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Rockband Tocotronic: „Vulgär ist ein sehr schönes Wort“

Jan Müller und Dirk von Lowtzow schwärmen unisono für Franz-Josef Degenhardt, Neil Young und Hugh Grants weiße Hemden – doch nur einer geht gern auf Demos

Herr von Lowtzow, Herr Müller, viele Ihrer Songtitel sind geflügelte Worte geworden, denen man immer wieder begegnet: „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“, „Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit“, „Aber hier leben, nein danke!“, „Pure Vernunft darf niemals siegen“…

MÜLLER: Ja, wir merken, dass die öfter mal in den Printmedien auftauchen, besonders im Feuilleton und in der Musikpresse. Das schmeichelt einem schon. Aber im alltäglichen Leben habe ich selten jemanden gehört, der diese Sätze verwendet hätte. Solche Massentauglichkeit haben wir dann doch nicht erreichen können.

Immerhin zählt Tocotronic zu den wichtigsten deutschen Bands. Es gibt Sie jetzt seit 20 Jahren. Bescheinigten Ihnen Kritiker früher „nuscheligen Antigesang“, so werden Sie heute für Ihre „erhabene Musik mit poetischen feinsinnigen Texten“ gefeiert. Die „taz“ schrieb, Sie hätten sich von hässlichen Entlein zu schönen Schwänen entwickelt.

MÜLLER: Ja, das passt!

VON LOWTZOW: Schwäne oder Entlein – ist ja beides cool. Wir haben am Anfang so viele Stücke geschrieben, allein auf dem ersten Album gab es 18, dann kam ein Minialbum mit der für ein Minialbum absurden Zahl von zehn Stücken und so weiter. Das war natürlich nicht alles Gold.

Sie gelten als Vorreiter deutschsprachigen Gitarrenrocks.

MÜLLER: Den gab es doch auch schon vor uns. Im Übrigen ist es mir völlig egal, in welcher Sprache Texte formuliert sind.

VON LOWTZOW: Ich bin hauptsächlich mit angloamerikanischer Popmusik aufgewachsen. Am Anfang gab es viele Tocotronic-Stücke zuerst auf Englisch. Ich habe die dann zurückübersetzt. Auf Deutsch zu texten ist eine reizvolle Denksportaufgabe – weil es einem sehr viele Steine in den Weg legt und man bestimmte Fallen vermeiden muss. Sonst gleitet es schnell ins Schlagerartige oder Prätentiöse ab. Vielleicht kann man das mit der Arbeit eines Malers vergleichen. Der steht heutzutage ja vor dem Problem, dass im Prinzip schon alles gemalt ist. Der muss sich auch Gedanken machen, wie er etwas Neues schaffen kann.

Als der Deutschpop vor einigen Jahren einen Boom erlebte, waren Sie nicht so begeistert.

VON LOWTZOW: Damals gab es den Versuch, ein neues unverkrampftes Nationalgefühl herzustellen, gerade im Zuge der Fußball-WM 2006. Man denke an so scheußliche Kampagnen wie „Du bist Deutschland“, mit denen das Land vollplakatiert war. Oder an Zeitschriftentitel wie „Die 100 besten jungen Deutschen“ oder so. Und das spiegelte sich auch in einer bestimmten Art von Popmusik. Da gab es diese ganzen neuen deutschen Bands, die über Befindlichkeiten sangen, eher unpolitisch, vielleicht mit ein bisschen Konsumkritik dabei. Das war die Zeit, als Sigmar Gabriel Popbeauftragter der SPD wurde.

MÜLLER: Es gab noch schlimmere Sachen. Zum Beispiel den Deutschpop-Sampler eines großen Labels. Da klebte ein Aufkleber drauf: „Deutschland ist erwacht“. Wahrscheinlich war das pure Doofheit, die wussten gar nicht, was sie da zitieren.

1999 schrieb die „Zeit“, Sie seien „Meister der Twentysomethings-Melancholie“. Nun sind Sie 40. Machen Sie demnächst Musik für die Fortysomethings?

VON LOWTZOW: Nein, das wäre schrecklich. Melancholie hat in der Popmusik ihren Platz, einem Mittzwanziger steht sie sogar ganz gut, weil er im Grunde ja gar keinen Grund für dieses Gefühl hat. Aber 40-Jährige, die etwas über ihre verlorene Liebe in ein Bierglas heulen? Nein, ältere, weinerlich-melancholische Männer sind was Unangenehmes. Außer sie sind 70 und heißen Neil Young.

