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Roddy Doyle

© Fred Duval/FilmMagic/Getty Images

Schriftsteller Roddy Doyle: „Viele Iren trinken heute daheim – das ist traurig“

Seine Heimat wird gern mit Folklore verbunden, das passt Roddy Doyle gar nicht. Warum er zuletzt nur Krimis las, Fußball liebt und 2015 sein Mozartjahr wird.

Mr. Doyle, Sie haben als Treffpunkt den Plattenladen Tower Records in Dublin vorgeschlagen. Berühmt wurden Sie 1987 mit dem Roman über eine Band, „The Commitments“, der auch als Film ein großer Erfolg war. Was hören Sie beim Schreiben?

Zeitgenössische E-Musik, Minimalisten wie Philip Glass, Steve Reich, Michael Nyman.

Ziemlich anspruchsvoll, so neben der Arbeit.

Das kommt auf die Lautstärke an. Und die Tageszeit: Am besten funktioniert das nachmittags, da steckt die Musik mich an mit ihrer Energie, das ist der reine Rhythmus. Songs könnte ich nicht hören, die Texte würden mich ablenken. Und 2015 wird mein Mozart-Jahr, ich arbeite an einer Übersetzung von „Don Giovanni“ ins Englische, die perfekte Entschuldigung, das ganze Werk zu hören.

Sie recherchieren gern?

Und wie! Egal, ob’s nötig ist oder nicht. Ich tauche da richtig ein, lese mich durch ganze Gebiete. Wie die Musik bringt das Lesen einen näher ran – an ein klareres Bild oder einen Ton, auf den man sonst nicht käme. Ich glaube, damit mache ich die Zeit wieder gut, die ich an der Uni verplempert habe. Heute, mit 56, bin ich ein Musterstudent. Als 19-Jähriger war ich das nicht.

An der Uni hat’s Ihnen nicht gefallen?

Doch! Ich habe immer gern gelesen und in Geografie, meinem zweiten Fach, mit Leidenschaft Karten studiert, das hat meine Fantasie angeregt. Das mache ich heute noch oft. Akademisch war ich keine Leuchte.

Landkarten, wo heute jeder ein Navi hat?

Ich könnte Stunden mit historischen Karten verbringen. Britische Krimis aus den 30er, 40er Jahren enthalten oft welche. Im Moment lese ich Dorothy Sayers, da gibt’s einen Plan von Schottland, wo die Geschichte spielt. Man könnte auch ohne überleben, aber es macht Spaß.

Wie kommt’s, dass Sie so viele Krimis lesen?

Im letzten Jahr hatte ich einfach keinen Appetit auf Belletristik, der neue Roman von Richard Ford war, glaube ich, der einzige, den ich gelesen habe. Da bin ich in der Buchhandlung auf den Roman einer Frau namens Ladis Mitchell gestoßen. Nie gehört. Den hab ich geliebt. Das gibt einem einen richtigen Kick, wenn diese wohlhabenden Briten sich gegenseitig in ihren riesigen Häusern umbringen. Toll. Das ist albern, aber gleichzeitig steckt da so eine Düsternis drin.

Als Autor interessiert Sie die Musik, die Ihre Figuren hören, mehr als die Klamotten, die sie tragen.

Bei meinem ersten Roman „The Commitments“ hatte ich ja einen Haufen Figuren und musste mir überlegen, wie soll ich die alle unterscheiden? Damals habe ich noch als Lehrer gearbeitet, da stand ich vor demselben Problem. Man hat eine Klasse mit 30 Schülern, und einer heißt, sagen wir: Peter. Was ihn für mich unterschied, war nicht sein Äußeres, die Tatsache, dass er lang und dünn war, sondern seine Sprache. Wie er mich unterbrach oder auch nicht, wie er Fragen beantwortete, zögerte.

Sie gehen, sagen Sie, mit den Ohren durch eine Stadt. Wie würden Sie jemandem, der noch nie hier gewesen ist, den Sound von Dublin beschreiben?

Was Dublin auszeichnet, ist der menschliche Geräuschpegel: dass man mehr Leute miteinander sprechen hört. In der Londoner U-Bahn redet kein Mensch. Niemand! Oder in der Metro in Paris: Als ich mich da mal weggeschmissen habe vor Lachen, haben die Leute mich angesehen, als würde ich die Luft verpesten. Hier wird im Bus nonstop gequatscht. In Indien hab ich das ganz ähnlich erlebt. Als ich dort für Wasser in der Schlange anstand, haben die Leute mich gleich angesprochen: Wo kommen Sie her, was machen Sie hier? Das hat mich sofort an Irland erinnert. In Polen herrschte in der Schlange eisernes Schweigen.

