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Monumental. Das Fünf-Sterne-Grandhotel „Suvretta House“ in St. Moritz.

© Suvretta House

Schlittschuhlaufen in St. Moritz: Wo Urlauber seit 100 Jahren Pirouetten lernen

In St. Moritz zelebrieren reiche Hotelgäste das Schlittschuhlaufen. Ein Besuch im legendären „Suvretta House“.

Städter kennen gezähmtes Eis, wenn es in Form kleiner, quadratischer Portionen aus einem Drei- Sterne-Kühlfach in ihre Gläser klonkert. Bevor es an der Bar zu einem Cocktail aufgegossen wird und darin schmilzt. In freier Wildbahn schmilzt ungezähmtes Eis inzwischen auf Gletschern und an den Polen der Erde. Doch nun liegt es hier, hart und prächtig unter den Kufen eines Paares Kunstlaufschlittschuhe. Von zwei „Eismeistern“ tagelang in die Form eines Rechtecks gespritzt, auf 1822 Metern über dem Meer gefroren in Engadiner Alpennächten unter Null.

„Was willst du lernen?“ fragt Laura Copes. Nach 16 Jahren Synchroneislaufen ist Eis ihr Element. Eigentlich alles, weil man „nicht hinfallen“ schlecht schon Eislaufen nennen kann. Und wie gern beherrschte man diese elegante Art, rückwärts zu laufen, indem man die Beine voreinander setzt. Das rückwärts Übersetzen, das lernt man nicht einfach als Kind durch Nachahmung, es muss einem jemand zeigen. Aber geht so etwas in einer einzigen Trainingsstunde? „Mal sehen“, sagt Laura. Und: „Mache es mir nach!“ Schon segelt sie auf dem linken Bein vorneweg, das rechte weit nach hinten gestreckt. Erst einmal auf je einem Bein nach vorne gleiten, so lange und weit wie es geht.

Vor ihr liegt das verschneite Silvaplana-Tal, hinter ihr erhebt sich monumental das legendäre, mehr als 100 Jahre alte „Suvretta House“, das Fünf-Sterne-Grandhotel über St. Moritz, in dem sich Hunderte Tempur-Matratzen in 181 Zimmern nachts der Körperform ihrer Gäste anpassen. Laura Copes gehört als hoteleigene Eisläuferin gewissermaßen selbst zur Ausstattung. Sie ist die Lehrerin, die sich das Hotel leistet, das sich eine eigene Eisbahn leistet.

Die ersten Gäste waren Tuberkulosekranke

Seit seiner Eröffnung 1912 wirbt das Haus mit dieser spektakulär gelegenen Bahn, die jeden Winter wieder neu hergestellt wird. Dabei ist Schlittschuhlaufen heute wie ein Salto vom Dreier: Macht was her, wenn man es kann, taugt aber nicht als Distinktionsmerkmal. Einfach nicht exklusiv genug. Ein ganz und gar erreichbarer Sport, ganz im Gegensatz zum Skilaufen.

Schick gemacht für das Schaulaufen am Suvretta House.
Schick gemacht für das Schaulaufen am Suvretta House.

© Suvretta House

Schon allein dessen Materialgewitter! Liftbauten prägen ganze Alpenlandschaften. Man braucht jede Menge Geld und Skipässe, Ausrüstung und Winterferien. Eislaufen dagegen ist gezähmter Wintersport, der sich auch in Städten üben lässt, sogar in Straßenkleidung. Eislaufen ist Understatement. Kinder tun das - und Minimalisten.

Im Prinzip, sagt Laura, fährt man ja immer eine Kurve. Und die nicht etwa auf der ganzen Kufe, sondern je nach Richtung auf deren Innen- oder Außenseite. Also erst einmal vorwärts Halbkreise fahren, rechts- und linksherum, auf der Innen- und auf der Außenkante. Das geht gut, jedenfalls so lange, bis sich plötzlich beim Bremsen die Zacke des Schlittschuhs im Eis verhakt und man nach den Gesetzen der Schwerkraft zu Boden geht.