MÜLLER: Man sollte zorniger werden im Alter. Vorbild für mich ist Franz-Josef Degenhardt. Der hat auf seinen ersten Platten tolle, melancholische Lieder gemacht. Später wurde er immer wütender. In den letzten Tagen war er dann wieder hoch melancholisch. Wir würden also noch ein paar Jahre zornig bleiben wollen.

VON LOWTZOW: Man muss scharf und schön den langweiligen Denkmainstream bekämpfen.

Was macht Sie denn wütend?

VON LOWTZOW: Das europäische Grenzregime zum Beispiel. Dass es in Deutschland seit 1993 faktisch kein Recht mehr auf Asyl gibt. Wir haben für unsere aktuelle Tour eine Kooperation mit „Pro Asyl“ geschlossen.

Ende 2012 haben Flüchtlinge am Brandenburger Tor wochenlang gegen die Asylpolitik protestiert.

VON LOWTZOW: Ich war auch dort, habe Decken vorbeigebracht. Ich finde interessant, dass es da kaum Unterstützung vonseiten der Bevölkerung gibt. Und wann immer das Thema aufkommt, wird es von Politikern, die sich Ressentiments bedienen, instrumentalisiert.

Gehen Sie auf Demonstrationen?

VON LOWTZOW: In letzter Zeit wieder ein paar Mal. Zum Beispiel war ich auf einer Demo beim Flughafen Schönefeld. Der Asylknast dort ist fertig, das ist wahrscheinlich das Einzige, was funktionieren würde.

MÜLLER: Ich habe eine Abneigung dagegen, auf der Straße Macht und Stärke zu demonstrieren. Gott sei Dank haben wir als Band Möglichkeiten, anders Einfluss zu nehmen. Im Alter so von 14 bis 17 war ich Teil der linken politischen Szene in Hamburg. Schon damals war es mir zuwider, irgendwo mitzulaufen. Ich kann dieses Gruppending einfach nicht ab. Die Band ist natürlich auch eine Gruppe, das geht gerade noch. Aber auf offener Straße Parolen brüllen ist schrecklich.

VON LOWTZOW: Ich brülle auch keine Parolen, das gestatte ich mir nur auf der Bühne.

Sie haben das Image, Intellektuelle zu sein. Wir vermuten, Ihre weiblichen Fans versuchen, bei Ihnen mit besonders klugen Anmachen zu landen.

VON LOWTZOW: Da können wir leider mit keinen großen Geschichten auftrumpfen. Ich glaube, dass uns viele hören, weil sie nicht das typische Band-Fan-Verhältnis suchen. Und deshalb kommt es leider nicht so häufig vor, dass uns Liebesbriefe erreichen. Wir werden eher mit Kritik konfrontiert, weil die Menschen glauben, das sei der bessere Weg, sich uns anzunähern.

MÜLLER: Wir haben mal in Nowosibirsk in Sibirien gespielt, da wurde uns ein Liebesbrief weitergereicht, von einer Dame: „Hallo. Prima, prima – Ihr seid prima. Besonders das Jan. Eure Oxy.“ Dass unsere Fans ganz gern mäkeln, ist wohl eine Spiegelung. Zumindest, wenn ich auf unsere Geschichte zurückblicke, sehe ich da schon das Mäkelige, das ewig Unzufriedene, das Nörglerische.

In Ihrem Song „Freiburg“ sangen Sie zum Beispiel: „Ich weiß nicht, wieso ich euch so hasse, Fahrradfahrer dieser Stadt… Ich weiß nicht, wieso ich euch so hasse, Backgammonspieler dieser Stadt“. Nervt Sie diese Antihaltung manchmal selbst?

VON LOWTZOW: Na ja, wir schwärmen auch für total viel! Das ging schon los mit „Digital ist besser“, einem Stück, das wie „Freiburg“ vom ersten Album stammt. Das war ein Loblied auf die Digitaluhr, die zu dem Zeitpunkt nicht mehr besonders modern war…

… jetzt sind solche Uhren wieder in.

