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Connie Palmen.

© Doris Spiekermann-Klaas

Schriftstellerin Connie Palmen: „Schmerz ist kein Hindernis für Glück“

Die Bücher von Connie Palmen werden wie Ratgeber für Trauernde verschenkt. Dabei schreibt sie nur gegen das eigene Vergessen an. Ein Gespräch zum Totensonntag.

Wollen Sie hier, im Salon des Hotel Bogota, rauchen?

Wieso nicht? Es ist niemand da. Ich höre, das Hotel muss sowieso bald schließen, wie schade.

Frau Palmen, „Logbuch eines unbarmherzigen Jahres“ haben Sie Ihre Aufzeichnungen über das Leben mit und nach Hans van Mierlo genannt .

Dieses erste Jahr der Trauer hat eine merkwürdige Kadenz: Man lebt in der Vergangenheit, muss den Tod des Geliebten wieder erleben. Das macht das erste Jahr so schrecklich. Weil viele Schriftsteller diese erste Phase irgendwie überleben, ohne zu schreiben, gibt es kaum Informationen.

Wenn Sie sich heute an dieses Annus horribilis erinnern – was denken Sie dann?

Trauer ist unheimlich klar, sie ist der hellste Zustand, in dem sich jemand befinden kann. Sie ist über-hell, monatelang. Die Charaktere der anderen sind hell, man sieht alles, hört alles, spürt sämtliche Untertöne. Alles Unechte erträgt man nicht. Der Körper reagiert wie ein Tier in Not: „Nein, geh weg!“ – „Ja, du komm her!“ Später verliert sich das.

Täuscht der Eindruck, dass Sie in der öffentlichen Wahrnehmung von einer analytischen Schriftstellerin zu einer Trauerberaterin geworden sind?

Man fragt mich dauernd, ob ich im Fernsehen zum Thema Trauer auftreten will. Das will ich nicht.

Welches Angebot hat Sie besonders bestürzt?

1995, nach „I.M.“, sollte ich einen Friedwald eröffnen. Ich habe mir vorgestellt, wie auf einen Stein graviert wird: „Connie Palmen hat am soundsovielten diesen Friedhof eröffnet.“ So eine Platte überdauert ja noch jedes Grab!

Ihre Bücher sind auch deswegen Bestseller, weil sie wie Ratgeber verschenkt werden. In Ihrem Sinne?

Wenn mein Buch jemandem hilft, finde ich das gut. Wenn es literarisch interessant ist für andere Leser, finde ich das auch gut. Ich beschäftige mich nicht damit, was ein Buch tut, wenn es da ist. Dann ist es für die anderen.

Es heißt: Schreibe ein traumatisches Erlebnis auf, dann bist du es los. Bei Ihnen ist es genau andersherum. Sie schreiben, um wieder alles zu durchleben.

Ja, es geht nicht um das Loswerden, sondern um das Einkreisen. Ich hatte ja schon einen Tod erlebt. Doch ich war dumm, ich hatte fast die ersten zwei Jahre nach Ischas Tod vergessen. Das zweite Motiv war literarisch: Ich dachte, wenn die Literatur es nicht schafft, ein so elementares, extremes, aber auch alltägliches Leiden wie Trauer zu beschreiben, ist sie nichts wert. Dann bin ich auch als Schriftstellerin nichts wert. Das Darwinistische am Vergessen hat mich sehr geärgert.

Wie meinen Sie das?

Es ist ein funktionales Vergessen – mit dem Ziel, die Gattung Mensch überleben zu lassen. So, wie man wieder schwanger wird, weil man den Geburtsschmerz vergisst. Wenn ein Geliebter geht, muss man wieder lieben.

Hat es funktioniert, durch das Schreiben van Mierlo nicht zu vergessen? Oder ist er weiter von Ihnen weggerückt, weil Ihre Geschichte nun so vielen gehört?

Nein, es hat funktioniert in dem Sinne, dass ich als Schriftstellerin stolz auf das Buch bin. Die Liebe ist ein wichtiger Teil meines Lebens, aber auch das Schriftstellersein. Das Glück, das durchs Schreiben entsteht, erwachte wieder. Man kann sehr glücklich sein, auch wenn man trauert.

„Neununddreißig Kilo, Kiefersperre, Mund in Fetzen, Rachen in Brand. Magen greint, Darm jammert laut vor Leere, Herz rast, klopft, pumpt wie verrückt. Innen durch und durch kalt, außen perlt Schweiß an den Körperseiten hinunter wie Tränen.“

Schmerz ist kein Hindernis für Glück. Nicht, dass ich den Schmerz genieße, doch wenn man Worte dafür findet, kommt ein Fünkchen Glück dazu.

Connie Palmen über den Unterschied zwischen Literatur und Malerei

Van Mierlo wusste, dass Sie die Anlässe zum Schreiben aus Ihrem Leben nehmen. Er hatte auch „I.M.“ gelesen, das intime Buch über seinen Vorgänger. Es war wahrscheinlich, dass auch er Teil eines Ihrer Bücher werden würde. Fürchtete er sich davor?

Anfangs, als wir uns nur kurz kannten, hat es ihm Angst gemacht. Aber je länger wir zusammen waren, desto mehr hat er sich eigentlich danach gesehnt, das zu wissen. Er hätte es gern gelesen.

Sagte er manchmal: Das ist jetzt aber privat?

