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Ruhebedürftig. Tóibín an einem seiner Schreibtische.

© imago/Leemage

Schriftsteller Colm Tóibín: Rückkehr nach Wexford

Colm Tóibín lebt an fünf Orten – wohl fühlt er sich, wo immer seine Bücher und CDs sind. Doch die Salzluft der Heimat löst bei dem irischen Autor die stärksten Emotionen aus.

Lustig muss es gewesen sein. Ein deutscher Filmemacher und ein irischer Schriftsteller – kennengelernt haben sie sich in der Toskana – sitzen an einem Tisch in New York und arbeiten an einem Drehbuch. Nur dass es sich offenbar nicht wie Arbeit anfühlt. Die beiden älteren Herren blödeln herum, agieren Szenen aus, schlüpfen in die selbst erschaffenen Rollen, mal mimt der eine die Frau, mal der andere, sie probieren Dialoge, kommen aus dem Lachen nicht raus, auch wenn ihre Figuren wenig zu lachen haben.

Offenbar hatten Volker Schlöndorff und Colm Tóibín mehr Spaß gehabt als die Kritiker, die das Ergebnis bei der Berlinale zum ersten mal sahen. Jetzt kommt „Rückkehr nach Montauk“ ins Kino, die von Max Frisch und den Erfahrungen der Autoren inspirierte Geschichte über den Schriftsteller Max Zorn und dessen Wiedersehen mit der einstigen Geliebten, gespielt von Nina Hoss, in New York und Long Island.

Colm Tóibín ist einer der wichtigsten Schriftsteller Irlands, vielfach preisgekrönt. Für „The Master“ („Porträt des Meisters in mittleren Jahren“), den grandiosen Roman über seinen Lieblingsromancier Henry James, bekam er den mit 100 000 Euro dotierten Literaturpreis IMPAC. Das Drehbuchschreiben aber hat er bisher anderen überlassen. Nick Hornby hat aus Tóibíns Roman „Brooklyn“ die Vorlage für die Verfilmung verfasst, die 2016 für drei Oscars nominiert war. Als „Wolker“, wie er Schlöndorff nennt, anklopfte, sagte er zunächst nein. Dann ja. Die Neugier war zu groß.

Auf Fotos sieht der Autor oft grimmig, zum Fürchten aus

Im Telefoninterview erzählt Schlöndorff von den Gesprächen der beiden: dass sie viel über Gefühle, nie über Politik reden. Als seinen Beichtvater bezeichnet der Regisseur den irischen Freund. „Er weiß alles über mich.“ Sagt’s und lacht.

Tóibíns Reaktion: amüsiert. Wobei man nie sicher ist, wie ernst man nehmen soll, was er sagt, er hat etwas sehr Spitzbübisches. Auf Fotos sieht der Autor oft grimmig, zum Fürchten aus. Die Ähnlichkeit mit Frankenstein-Darsteller Boris Karloff ist schon einigen Gesprächspartnern aufgefallen. Äußerlichkeiten. Im Gespräch redet er freundlich, eloquent, intelligent. Und setzt äußere Kontrapunkte. Am gewaltigen Hals baumelt seine kleine knallrote Klapplesebrille, die Absätze der schwarzen Schuhe sind genauso rot.

Der knapp 62-jährige Homosexuelle wuchs in einem konservativ-katholisch-nationalistischen Irland auf, das so ganz anders ist als das von heute. In Enniscorthy, County Wexford, dem lieblichen Südosten des Landes, in einer politischen Familie. „Fast Bilderbuch-Nationalisten“, wie er sie nennt. „Als ich klein war, hatten wir die Macht, egal, wo wir hinkamen. Entweder die Kirche hatte sie oder die Partei, das stellte damals niemand in Frage. Die Sicherheit gibt’s heute nicht mehr.“

Wenn er mit dem Schreiben beginnt, hat er praktisch alles fertig im Kopf

Von dieser Zeit der 60er Jahre, der Enge der Kleinstadt, erzählt er eindringlich in seinem 2016 auf Deutsch erschienenen Roman „Nora Webster“. Bei der Arbeit am Drehbuch habe es ihn fasziniert, mit welcher Gnadenlosigkeit Szenen, an denen sie so lange getüftelt hatten, wieder rausflogen. (Verloren sind sie nicht, denn jetzt macht er aus der Geschichte einen eigenen Roman.) Bei seinen Erzählungen nimmt er höchstens mal einen Absatz raus. Wenn er mit dem Schreiben beginnt, hat er praktisch alles fertig im Kopf. So lesen die Bücher sich – jeder Satz sitzt.

Umso länger der Anlauf. Bei „Nora Webster“ waren es genau 14 Jahre. Es fiel ihm schwer, die Form zu finden für diese, seine persönlichste Geschichte.

Er musste weg, raus aus der tristen Enge seiner irischen Kleinstadt

Beste Freunde. Schlöndorff mit Tóibín bei Dreharbeiten zu "Rückkehr nach Montauk" vor der Public Library.
Beste Freunde. Schlöndorff mit Tóibín bei Dreharbeiten zu "Rückkehr nach Montauk" vor der Public Library.