MÜLLER: Helmut Fischer als ewiger Stenz, in der Rolle als Monaco Franze – dessen Lässigkeit finde ich großartig. Oder Comics, der ganze Entenhausen-Kosmos. Auch der Hamburger Künstler Herbert Schuldt, nicht zu verwechseln mit HA Schult, diesem Schrottkünstler.

VON LOWTZOW: Ich bin auch großer Fan von Hubert Fichte, dem großen Hamburger Dichter, der an seinem Projekt der Verschwulung der Welt gearbeitet hat. Oder von Rainer-Werner Fassbinder, Yves Saint-Laurent…

Auch mit Ihrem neuen Album geben Sie uns eine Ahnung davon, was Sie mögen. Es heißt „Wie wir leben wollen“ – und Sie haben 99 Thesen dazu aufgestellt. Eine lautet: zensiert. Was ist gut an Zensur?

VON LOWTZOW: Die Thesen sind mehr oder weniger zufällig zusammengestellte Exzerpte aus unseren Songs. Zensiert geht auf das Stück „Chloroform“ und die Zeile „zensiere mich“ zurück. Ich finde es gut, sich selbst zu zensieren, nicht alles auszudrücken. Schon das Wort ausdrücken ist schrecklich. Das klingt sehr schmerzhaft. Heutzutage herrscht ein Zwang, sich kreativ veräußern zu müssen, das ist fast ein kultureller Imperativ.

Geheimnisvoll klingt auch These Nummer 40: nach Erdbeer riechend.

VON LOWTZOW: Kennen Sie den Film „Toy Story 3“? Da gibt es einen Moment, in dem die Toy-Story-Mannschaft in einen Kindergarten kommt, in dem ein despotischer Erdbeerbär ein Schreckensregime führt. Der Bär trägt den Namen Lotso, also meinen Namen, nur ohne W. Wenn wir auf Tour sind und ich…

MÜLLER: … sag es ruhig: deine Launen hast…

VON LOWTZOW: … dann heißt es: „Es riecht verdächtig nach Erdbeer“. Vieles basiert auf bandinternem Jux. Doch natürlich riecht so ein Erdbeerbär auch gut.

MÜLLER: Aber er hat einen schlechten Charakter!

VON LOWTZOW: Andererseits ist ihm auch viel Schlechtes widerfahren.

MÜLLER: Das bedingt einander ja immer.

These Nummer 66: als Marie Antoinette.

VON LOWTZOW: Das ist doch eine faszinierende historische und, dank Stefan Zweig, auch literarische Figur. Es gibt ein tolles Buch der deutsch-amerikanischen Kunsthistorikerin Ewa Lajer-Burcharth, das ich sehr empfehlen kann. „Necklines“ heißt es. Darin geht es um den feministischen Aspekt in der Kunst von Jacques Louis David, die um die Französische Revolution herum entstand.

Außerdem verrät uns Ihre Liste, dass Sie gern als Monchichis leben würden. Was mögen Sie an daumenlutschenden Affenfiguren aus Kunststoff?

MÜLLER: Ich persönlich gar nichts. Das sind ekelhafte Wesen. Ein interessantes Beispiel dafür, dass wir uns nicht immer einig sein müssen.

VON LOWTZOW: Ich finde sie ziemlich niedlich. Als Kind habe ich nie eines bekommen, ich hatte nur eine Kopie. Jetzt spiele ich sehr mit dem Gedanken, mir eines zu kaufen. Die sind eigentlich auch nur was für Erwachsene. Diese gespenstischen Gesichter – das ist doch viel zu gruselig für Kinder.

Eines Ihrer früheren Alben hieß „Kapitulation“. Sie haben mal gesagt, dies sei das schönste deutsche Wort. Welche anderen Wörter gefallen Ihnen?

VON LOWTZOW: Ka-pi-tu-la-tion klingt natürlich so schön, weil es an die Tonleiter erinnert: do, re, mi, fa. Das hat was sehr Musikalisches. Vulgär ist zum Beispiel auch ein sehr schönes Wort. Gestern habe ich „Leoparden küsst man nicht“ gesehen, da gibt es einen Dialog, in dem fällt der Satz: „Jetzt werden Sie vulgär!“ Ich habe mich totgelacht!

MÜLLER: Mir gefällt alles mit „u“: dunkel, Wunde.

Nicht nur Ihre Musik hat sich mit den Jahren verändert, auch Ihre Kleidung. In den 90er Jahren trugen Sie Cordhose, Trainingsjacke und enge T-Shirts.