Eislaufen, das glaubt heute keiner mehr, war lange die Sportart der Maximalisten, der größtmögliche Spaß vor allem für die Engländer, die den Wintersport in den Bergen quasi erfunden haben. Der erste Hype galt nämlich nicht dem Schnee, sondern dem Eis. Er wurde nur deshalb in die entlegenen Täler importiert, weil ein englischer Arzt eines Tages damit begann, seinen Patienten das Eislaufen beizubringen. Die ersten Gäste in den Bergen waren ja keine Touristen, sondern Tuberkulosekranke. 1902 gründete sich in St. Moritz ein internationaler Schlittschuhclub, dessen Mitglieder die Urlauber waren. Die großen Hotels im kleinen Ort besaßen ihre eigenen Eisbahnen, auf der Höhe der Begeisterung gab es 18 davon. Man schaffte Orchester, Tische, Stühle und Geschirrsammelstellen hinaus aufs Eis, einen kompletten winterlichen Biergarten und ein Klavier. Tribünen wurden aufgebaut, für Shows und Revuen, Tischdecken ausgebreitet, und wie durch ein Wunder müssen es die Kellner auf ihren Schlittschuhen geschafft haben, mit ihren Tellern und Gläsern vor den Tischen der Gäste zum Stehen zu kommen.

Einladung zum "Eisfest" aus den 20er Jahren.
Einladung zum "Eisfest" aus den 20er Jahren.

© Suvretta House

Charlie Chaplin kam für zwei Wochen und blieb zwei Monate

„Ein Geheimnis ist der Oberkörper“, sagt Laura. Wenn man ihn öffnet und nach hinten dreht, folgten die Schuhe fast automatisch der Richtung, in die der ausgestreckte Arm zeigt. Wer rückwärts einen Kreis zeigt, könne ihn auch laufen. Und tatsächlich, die Kurve ist nicht perfekt, aber da zieht es einen rückwärts, nach hinten.

Weit hinten liegt die grandiose Vergangenheit des Sports in den Schweizer Alpen. Das kann man nachlesen in der üppigen Dokumentationsbibliothek von St. Moritz, wo sich, auch bestückt aus Nachlässen der Einwohner, ein Archiv mit Zeitungsausschnitten, historischen Hotelprospekten und 16 000 eingescannten Bildern befindet. Darauf sieht man ihn, den homo ludens auf Kufen, der spielende Mensch mit Ehrgeiz und Übermut, auf ewig eingefroren im Sprung.

Die Fremdenzeitung „The Alpine Post“ listete die Hotelgäste auf und vermeldete die Sieger der Wettbewerbe, die man aus England nun hier eingeführt hatte, sogenannte „Ghymkanas“ - Hindernisrennen auf dem Eis. Diese Spiele waren so, wie Spiele der Engländer immer sind: am besten frei von Sinn, aber mit hohem Einsatz. Nach dem Prinzip, Schweres leicht und Leichtes ernst zu nehmen, entstand hier ein großartiger Zeitvertreib, grandioser Unfug.

Urlaub in der Höhe galt bald als schöne Art, sich saisonweise von den Zumutungen der Welt abzusetzen, jeder Gast im Banne seines ganz eigenen Zauberbergs. Da gab es immer wieder Leute, die nur kurz kommen wollten, aber spontan verlängerten, während ihr Faden zur Welt da unten immer dünner wurde. Charlie Chaplin kam für zwei Wochen und blieb zwei Monate in St. Moritz. Ins Suvretta House pilgerten Thomas Mann, Evita Péron und der Schah von Persien.

Die Eisbahn ist der Infinity-Pool des Winters

Mit Blick ins Tal. Die Eisbahn hinter dem Grand Hotel.
Mit Blick ins Tal. Die Eisbahn hinter dem Grand Hotel.

© Suvretta House

In die Knie“, ruft Laura. Alles Gewicht drücke sich beim Eislaufen idealerweise nach unten, in das Eis hinein, von ihm ab. Es ist damit eher wie Tango, weniger wie Ballett, das nach oben strebt. Und dieser Tipp ist großartig, denn er verändert alles. Auf dem Eis, sagt Laura, funktionieren Figuren nur, wenn man sein Körpergewicht eindeutig verteilt. Ein Standbein, ein Spielbein. Dann fährt Laura eine Weile eierig herum, bis man merkt: Okay, sie macht einen nach. Tolle Gelegenheit, die eigenen Fehler zu sehen.

Die zwei „Eismeister“ des Hotels, die im Sommer die Gärtner sind und im Winter tagsüber schlafen, haben in der Nacht heinzelmanngleich mit Reisigbesen den frisch fallenden Schnee von der Eisfläche gebürstet. Keine Bande unterbricht den Blick ins Tal. Diese Eisbahn ist der Infinity-Pool des Winters.

