insel aus wie ein Halbmond, der ins Wattenmeer gefallen ist, zwölf Kilometer vom Festland entfernt, in der Nähe von Cuxhaven. Als Vogelwartin hat sie dort im Auftrag des Naturschutzbundes Deutschland (NABU) gearbeitet. Bis auf den Vogelwart darf die Insel niemand betreten. Nur einmal in der Woche kam Axel Rohwedder, der sie mit dem Nötigsten versorgte. Außerdem durfte ihr Freund sie ein paarmal für wenige Tage besuchen.

„Es war eine wunderschöne Zeit“, sagt Judith Kronberg. „Ich habe gemerkt, wie glücklich ich sein kann mit ganz wenig Dingen.“

Seit 1932 verbringt fast jedes Jahr ein Vogelwart sieben Monate auf Trischen, 30 Menschen sind es bisher gewesen, einige kamen jahrelang. Der nächste Bewohner wird Mitte März übersetzen.

Am 19. März im vergangen Jahr, um zwei Uhr nachts, kam sie auf der Insel an. Drei Tage hatte sie mit Axel Rohwedder auf ruhiges Wetter für die Überfahrt gewartet, in der Nacht des vierten Tages beruhigte sich die See. Auf Trischen angekommen, half ihr Rohwedder, das Gepäck in einem Handwagen über den Sand bis zur Holzhütte zu ziehen. Die steht auf fünf Meter hohen Stelzen, denn manchmal wird bei Flut die gesamte Insel überschwemmt.

Sie fühlte sich sofort wohl. Knapp 15 Quadratmeter groß ist die Hütte, darin stehen ein Gasherd mit Backofen, ein kleiner Kühlschrank, eine Spüle, ein Bett, ein Schreibtisch und ein Regal. Noch in der Nacht verstaute sie ihre Sachen: warme Kleidung, Bücher, unter anderem Daniel Defoes „Robinson Crusoe“, ihren Laptop, das Tagebuch, ein paar Fotos.

Am nächsten Morgen stellte sie sich auf die Veranda, die um die Hütte herum verläuft. Sie fühlte sich frei. Um sie herum nichts als Sand und Meer, zu hören waren nur die Vögel und das Rauschen der Brandung. Dann plante sie ihre Tage: Sie würde mit den ersten Sonnenstrahlen aufstehen, denn bevor es dunkel wurde, gab es viel zu erledigen. Sie musste nicht nur ihre Arbeit tun, sondern auch Treibholz sammeln und klein hacken, denn es ist kalt in der Nordsee, und den Strom aus einer kleinen Solaranlage verbraucht der Kühlschrank. Wenn sie duschen oder Kleidung waschen wollte, musste sie Regenwasser aus der Tonne holen.

Fast jeden Tag war sie von da an von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang draußen. Nur wenn es regnete, stürmte oder Hochwasser war, verbrachte sie den Tag in der Hütte. Manchmal legte sie sich schon frühmorgens in den Sand, um die Vögel nicht beim Brüten zu stören, und beobachtete stundenlang. Regelmäßig vermaß sie die Insel. Auch das gehörte zu ihren Aufgaben, denn Trischen besteht vor allem aus Sand, und die Form der Insel verändert sich wegen der Gezeiten ständig ein bisschen. So vergingen die Tage. Nichts hat sie vermisst.

„Ich musste ja auch auf nichts wirklich verzichten“, sagt sie. Als es im August zum Beispiel richtig heiß wurde und sie Lust auf Eis bekam, bat sie Rohwedder, ihr Sahne, Milch und Joghurt mitzubringen, und machte sich ihr Eis selbst.

Der Einsiedler muss dafür sorgen, dass die Insel einsam bleibt. Im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit schützte er die Vögel vor Eierdieben und Wilderern. Heute muss er verhindern, dass jemand mit dem Boot anlegt oder bei Ebbe vom Festland auf die Insel wandert. Aber das ist eigentlich Nebensache. Wirklich gefährlich für die Tiere ist die Umweltverschmutzung. Die Vogelwarte zählen den Bestand, damit der Naturschutzbund weiß, welche Vögel besonderen Schutz brauchen. Trischen ist der ideale Ort für diese Beobachtungen: Die Insel ist das letzte Rückzugsgebiet der Natur in der Nordsee.