VON LOWTZOW, MÜLLER: Uniform!

Und mit der waren Sie stilbildend. Irgendwann liefen sehr viele Studenten im gleichen Outfit herum.

VON LOWTZOW: Als wir damit anfingen, uns so megabeknackt anzuziehen, waren wir Punk- und Hardcorefans. Und in dieser Szene gab es einen ganz anderen Dresscode: hippiesk, aber sehr männlich. Mit Tattoos, auch Piercings – die Leute haben sich haufenweise mit Metall behangen. Das hatte was Unangenehmes. Und da haben wir eben beschlossen, uns eher wie verunfallte Popper zu kleiden. Diese Klamotten haben wir in der Altkleidersammlung oder auf Flohmärkten gesucht. Das war ein Sport für uns. Es machte großen Spaß, sich gegenseitig die Trophäen zu zeigen, wenn man ein T-Shirt gefunden hatte, wo „Vita Malz“ oder so draufstand.

Warum haben Sie damit aufgehört?

MÜLLER: Weil es so ein Kult wurde. Und irgendwann ist es auch blöd, immer gleich auszusehen.

VON LOWTZOW: Interessant finde ich, dass es Ähnliches ja in der Mode, der Haute Couture gab. Dass Leute gesagt haben: Wir nehmen jetzt zum Beispiel Müllsäcke und kreieren etwas daraus.

MÜLLER: Obwohl, ich fand die Trainingsjacken damals schön. Ganz im Ernst. Ich habe keinen Dachboden, deshalb kann ich wenig lagern, muss immer Sachen wegschmeißen. Sonst hätte ich die in meiner sentimentalen Art sicher noch irgendwo.

Herr von Lowtzow, mittlerweile sind vor allem Sie sehr schick gekleidet. In einem Interview haben Sie mal erzählt, dass Hemden bügeln zu Ihren Leidenschaften zählt.

VON LOWTZOW: Ja, das kann eine recht therapeutische Wirkung haben. Wenn man sich in hysterischen Zuständen befindet, klappt man eben ein Bügelbrett auf – das beruhigt ungemein. Ich trage tatsächlich sehr gern Herrenlangarmhemden. Ich finde, für einen Mann ist das ab einem bestimmten Alter das adäquate Oberbekleidungsstück. Anders als das T-Shirt zum Beispiel. Herrenkurzarmhemden lehne ich grundsätzlich ab.

Wie steht es mit weißen Langarmhemden?

VON LOWTZOW: Das geht auf jeden Fall. Man braucht eben ein gutes Waschmittel oder eine gute Reinigung. Und es sieht besser aus, wenn man noch einen schwarzen Pulli drüber trägt. Weißes Hemd allein, das kann schnell kitschig werden, da bekommt man so einen Kellnerlook. Nur Hugh Grant darf das tragen. Bei dem wirkt es lässig.

Wollen Sie in 20 Jahren noch auf der Bühne stehen?

VON LOWTZOW: Wir gehören zu der Musikergeneration, die den Luxus hatte, noch nicht an der Pop-Akademie zusätzlich zum Notenstudium Businesspläne zu erstellen. Wir haben immer nur von Jahr zu Jahr, von Album zu Album gedacht. Die größte Kunst wäre es wahrscheinlich, keine Kunst mehr zu machen. Dieses schon aus Eitelkeit und Geltungsbedürfnis gespeiste Gefühl, etwas produzieren zu müssen, ganz zu überwinden.

MÜLLER: Werner Enke ist da sehr dicht dran.

Enke wurde berühmt an der Seite von Uschi Glas im Film „Zur Sache Schätzchen“ – da spielte er den schlaffen Haro. 1985 zog er sich aus der Öffentlichkeit zurück, erst 2003 trat er wieder in Erscheinung, mit dem Buch „Es wird böse enden“.

MÜLLER: So lange gar nichts zu machen und dann doch noch mal, das finde ich fast noch lockerer, als ganz radikal zu brechen. Werner Enke hat in seinem Leben insgesamt vier, fünf Filme gemacht. Auch das Buch besteht aus kaum mehr als ein paar Strichmännchenzeichnungen. Aber es hat Substanz und ist sehr lustig. Ich kann das nur jedem ans Herz legen. Enke zerfrisst den Ehrgeiz in einem.

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