Noch kurz bevor Ihr Roman „Paddy Clarke Ha Ha Ha“ 1993 mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde, haben Sie als Lehrer gearbeitet. Wie war das?

Ich habe in der Arbeitergegend im Norden Dublins, in der ich selber aufgewachsen bin, unterrichtet. Da Dublin Dublin ist und diese Kids diese Kids sind, waren sie sehr lebhaft. Damit kann man unterschiedlich umgehen: indem man ihnen den Mund verbietet oder den totalen Schrecken einjagt. Was nicht so einfach ist, wenn man kein besonders einschüchternder Mensch ist. Oder man versucht, etwas mit der Lebendigkeit anzufangen.

"Es ist in Ordnung, Fehler zu machen"

Roddy Doyle
Roddy Doyle

© Fred Duval/FilmMagic/Getty Images

Sie arbeiten längst nicht mehr als Lehrer.

Ich habe 1993 aufgehört, aber vor einiger Zeit ein Schreibzentrum für Kinder mitgegründet. Dort versuche ich zu vermitteln, dass es in Ordnung ist, Fehler zu machen oder seine Meinung zu ändern. Also das Gegenteil von dem, was die Schule ihnen sagt. Schule ist toll, aber man ist so eingeschränkt durch alle möglichen Zwänge, nicht nur zeitliche, Sorgen um die Zensur … Wir wollen den Kids zeigen, dass es darum beim Schreiben nicht geht. Lehrer zu sein ist ein bisschen wie Elternsein, das ist eine riesige Verantwortung. Was ich dort mache, ist eher wie Großelternsein. Ich bin mittwochnachmittags drei Stunden mit den Kindern zusammen, dann verschwinden sie durch die Tür, und ich auch.

Was wollten Sie Ihren Schülern beibringen?

Den Spaß an der Literatur, an der Sprache. So präzise wie nötig und so offen wie möglich mit den Worten umzugehen. Gleichzeitig war ich mir meiner Verantwortung bewusst: Das waren Arbeiterkinder, die oft als Erste in der Familie eine richtige Bildung bekamen. In den 80er Jahren hatten etliche Eltern überhaupt keine Erfahrung mit weiterführenden Schulen, die wenigsten sind bis 18 zur Schule gegangen, wie es heute üblich ist.

Sie verwenden häufiger das Wort Arbeiterklasse, das klingt wie ein Relikt aus einer anderen Zeit.

Vor ein paar Tagen, als ein Gewerkschaftsführer über die Arbeiterklasse sprach, habe ich mich genau das gefragt, ob er in letzter Zeit mal darüber nachgedacht hat, was das noch bedeuten könnte. Dieser Mann verdient 400 000 Euro im Jahr. Wozu macht ihn das? Oft frage ich mich, ob es bei der „Arbeiterklasse“ nicht ebenso sehr um Haltung wie ums Gehalt geht. Ein Beamter verdient oft weniger als ein Klempner, ist aber solidere Mittelschicht. Allerdings will ich meine Zeit nicht mit soziologischen Definitionen verbringen. Ich bin nur die linken Politiker in Irland leid, die das Wort Arbeiterklasse benutzen, als würden sie in den 30er Jahren leben, ja, leben wollen, und glücklicher wären mit diesen rigiden Unterscheidungen.

Irland wird oft als Folklore verkauft. Wenn man von Schönefeld nach Dublin fliegt, kommt man auf dem Weg zum Gate durch einen irischen Pub ….

… die gibt’s auf der ganzen Welt. Sogar in Peking, glaube ich.

Schaut man sich die Statistiken zum Alkoholkonsum in Irland an, wird heute viel weniger getrunken, vor allem weniger Bier. Auf dem Land werden die Pubs reihenweise geschlossen. Ihr neuer Roman „Punk is Dad“ über den inzwischen 47-jährigen und krebskranken Jimmy Rabbitte aus den „Commitments“ beginnt mit einer langen Szene im Pub.

Viele Leute trinken inzwischen zu Hause, weil es billiger ist, das ist traurig. Sehr traurig. Im Zentrum von Dublin gibt es einige Pubs, die in erster Linie Touristenattraktionen sind, doch es gibt noch eine Menge, die einfach nur Pubs sind. Mit Irland ist es genauso: Irland ist „pure magic“ für die Leute, die zu Besuch kommen. Das ist in Ordnung, es ist Teil der Wirtschaft. Was ich aber sehr ungesund finde: wenn der Tourismus, wie in den 80er Jahren, die einzig blühende Branche ist und man das Klischee leben muss. Nein, ich gehe in den Pub bei uns um die Ecke, um ein Bier zu trinken, zu reden und Fußball zu gucken.