Monika Dorsch, früher selbst einmal Vogelwartin, prüft mit anderen Ehemaligen die Bewerber. Die Chancen, den Job zu bekommen, sind gut. Voraussetzung ist, dass die Anwärter die Vögel im Wattenmeer kennen und wissen, wie man sie zählt. Monika Dorsch fragt auch, ob sie mit Einsamkeit zurechtkommen. „Aber wir machen keine Tests. Wir vertrauen darauf, dass der künftige Vogelwart sich selbst gut genug einschätzen kann“, sagt Dorsch. „Bisher hatten wir Glück: Bei keinem gab es Probleme.“ Bei Judith Kronberg hatte sie gleich das Gefühl: Es passt.

Kein fließendes Wasser? Kein Problem. Keine Heizung? Dann suche ich eben Feuerholz. Schon als Achtjährige setzte sich Judith Kronberg in den Garten, sah Amseln und Meisen zu, wie sie Futter sammelten und Nester bauten. Stundenlang. Auch später guckte sie allem hinterher, was Flügel hatte. Als Geografiestudentin erfuhr sie, dass sie ihre Leidenschaft zum Beruf machen konnte. Von da an zählte sie für verschiedene Umweltschutzprojekte Vögel im Wattenmeer. Dann hörte sie von Trischen und dachte an kaum was anderes mehr.

Dass sie von den Ereignissen in der Welt kaum etwas mitbekam, hat sie nicht gestört. „Ich hatte überhaupt nicht das Bedürfnis, alles immer und sofort wissen zu müssen.“ Die Ergebnisse der Fußballweltmeisterschaft in Südafrika erfuhr sie immer erst lange nach den Spielen – wenn Rohwedder ihr die Zeitungen der vergangenen Woche brachte. Über ein mobiles Modem empfing sie zwar Internet, aber online war sie nur, um die Webseite des Naturschutzbundes über Trischen zu pflegen. Und Kontakt zur Außenwelt hatte sie auch auf anderem Weg: Dreimal bekam sie Flaschenpost in Form eines kleinen angemalten Segelschiffs von Schulkindern aus Hamburg.

„Fast alle fragen mich, ob mir auf der Insel nicht langweilig war. Ich antworte immer: Niemals.“ Sie genoss jeden Moment, auch das Alleinsein. Und wenn sie ihre Freunde doch mal sehr vermisste, hatte sie noch das Handy. Mit ihrem Freund sprach sie jeden Abend kurz.

Jetzt, zurück im Alltag, vermisst sie alles auf der Insel. Das Leben in der Natur, den Blick aufs Meer, die Salzwiesen, wo der Flieder lila blühte, das Rauschen der Wellen, die Stille.

Am 17. Oktober, einem sonnigen Tag, hat sie die Insel verlassen. Sie zog den Handwagen mit ihren Sachen zum Schiff, das sie aufs Festland bringen würde. Sie freute sich, ihr Freund wartete. Doch am ersten Tag in Nürnberg fühlte sie sich wie eine Außerirdische: Sie fand komisch, dass sie nur den Hahn aufdrehen musste und das Wasser floss. Dass sie die Wäsche einfach in die Maschine stecken konnte. Dass sie nur die Heizung anmachen musste, und es warm wurde. Und wenn sie aus dem Haus ging, fiel ihr als Erstes auf, wie laut es war und dass die Sonnenstrahlen nicht bis auf den Boden schienen.

In den Wochen nach der Rückkehr fiel es ihr schwer, in der Wohnung zu bleiben. „Ich wollte in der Natur sein, Vögel sehen“, sagt sie. „An die Insel habe ich mich viel schneller gewöhnt als wieder an die Stadt.“ Sie steht neben einer Bank am Ufer eines kleinen künstlichen Sees, keine 200 Meter von ihrer Wohnung entfernt. Der Ort wurde zu ihrem Lieblingsplatz. Wenn die Sonne schien, packte sie den Laptop ein und arbeitete dort. Bis es zu kalt wurde. Jetzt verbringt sie ihre Zeit am liebsten am Schreibtisch, dort, wo sie die Daten, die sie auf der Insel erhoben hat, verarbeitet, und dort, wo die Fotos von Trischen hängen.

Allmählich gewöhnt sie sich wieder an den Alltag in der Stadt. Sie sucht nach einem neuen Job, am liebsten würde sie in einem Naturpark arbeiten in der Nähe von Nürnberg. „Dann hätte ich beides: Ich wäre in der Natur und meinem Freund nah.“

Bevor sie eine neue Stelle antritt, wird Judith Kronberg noch einmal zurückkehren auf die Insel: Jetzt, wenn der neue Vogelwart Björn Philipps seinen Dienst antritt. Einmal haben sie sich im Dezember schon zur Vorbereitung des neuen Jahres auf Trischen getroffen. Der 26-Jährige war einer der wenigen Menschen, die Judith Kronberg nie gefragt haben, ob es auf der Insel nicht langweilig war.

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