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Foto: Kitty Kleist-Heinrich

© Fto: Kitty Kleist-Heinricho

Schriftsteller Uwe Timm: „Ich bin mit Tränen sehr sparsam“

Als Kind faszinierte ihn die Reeperbahn, dafür hat der Schriftsteller Uwe Timm Schwindeln gelernt. Warum er Rom liebt und Wolfgang Joop modisch beraten könnte.

Herr Timm, Sie sind ein bekannter und vielfach ausgezeichneter Schriftsteller. Aber viele werden Ihren Namen vor allem mit dem „Rennschwein Rudi Rüssel“ in Verbindung bringen – wurmt Sie das?

Nein. Dieses Schwein ist doch herrlich anarchisch. Es stellt die ganze Welt auf den Kopf.

Kinderbücher haben Sie geschrieben, Erzählungen etwa über Ihren Bruder, der Mitglied der SS war. Wenn Sie von einem Kollegen mit solch einer Bandbreite hören würden, was wäre Ihr erster Gedanke?

Dass er gut sein muss. Ich denke, wenn einer so extrem auseinanderliegende Sachen packt, und ich unterstelle mal, dass sie von der Gestaltung her gut sind, dann muss er ein breites Spektrum haben. Wahrscheinlich hat er Kinder, auch wichtig. Ich hätte das nie schreiben können ohne Kinder.

Am 30. März werden Sie 75. Haben Sie langsam genug von der Schriftstellerei?

Nein, ich schreibe wieder an einem Buch. Der Stoff bewegt mich seit über 40 Jahren. Und jetzt noch mal zwei, drei Jahre konzentriert. Mehr will ich nicht verraten. Ich bin ein Umschreiber – und das voller Lust. Ich habe im Kopf immer eine Stimme, die sagt: Nein, nein ... Viele Neins – ein Ja, erst dann sitzt der Satz.

Das klingt nach Handwerk. Tatsächlich haben Sie als Kürschner begonnen und Pelzmäntel gemacht.

So eine Karriere ist relativ selten. Maxim Biller hat mal gesagt: Abitur, Kiffen, Paris und Schreiben. Das ist bei vielen Schriftstellern der Lebensweg. Bestimmte Erfahrungen kommen da nicht vor. Ich habe erlebt, was es für Menschen bedeutet, immer malochen zu müssen.

Die jungen deutschen Autoren haben nix erlebt.

Ich will nicht über Kollegen lästern, sondern nur mal ein Buch nennen, von einer jungen Autorin, das mich erstaunt hat: „Die endlose Stadt“ von Ulla Lenze. Diesem Buch merke ich an, dass es Substanz hat. Ansonsten ist mein Eindruck, dass entschieden zu viel Literatur veröffentlicht wird.

Sie leben in München, wir treffen Sie in Ihrer Zweitwohnung in Friedenau. In dieser Gegend wurde die Langzeit-Doku „Berlin Ecke Bundesplatz“ gedreht.

Eine tolle Serie! Einen Rechtsanwalt aus der Doku habe ich mal persönlich getroffen, so ein blonder Typ mit einer durchgeknallten Frau, von der er sich getrennt hat. Den habe ich kennengelernt, als ich an dem Drehbuch über den Boxer Bubi Scholz geschrieben habe, Mitte der 90er Jahre.

Der Film kam 1998 im Fernsehen.

Das war eine unglaubliche Bagage, die an dem Scholz hing, der schon ziemlich verwirrt war. Dazu gehörten seine zweite Frau, sein Berater – ein seltsamer Typ, in dessen Gegenwart man nie das Portemonnaie herumliegen lassen würde – und dieser Anwalt. Das war Alt-West-Berlin, eine merkwürdige halbseidene Mischpoke. Ich habe Scholz zwei Mal länger gesehen. Manchmal war er wie eine Platte, die einen Sprung hat. Dann erzählte er alles noch mal, fast im selben Wortlaut. Ein wirklich tragisches Schicksal.

Begeistert Sie das Boxen?

Es bringt auf den Punkt, was Konkurrenz bedeutet. Aber ich kann mich nicht dafür begeistern.

Ihr Sport ist Fußball. Ihr Sohn hat uns erzählt, er sei von früh an „indoktriniert“ worden, Werder Bremen gut zu finden.