Wie kam es, dass Sie mit Roy Keane, der als Ire für Manchester United gespielt hat, dessen Autobiografie geschrieben haben?

Unter den irischen Fußballern gibt es wahrscheinlich niemand Interessanteren. Mich hat auch die zeitliche Herausforderung gereizt, die Intensität, sieben Tage die Woche, das Buch sollte ja ganz schnell fertig sein. Normalerweise arbeite ich in meinem eigenen Rhythmus. Je älter ich werde, desto offener werde ich für Neues, habe Lust, etwas zu machen, was ich noch nie getan habe.

Normalerweise denkt man, das wäre umgekehrt.

Nein. Neulich habe ich auch das Script für die Londoner Musicalversion von „The Commitments“ geschrieben, das hätte ich früher nie getan. Beides großartige Erfahrungen. Schon als kleiner Junge habe ich mit Begeisterung Fußball geguckt, zusammen mit meinem Vater, der vor Kurzem gestorben ist, das ist ein sehr emotionales Ding. Ich finde es extrem wichtig, die Verbindung zwischen dem Erwachsenen, der man jetzt ist, und der Kindheit offen zu halten. Und Fußball ist der direkteste Weg zurück. Das ist auch das einzige Mal, dass ich beim Fernsehgucken anfange zu brüllen: Go on! Kick it! Als ob die mich hören könnten. Jahrzehntelang hab ich mich mit Fußball beschäftigt – und plötzlich war es so, als wäre all die Zeit nicht verschwendet, sondern Teil der Arbeit: alles Vorbereitung für dieses Buch.

Stellt Ihre Familie keine Ansprüche an Ihre Zeit?

Sie werden Teil der Arbeit. Das Leben ist Recherche. In vielen meiner Romane geht’s um Familie, zum Beispiel das Gefühl von Verlust, sogar Trauer, wenn ein Kind unabhängig wird. Das ist großartig zu beobachten, aber schrecklich, damit fertigzuwerden. Also nutzt man es. Das ist eine der guten Sachen am Schreiben: Lebenserfahrung kann zum Material werden. Nicht in einem autobiografischen Sinne, das hat mich nie interessiert. Aber gefühlsmäßig.

"Trotz der wirtschaftlichen Situation ist die Lebensqualität sehr hoch, die Toleranz ebenfalls"

Roddy Doyle
Roddy Doyle

© Fred Duval/FilmMagic/Getty Images

Ihre Leser verwechseln unter Umständen Fiktion und Wirklichkeit. Als ich einer Londonerin erzählte, dass ich Sie zum Interview treffe, meinte sie: Doyle hat Krebs, aber ich glaube, er ist wieder gesund.

Hab ich nicht. Die Leute sind besessen vom Leben der Schriftsteller, das ist unheimlich. Wenn ich vor 10, 15 Jahren gehört hätte, dass jemand in London glaubt, ich hätte Krebs, wäre ich ins Grübeln gekommen. Jetzt amüsiert es mich.

Wenn Sie über jemanden schreiben, der Krebs hat – stellen Sie sich vor, wie Sie selber auf die Nachricht reagieren würden?

Wahrscheinlich denkt man als Erstes: dann lass es mich so schnell wie möglich hinter mich bringen. Andererseits möchtest du denen, die du liebst, eine positivere Botschaft vermitteln: dass ich mich ans Leben klammere, solange ich mit Euch zusammen sein kann. Aber es redet sich so leicht abstrakt darüber. Ich könnte auch zusammenbrechen, wenn ich die Diagnose bekomme, keine Ahnung.

Hier im Laden stehen Bücher wie: 1000 Gemälde, die du betrachtet haben solltest, bevor du stirbst, 1000 Filme, die du gesehen, 1000 Orte, die du besucht haben solltest …

Ich bezweifle, dass ich mit einer solchen Diagnose um die Welt rasen oder mir die sechste Staffel von „West Wing“ besorgen würde. Wobei ich gerne Serien gucke, mich stört nur die Aufdringlichkeit der Musik: dass die Macher den Zuschauern nicht zutrauen, die Emotionen zu begreifen. Da müssen die Geigen her.