Die Großzügigkeit, der Überfluss der Epoche, als die Engländer gerade den Alpentourismus begründet hatten, steckt für immer in den riesigen Treppenhäusern des Hotels, in den überbreiten Fluren, durch die man bei Bedarf jederzeit einen Flügel schieben könnte. Angenommen, man kommt zum Beispiel aus einem Wüstenstaat, dann kann man seine Pelze hier bis zum nächsten Urlaub hängen lassen. Hunde- und Katzenfutter ist beim Zimmerkellner zu bestellen. Im getäfelten Aufzug wird vor Dachlawinen gewarnt, hinter dem Haus surrt der eigene Skilift los.

Solange hier der Schnee rieselt, geht es dem Ort gut

„Ach, wenn es zu schön ist, gehen die Leute Skilaufen“, sagt Laura. Sie ist 30 Jahre alt, arbeitet vormittags als Architektin in einem Büro und nachmittags von zwei bis fünf auf dem Eis, weil sie es nicht lassen kann. Sie lehrt Kinder, deren Eltern ehrgeizig sagen, jetzt sind wir schon einmal hier und haben Ferien, da wäre es doch schade, wenn das Kind die Zeit nicht zum Lernen nutzte.

Erwachsene kommen, wenn es zu neblig ist, um weiter oben Ski zu fahren. Leute, die ohnehin sportlich sind, können gut Schlittschuhlaufen lernen, im Prinzip in jedem Alter, sagt Laura. Ähnlich wie beim Tangotanzen behalte man seine Eleganz und trainiere ganz großartig die Balance. Auch, wenn es natürlich etwas dauert, bis es so unangestrengt aussieht wie bei ihr. Und passt es nicht plötzlich wieder in den Zeitgeist der Reduktion?

Laura scheint das Gegenteil von St. Moritz zu sein, wo das Geld zwar nicht auf der Straße liegt, aber vom Himmel fällt. Denn solange hier der Schnee rieselt, geht es dem Ort gut. Noch. Einige Ladengeschäfte stehen bereits leer in diesem Städtchen von 5000 Einwohnern, das zur Saison um das Vierfache anschwillt.

Offenbar beeindruckt die Zahl nicht mehr. „Ist St. Moritz passé?“, fragte die „NZZ“ ketzerisch im Januar. Schließlich seien die Übernachtungen gegenüber 1985 um ein Drittel gesunken, die Immobilienpreise fallen auch. Der Ortskern, so die Schweizer Journalisten, sehe doch mit seinen Architektursünden aus wie ein Birchermüsli! Rolf Sachs, der Sohn des Lebemanns Gunter Sachs, antwortete: „Einverstanden. Da unten brauchte es mal eine Bombe.“

Lieber weniger, dafür vom Richtigen

„Und jetzt immer wieder üben“, ruft Laura. Also auf der Außenkante des linken Schuhs rückwärts einen Kreis fahren - in die Knie! - und dann das rechte Spielbein links locker davorsetzen. Und dann - Wunder sind möglich! - alles Gewicht auf die Innenkante des rechten Schuhs. Ha! Das ist Magie! Jetzt bloß nicht mit den Armen wedeln!

Eleganz heißt ja vor allem, auf überflüssigen Ballast zu verzichten. Lieber weniger, dafür vom Richtigen. Hier treffen sich in der Saison große Familien, manche in dritter Generation, manche mit mehreren Generationen auf einmal, und jede kurvt einmal auf dem Eis herum.

Nach dem Eislauf ist vor dem Eiswürfel.
Nach dem Eislauf ist vor dem Eiswürfel.

© Suvretta House

Vielleicht wird, wenn die Gletscher abgeschmolzen sind, nur noch das Eislaufen übrigbleiben, wenn die Schneegrenze wegen der Klimaerwärmung von Jahr zu Jahr höher rutscht. Vielleicht wird der Wintersport, der mit Eislaufen begann, auch mit Eislaufen aufhören, inklusive einer kompletten Simulation von Winter.

Laura Copes hält das Licht für das Schönste an ihrer Arbeit. Wenn die Berge am späten Nachmittag beginnen, blaurosa in die Dunkelheit zu treiben. Erhaben. Erhebend. Jeden Tag ein natürlicher Sundowner auf Eis

Reisetipps für die Schweiz

Hinkommen

Mit Swiss bis Zürich fliegen, Tickets gibt es ab 88 Euro. Von dort den Zug nehmen, ab 65 Euro pro Strecke.

Unterkommen

Das Doppelzimmer im Suvretta House kann man ab 500 Euro buchen; suvrettahouse.ch.

ITB

Die Schweiz stellt sich in Halle 17, Stand 101 vor.

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