© Franziska Strauss

Tóibín, zweitjüngstes von fünf Kindern, war zwölf, als sein Vater starb. Während der Krankheit brachte die Mutter die beiden kleinen Söhne zu einer Tante, meldete sich wochenlang nicht, kam nicht vorbei. Dieses doppelte Gefühl des Verlassenwerdens, von Mutter und Vater, hat ihn geprägt. Ein Trauma, dass der Autor sich Jahrzehnte später bei einem befreundeten Psychiater aus dem Körper schrie.

Der Roman ist die verdichtete Fassung des eigenen Erlebens, unsentimental erzählt, eine Geschichte des Trauerns und der Rückkehr ins Leben, auch die Geschichte einer Emanzipation, aber keine Heldengeschichte. Nora Webster, eine zwiespältige Figur, lebt mit ihrer Familie ebenfalls in Enniscorthy, County Wexford. Das Haus, der Ort, die Küste haben eine so starke Präsenz im Roman, dass es dem Autor selbst so vorkommt, als wären sie Figuren. „Wo das Bad liegt, der Lichtschalter, all das musste ich mir nicht ausdenken.“ Es ist das Heim seiner Kindheit, ein kleiner Bau, gefüllt mit großen Emotionen.

Erst mit neun lernte der Lehrersohn lesen

Dass er sich so präzise erinnern kann, hat verschiedene Gründe. „Vielleicht muss man einen Ort verlieren, um ihn wirklich sehen zu können“, sagt Colm Tóibín. Als er Wexford in jungen Jahren verließ, konnte er sich nicht vorstellen, je zurückzukehren. „Dadurch waren alle Erinnerungen sicher weggeschlossen, wurden nicht verdrängt oder vom Alltag überdeckt.“ Der andere: Erst mit neun lernte der Lehrersohn lesen, Bücher gar erst als Jugendlicher lieben. (Dann aber gleich „Hamlet“.) Wie der Junge im Roman stotterte Tóibín als Kind. Umso intensiver, erzählt er, hat er seine Umgebung wahrgenommen. Er muss sie aufgesaugt haben.

Ein weiterer Aspekt, der ihn an der „Rückkehr nach Montauk“ gereizt habe, sagt Tóibín, ist die Frage, „wie viel Schaden ein Mann in so kurzer Zeit anrichten kann“. Im Laufe weniger Tage hat Max Zorn Frau und Geliebte vertrieben. Was in Tóibíns Büchern passiert, ist nicht minder dramatisch – aber es entwickelt sich stiller, subtiler, langsamer. So wie bei der jungen Eilis, der Hauptfigur in „Brooklyn“, die in den 1950er Jahren von Enniscorthy nach New York auswandert und zurückkehrt. Für die Verfilmung wurden die irischen Szenen in Wexford gedreht. „Enniscorthy – Home of Brooklyn“ vermarktet die Fremdenverkehrszentrale inzwischen die kleine Stadt.

Enniscorthy-Szene mit Saoirse Ronan as Eilis in dem Film "Brooklyn".
Enniscorthy-Szene mit Saoirse Ronan as Eilis in dem Film "Brooklyn".

© mauritius images

Eilis muss sich noch entscheiden zwischen der Alten und der Neuen Welt. Tóibín lebt bequem in beiden. Der Schriftsteller hat viele Häuser und Wohnungen, in Dublin und Wexford und Barcelona und den Pyrenäen und New York und Los Angeles. Das habe sich so ergeben. Wenn man ihm glaubt, so folgte sein Leben weniger einem Plan, als den Möglichkeiten. Er griff einfach zu.

Nach Amerika hat es ihn „geweht“, wie er sagt

Nur einmal ist er ganz gezielt gegangen. Als junger Mann musste er einfach weg, in den 1970er Jahren. Raus aus der tristen Enge seiner Heimat, in die katalonische Sonne. Nach drei Jahren in Barcelona zurückzukehren, fiel ihm sehr schwer. „Von einem gut bezahlten Job als Englischlehrer, einer schönen Wohnung, einem lustigen Leben, am Strand, dieser weiten Welt mit Taxis und Restaurants zurückzukommen. Eine Wohnung zu finden, fast pleite neu zu beginnen, ohne den Glamour von Spanien. Dublin war Ende der 70er Jahre ziemlich düster.“

Nach Amerika hat es ihn „geweht“, wie er sagt. Mit wachsendem Erfolg bekam er immer mehr Einladungen – Princeton, Stanford, inzwischen unterrichtet er fest an der Columbia University in New York, 14 Wochen im Jahr. Als er in den 80ern das erste Mal nach New York kam, war er schockiert von der Brutalität der Stadt, die ihm so unordentlich, so schmutzig vorkam. Allein die alte, ratternde U-Bahn unter den eigenen Füßen zu spüren, zu merken, „wie fragil der Boden ist“.