Irland hat sich in den letzten 20, 30 Jahren gewaltig verändert, der Einfluss der katholischen Kirche ist fast verschwunden.

Irland hat sich von einer ländlichen zu einer urbanen Gesellschaft entwickelt, und die Kirche hat an Macht verloren, das stimmt. Aber ich habe manchmal den Eindruck, dass die Veränderungen übertrieben werden.

Abtreibungen …

… sind immer noch illegal, außer aus medizinischen Gründen. Der erste gravierende Einschnitt war die Entkriminalisierung der Homosexualität. Irland ist ein erstaunlich entspanntes Land geworden. Trotz der wirtschaftlichen Situation ist die Lebensqualität sehr hoch, die Toleranz ebenfalls – es gibt keine rechtsradikale Partei. Irland ist traditionell ein Land von Auswanderern gewesen, noch in den 80er Jahren war es sehr arm, da ist niemand hergekommen. Jetzt leben hier Afrikaner, Polen, sehen Sie sich nur die Fußballmannschaften an, das sagt viel über eine Gesellschaft.

Seit einigen Jahren wandern gerade junge Iren wieder aus, weil sie keine Arbeit finden.

Ja, nach Kanada, Australien ... Viele von ihnen sind sehr gut ausgebildet, dadurch sind sie auch besser vorbereitet. Außerdem ist die Welt kleiner geworden durch Skype, Mails, Billigflüge, man ist flexibler, zu kommen und zu gehen. Das heißt, es ist tragisch – aber „tragisch“ kleingeschrieben ...

Sie haben sich mal beklagt, dass viele Ihrer Landsleute nach dem Ende des Celtic-Tiger-Booms taten, als hätten sie nichts damit zu tun gehabt.

Ja, so wie in Großbritannien: Da findet man auch niemanden, der für Maggie Thatcher gestimmt hat. Haben sie aber getan, immer wieder, das war keine Machtergreifung. Es ist bloß schwer, jemanden zu finden, der das zugibt. Hier war es genauso, als die Wirtschaft zusammenbrach, haben sich viele distanziert. Dabei hat die Mehrheit wieder und wieder dieselbe Regierung gewählt. Ich fand das amüsant, dass die Leute erklärten, damit hatten wir nichts zu tun. Als wäre es irgendwie reiner und moralisch akzeptabler, unter harten ökonomischen Bedingungen zu leben. Das halte ich für Bullshit. Aber man kann sich genauso gut darüber amüsieren wie ärgern.

Haben Sie mehr Humor als Wut in sich?

Für mich gehören die beiden zusammen wie Vettern. Auch über eine Krebsdiagnose kann man lachen. Sie haben mich gefragt, wie ich auf die Diagnose reagieren würde. Ich hoffe sehr, dass ich die Leute zum Lachen bringen würde. Wenn mir dieser Wunsch genommen würde, das würde mich mehr verstören als alles Medizinische.

Wir haben über Vergänglichkeit und Wandel gesprochen. Sie tragen seit Jahrzehnten dieselbe Brille.

Diese hier ist neu.

Sieht aber aus wie immer. Was gefällt Ihnen so an der Form?

Wahrscheinlich reine Gewohnheit. Ich brauchte neue Gläser, also hab ich verschiedene Brillen ausprobiert, auch die modischen, schwarzen. Nein! Ich würde mich nie daran gewöhnen. Ich habe ja auch noch eine andere kleinere, aber wenn ich mit der lese, ist das so, als würde ich durchs Schlüsselloch gucken. Diese hier ist schön groß.

Sie könnten sich die Augen lasern lassen …

… das käme mir albern vor, ich trage eine Brille, seit ich acht war. Mein Vater hat das machen lassen, zwei Jahre bevor er starb, da war er 88. Ironischerweise brach alles andere zusammen – aber er brauchte keine Brille mehr. Doch das hat meiner Mutter nicht gefallen. Als sie sich 1947 kennenlernten, hat er eine getragen und plötzlich, 2011, nicht mehr? Also setzte er fortan einfach das leere Gestell auf. Das ist wohl Liebe.

Roddy Doyles jüngster Roman "Punk is Dad" erschien im Verlag Haffmans Tolkemitt (21,95 Euro). Beim Internationalen Literaturfestival in Berlin wird er den Roman am 15. September um 19.30 im Haus der Berliner Festspiele im Gespräch mit Bernhard Robben vorstellen. Außerdem unterhält er sich am 13. September um 18 Uhr im Literaturhaus mit Angelika Fitz und Adam Greenfield über die Zukunftsstadt.

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