Das war keine Absicht. Das ist mir erst aufgefallen, als sich meine drei Kinder für Werder interessierten. Sie müssten mal erleben, wie sich meine Tochter ärgern kann, wenn wir Fußball gucken. Vor ein paar Monaten hat sie eine kleine Tochter geboren, die trägt einen grün-weißen Body, auf dem steht: Weser-Bomber. Einmal habe ich das entscheidende Spiel im Münchner Stadion erlebt, als Werder Meister gegen Bayern wurde. Auf dem Schwarzmarkt habe ich mir für viel Geld eine Karte gekauft. Da fiel ein Tor, wo der Titan, Oliver Kahn, dem Ball hinterherkrabbelte, als wäre der eine Kinderrassel. Wie hieß der kleine dicke Spieler noch?

Ailton.

"Das war ein Schlüsselerlebnis, ein ziemlicher Schock"

Foto: Kitty Kleist-Heinrich
Uwe Timm, 75, gerade erschien sei Essayband "Montaignes Turm"

© Fto: Kitty Kleist-Heinricho

Unglaublich, wie elegant er den Torwart umspielte. Das hat ja was Vorliterarisches, sich diese ganzen Mythen wieder zu erzählen.

Vergießen Sie Tränen der Wut beim Fußball?

Ich bin mit Tränen sehr sparsam. Das Weinen wurde mir früh aberzogen. Mit zwölf habe ich aufgehört damit. Mein Vater hat Haltung eingefordert. Das war eine sehr deutsche Erziehung: Haltung und Pflichtgefühl, kontrollierte Emotionen.

Einmal haben Sie Ihren Vater ertappt, wie er Tränen vergoss. Wie hat das auf Sie gewirkt?

Das war ein Schlüsselerlebnis, ein ziemlicher Schock. Er hat stets das Bild vermittelt, in jeder Situation gefasst zu sein. Ich war vielleicht 14, und er hatte etwas getrunken an diesem Abend. Es muss etwas Existenzielles gewesen sein, das ihm durch den Kopf ging. Eine große Verzweiflung. Warum weinte dieser Mann mit einem Mal hemmungslos? Ich habe ihn leider nie gefragt.

Ihr Vater sprach oft von Ihrem älteren Bruder, der 1943 im Krieg gestorben war.

Das war nicht gegen mich gerichtet. Doch diese idealisierte Erzählung zog sich durch meine Kindheit. Wenn man beim Essen saß, andere Leute zu Besuch waren, wurde immer von diesem tapferen, einfachen und aufrechten Jungen erzählt. Dieses Bild konnte ja nicht mehr korrigiert werden. In dem Moment, wo er zu spät zum Essen gekommen wäre, irgendwelche Schulden gehabt hätte, hätte sich das schnell relativiert.

Wann haben Sie zum ersten Mal erfahren, dass er bei der SS war?

Ganz früh. Das können Sie sich gar nicht vorstellen, es war völlig normal, so etwas zu erzählen.

Haben Sie verstanden, was das bedeutete?

Bewusst fing es an in der Schule. Eine neue Erziehung wurde von der britischen Militärverwaltung in den Unterricht hineingetragen, diese Re-Education zur Demokratie. Ich hatte das Glück, dass ich einen Lehrer hatte, Herr Bohne, der strikt gegen das Militär war. Sehr früh, in der dritten Klasse, habe ich zum ersten Mal eine Ausstellung über KZs gesehen. Wir waren im Lager Neuengamme in Hamburg, das war wirklich prägend.

Wie haben die Eltern reagiert?

Mein Vater war deutsch-national, kein Nazi. Die Lager fand er fürchterlich und indiskutabel, er redete aber davon, dass er das nicht gewusst habe. Das hörte ich überall. Meine Mutter war differenzierter. Sie hat sich Vorwürfe gemacht, weil sie nicht nachgefragt hatte, wo die jüdischen Nachbarn aus der Osterstraße abgeblieben waren.

Nun erleben Sie die erstarkten rechten Parteien in Europa.

Ich finde das erschreckend. Die Ursachen sind ökonomische Widersprüche: Die Dritte Welt ist verarmt, die Erste schottet sich ab. Ich habe im Oktober ein Flüchtlingslager im Tschad besucht, zusammen mit Arte und von der Uno organisiert. In Paris musste ich am Flughafen umsteigen. Dieser strahlende Luxus, der dort ausgestellt wird, das Bild kehrt sich völlig um, wenn Sie unten ankommen – in eine brutale Armut. Das Lager ist an der Grenze zu Darfur, 50 000 Menschen leben dort seit zehn Jahren unter Militärschutz. Gerade wurde ihre Essensration heruntergesetzt, von 12,5 Kilogramm pro Woche und Person auf vier. Die hungern. Millionen sind von so einer Situation betroffen, und die stehen bei uns vor der Tür. Das ahnt inzwischen jeder. Das Problem wird nicht verschwinden, solange wir es vor Ort nicht angehen.