Das New York, in dem er heute lebt, ist ein ganz anderes als das der wilden 80er: „Sehr ruhig dort.“ Als Professor an der Columbia wohnt er auf der Upper West Side, „wo nie was passiert“. Von wegen, „the city that never sleeps“. Dort gehen die Restaurants schon abends um zehn schlafen. Ihm ist’s recht: Er will ja arbeiten.

"Egal, was man tut, die Kindheit mischt sich immer ein"

Tóibíns Cameo-Auftritt.
Tóibíns Cameo-Auftritt.

© Franziska Strauss

Jeden Sonntagnachmittag trifft man ihn (wie im Film die von Nina Hoss verkörperte Figur) in der Alice Tully Hall des Lincoln Center beim Kammermusikkonzert. Seine Musikalität schlägt sich in seinen Büchern nieder, in der Sprache, dem Rhythmus, der Sensibilität. Seine Vorlieben haben sich im Laufe der Jahre verändert, von Mahlers Symphonien, die ihm heute lächerlich vorkommen, zu den Bach’schen Fugen. „Zuhause ist da, wo die CDs und Bücher sind“, sagt er. Seine schmales Haus in Dublin ist vollgestopft damit, auch mit Bildern. Zu der Stadt hat er keine emotionale Beziehung, weswegen keiner seiner Romane dort spielt. Das Haus ist sein sicherer Hafen, wie er ihn nennt, wo er beim Schreiben Gefühle und Erinnerungen wachrufen kann. „Egal, was man tut, die Kindheit mischt sich immer ein.“

Da er so oft nach Amerika kam, hat er – „natürlich“ – auch jemanden kennengelernt. Seitdem verbringt Tóibín viel Zeit in Los Angeles. Eine gute Stadt zum Arbeiten, wie er sagt, „weil man nicht wirklich ausgehen kann. Es ist die Pest, irgendwohin zu fahren, bei dem schlimmen Verkehr.“ Zum Arbeiten geht er in den Garten vom Haus seines Freundes, setzt sich unter einen Baum und schreibt. Das kann er überall, „geben Sie mir einen Tisch und einen Stuhl, und ich fange an“; er tut es auch überall und jeden Tag (das Konzept Urlaub ist ihm fremd). Aber ist der Himmel blau, muss er einfach raus. „Als Ire habe ich immer das Gefühl, wenn ich an einem schönen Tag drinnen hocke, ist er verschwendet. Das denkt in L.A. kein Mensch außer mir, weil es morgen ja wieder genauso wird. Als Ire würde man nie einen schönen Tag vergeuden.“

Das Ende von "Nora Webster" konnte er nur in Wexford schreiben

Und das ist klar – egal wo er ist auf der Welt, Tóibín bleibt überall Ire. Ja, er kultiviert sein Irischsein, wie Volker Schlöndorff sagt. So viel er unterwegs ist, nie würde er sich als Nomaden bezeichnen. „Ich bin sehr verwurzelt.“ Am Pazifik zu sitzen, der so viel rauer ist als die sanfte irische See, und über Wexford zu schreiben – kein Problem. „Ich lebe in meinem Kopf. In dem Moment, wo ich auf die Seite schaue, bin ich, wo immer ich sein will.“

Mit einer Ausnahme. Am Ende von „Nora Webster“ hat die Titelfigur einmal fast das Gefühl hat, ihren toten Mann zu sehen. Um das zu schreiben, ist er nach Wexford gefahren. „Das hätte ich nirgendwo anders gekonnt.“

In dem Roman gibt es eine herzzerreißende Szene, als die Witwe das Ferienhäuschen der Familie am Meer verkauft. Auch die Tóibíns hatten so eins, das sie jeden Sommer mieteten, so dass es fast wie ihr eigenes war. Und dann, nach dem Tod des Vaters, erklärte die Mutter einfach, wir fahren nicht mehr hin. „Wir kannten jeden dort, alles war so vertraut, das hatte eine große Stabilität – und plötzlich war es vorbei.“

Deswegen der Entschluss vor ein paar Jahren, genau dorthin zurückzukehren, ans Meer, zehn Meilen von Enniscorthy entfernt ein Haus zu bauen, um dort jeden Sommer zu verbringen. Es war wie ein Wunder, so nennt er es, eigentlich kriegt man nämlich keine Genehmigung mehr, an der Küste zu bauen. Er hat sie von jemandem geerbt. Seine Mutter und Geschwister habe der Kauf des abgelegenen Grundstücks zutiefst verstört. Sie waren nie wieder an den Ferienort ihrer Kindheit gefahren. „Aber der Duft, wenn ich vom Haus an den Strand laufe, die Salzluft, der Anblick des Klees am Feldrand, der Verlauf der Wege – es hätte keinen Sinn gemacht, woanders hinzuziehen.“ Inzwischen feiert die ganze Familie Weihnachten bei ihm, in seinem Haus am Meer.

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