Wie denn?

Zum Beispiel den Solidaritätszuschlag umleiten. Anstatt zu überlegen, ob wir damit auch Straßen in NRW modernisieren, sollten wir nachdenken, ob wir damit nicht Länder in Afrika unterstützen. Natürlich will das keiner. Ich schätze, 85 Prozent der Bevölkerung würden das ablehnen. Es wäre die Aufgabe der Politik, solche Themen anzusprechen. Das traue ich eigentlich keiner Partei zu.

Und was ist mit Intellektuellen wie Ihnen?

Früher war es leichter, Debatten anzustoßen. Das hat auch damit zu tun, dass wir überflutet werden mit Entsetzensbildern, die dadurch an Kraft verlieren. Auch das Erzählen hat sich verändert. Die Menschen werfen sich nur noch Stichworte zu. Ich bin noch mit mündlich weitergegebenen Erzählungen aufgewachsen. Wie meine Tante in ihrer Wohnküche am Großneumarkt reden konnte, das war eine Kunstform, die es kaum noch gibt.

„Abtreibungen, Fehlgeburten, hartnäckige Tripper, schnelle Nummern in Treppenhäusern“ – darüber, schreiben Sie in Ihren Erinnerungen, sprach man. Da glühten Ihnen als Zehnjährigem die Ohren.

Deshalb bin ich ja hingegangen, weil es der Gegenentwurf zu der kleinen bürgerlichen Welt zu Hause war. Die Tante hatte ihren ersten Mann verlassen und sich für eine Liebesheirat mit einem Mann entschieden, der faul war und deshalb viel Zeit für uns Kinder hatte. Vor der Tür gab es einen Amateurstrich, seitdem ist mir nichts fremd.

"Schwindeln ist legitim"

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Uwe Timm, 75, gerade erschien sei Essayband "Montaignes Turm"

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Als Kind waren Sie gut darin, Ausreden zu erfinden.

In Hamburg gibt es Abstufungen. Lügen bedeutet, dass man dem anderen damit Schaden zufügen kann. Schwindeln ist legitim, das macht jeder von uns mal. Wenn mich jemand anruft, und ich zu meinem Sohn sage: Ich bin nicht im Haus. Und dann gibt es Tünen. Man erzählt eine tolle Geschichte, die so nicht stattgefunden hat. Ich bin als Kind gern auf die Reeperbahn gegangen. Zu meinen Eltern habe ich aber gesagt, ich gehe zum Briefmarkenclub. Deshalb musste ich erfinden, worüber dort gesprochen wurde. So habe ich mir große Kenntnisse über koloniale Briefmarken der Briten angeeignet. Malta, Zypern, Gibraltar, darüber konnte ich wunderbar erzählen, obwohl ich mich in Wirklichkeit auf der Reeperbahn herumgetrieben hatte.

Sie haben sich Frauen angeguckt?

Ja, und all das, was dort passierte. Die Leute waren so ungewöhnlich. Der Hafen war viel näher als heute, nicht so touristisch. Die Schiffe fuhren richtig in die Elbe rein, die Matrosen blieben eine Woche an Land. Auf der Straße machten sie sich an die Frauen ran. Wenn Westwind aufkam, hörten wir die Nieter auf den Werften, wie sie bis tief in die Nacht arbeiteten. Die Stadt roch nach Kohle, weil die Schiffe damit befeuert wurden.

Und die Kürschnerwerkstatt Ihres Vaters?

Wenn die Felle bei uns ankamen, rochen sie nach Holz, weil die mit Sägespänen behandelt wurden. Diesen speziellen Geruch habe ich nie mehr gerochen, weil der Beruf durch die Tierschützer kollabiert ist. Ich habe nach der Schule drei Jahre den Beruf gelernt, das Geschäft übernommen, nachdem mein Vater gestorben war, und es mit meiner Mutter entschuldet. Ich habe eine richtige Ausbildung, ich könnte den Joop modisch beraten.

1961 holten Sie in Braunschweig am Kolleg das Abitur nach. Dort war Benno Ohnesorg einer Ihrer engsten Freunde. Als Sie 1963 zum Studium nach München gingen, war er angeblich von Ihnen enttäuscht.

Weil wir den Kontakt nicht aufrechterhalten haben.

Sie wollten das nicht?

Wir haben zwei Jahre zusammen verbracht, haben beide am Kolleg Lyrik geschrieben. Ich hatte diese merkwürdige romantische Vorstellung, dass man erst wieder voneinander hört, wenn wir veröffentlicht haben. Natürlich ist das bedauerlich, dass ich dann keine Gedichte von ihm lese, sondern von seinem Tod 1967. Ich muss nicht mit allen Freunden in Kontakt bleiben. Sie haben ihren Platz in der Erinnerung. Das ist vielleicht sonderbar und nicht ganz fair. Dafür bin ich 45 Jahre mit derselben Frau verheiratet. Auch nicht normal.

Ihre Frau ist Deutsch-Argentinierin. Dank ihr haben Sie das Land in den 70er Jahren bereist. Wie haben Sie es erlebt?

Am Anfang gab es noch eine Demokratie in Argentinien, die einigermaßen funktionierte. Dann kam der Militärputsch unter Videla, mit diesen ganzen grauenvollen Sachen. Ich sehe Bilder vor mir, die sich eingeprägt haben: Wir fuhren mit dem Auto durch Buenos Aires, da lag ein Toter auf dem Pflaster, der hatte gerade was an die Wand schreiben wollen, ich erkannte ein P, ich sah die Farbe von dem Buchstaben herunterlaufen bis zu dem Toten, neben dem ein Soldat stand.

Eine andere Station Ihres Lebens war Rom. 1981 sind Sie für zwei Jahre dorthin gezogen – in eine Wohnung ohne Heizung, es regnete hinein ...

… und das Essen war bescheiden, wir hatten wenig Geld, konnten nicht in Restaurants gehen, mussten Margarine kaufen, was auch nicht schlimm ist. Das erste Jahr war hart.

Rom hatte ein schlimmes Jahrzehnt hinter sich. Walter Veltroni, später Bürgermeister, erinnerte sich so an die 70er Jahre: „Ich sehe die Kreidezeichnungen auf dem Kopfsteinpflaster, ich höre die Nachrichten von ermordeten Linken, Rechten, Stadträten, Journalisten und Politikern.“ Wieso wollten Sie dorthin?

Das hat mit der ersten Apfelsine zu tun, die ich gegessen habe. Ich war sieben, und mein Vater kam in der trostlosesten Trümmerlandschaft damit nach Hause. Der Geruch einer Zitrusfrucht war einfach phänomenal.

Und Sie haben in die Schale gebissen.

Die Erwachsenen lachten. Ich habe gefragt: Woher kommt diese Frucht? Italien! Das war der Beginn. Später habe ich Goethe gelesen, italienische Filme gesehen. Ich war fasziniert von dieser Stadt. Aber ja, politisch war sie gefährlich. Es gab die Roten Brigaden, ich habe den Aufmarsch der rechten NSI in Erinnerung – wie die Schwarzhemden noch mit „Heil Hitler!“ herumliefen.

Wie hat sich diese Situation im Alltag ausgewirkt?

Rom war hochkriminell. Ich bin gleich zu Beginn überfallen und beraubt worden. Die Aggressivität war extrem. Dennoch hat sich meine Familie wohlgefühlt. Italien ist ein Sehnsuchtsland für uns, trotz aller Probleme dort. Meine Frau und ich fahren jetzt kurz vor meinem Geburtstag nach Rom.

Während all Ihrer Reisen: Hatten Sie mal den Wunsch, nicht zurück nach Deutschland zu gehen?

Nie, ich wollte immer zurück. Das hängt mit der Sprache zusammen. Ich wäre sehr unglücklich, wenn ich auf Dauer wie ein Exilierter in einem Land leben müsste, wo ich mich nicht wie ein Fisch im Wasser in einer Sprache bewegen könnte: dass man mit Leuten zufällig spricht, dass man auf der Straße merkt, welche neuen Wörter kommen. Als ich diese zwei Jahre in Rom war, ist mir das aufgefallen. In der Zwischenzeit kam das Wort geil auf. Eine Frau sagte zu mir: Mensch, das ist geil. Meiner Mutter wäre die Teetasse aus der Hand gefallen, hätte ich das gesagt.

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