Das war nicht nötig, und das hätte er nie getan. Er war ein sehr offener Mensch, eigentlich etwas zu offen. Hans war 40 Jahre in der Politik, aber er ist so unschuldig geblieben. Es war typisch für ihn, in der Nacht nach einem Interview wach zu liegen, weil er zu viel gesagt hatte. Am nächsten Morgen hat er fast jeden Journalisten angerufen: Ich war zu offen, wir müssen dies und jenes rausnehmen …

Sie schreiben, ein Merkmal von Ruhm sei, dass sich Öffentlichkeit und Privatleben stark voneinander abgrenzen. Sie waren ein glamouröses Paar, wurden zum Staatsbankett bei der Königin eingeladen. Ihre Literatur ist trotzdem scheinbar sehr privat.

Das Wort „scheinbar“ ist gut in diesem Zusammenhang, denn sie ist nicht privat. Das ist ein großer Fehler im Denken. Das beste Merkmal von guter Literatur? Sie ist persönlich.

Worin liegt der Unterschied?

Privat ist das, was ich nicht in Worte fasse. Privat ist meist, was ich tue. Indem ich persönlich schreibe, lade ich in dieses merkwürdige Haus meines Verstandes ein. Nur die Literatur kann das. Ein Gemälde lässt dich draußen stehen.

Ja? Es löst doch auch Gedanken aus, weckt Gefühle.

Man kann nur vermuten, was der Maler sich gedacht hat. In Büchern hingegen steht es, Wort für Wort. Natürlich hat Denken immer auch mit Körperlichkeit zu tun. Trauer ist da das beste Beispiel: Sie ist ein Schmerz, der durchs Denken erst verursacht wird. Durch Erinnerung, Einbildung, Vorstellung. Man leidet körperlich.

Im Buch lesen sich die Symptome Ihrer Trauer wie Entzugserscheinungen. Sie ziehen selbst die Parallele von der Liebe zum Rausch.

Das ist einander sehr ähnlich. Ich trinke nicht mehr, aber meine Abhängigkeit ist groß. Warum bin ich so abhängig? Eigentlich hat es mit dem Gegenteil zu tun. Ich habe mein Leben autonom gelebt und habe eine große Unabhängigkeit erworben, auch gegenüber meinen Eltern. Ich änderte die Gesetze, von denen ich in meiner Jugend abhängig war. Für diese Souveränität im Denken zahlt man auch einen Preis – und doch möchte ich sie bewahren. Ich habe die Freiheit, mit diesem Körper zu tun, was ich will. Auch, wenn es schlecht ist.

Sie trinken doch nicht mehr.

Nicht mehr rauschhaft.

Das geht?

Es war schwierig. Ich hatte einen Berater und Medizin. Ich habe gleich gesagt, ich will nicht nie mehr trinken. Das „nie mehr“ hasse ich. Ich will keinen Abschied mehr, von nichts. Ich werde wieder trinken, ich möchte das kontrolliert können. Das geht, ich weiß nicht, wie lange, aber jetzt schon.

2010 haben Sie sich abends betrunken neben Ihren Stuhl gesetzt und wachten mit einer Beule auf.

Ich hatte jeden Morgen Scham.

Ihre Disziplin war mal die eines Thomas Mann.

Die war weg.

Sie begannen mit losen, tagebuchartigen Notizen – obwohl Sie die Gattung eigentlich verachten.

Ich bin kein großer Tagebuch-Leser, mich langweilt das zu schnell. Für mich war das zu mädchenhaft. „Logbuch“ finde ich so viel stärker. Das hat etwas Kaltes, das mir gefällt.

Hatten Sie als Mädchen ein Tagebuch?

Hmm, ja, ich habe noch eine ganze Regalreihe. In den 60er Jahren war ja alles indisch und roch nach Patschuli. Diese Bücher auch. Ich hoffe jeden Tag, dass ich keinen Herzinfarkt bekomme und plötzlich – ich muss die alle noch verbrennen.

Das hätten Sie doch schon längst tun können.

Es ist wirklich schwierig, das zu tun.

Warum haben Sie es noch nicht geschafft?

Vielleicht steht noch etwas drin.

Die Schriftstellerin erzählt von ihrem Stalker

Sie schrieben täglich in Ihr Tagebuch?

Ja, aber ich hab’ nicht weniger gelogen in meinem Tagebuch als in meinem Alltag.

Mario Vargas Llosa sagte, ein Schriftsteller muss die Wahrheit zutage lügen.

So war es nicht. Ich hatte Angst vor den eigenen Gedanken, genauer gesagt: davor, schlecht zu denken über andere. Als Kind siehst du, dass es nicht hundertprozentig wahr ist, wenn alle einen Menschen ganz toll finden. Es muss aber verschwiegen werden. Mein Denken war erst frei, als ich wirklich zu schreiben begann.

Was musste dafür geschehen?

Ich hab’s mir erlaubt. Ich wusste: Später werde ich es alles sagen. Ich habe damit angefangen in dem Moment, als mein Philosophieprofessor mich gefragt hat, ob ich seine Assistentin werden möchte. Da dachte ich, jetzt erfülle ich entweder den Traum meiner Eltern – dann werde ich Professorin und unglücklich. Oder ich sage meinen Eltern ein ganz großes „Nein“, um das andere, größere „Ja“ zu sagen. Das „Nein“ zu einem vorgezeichneten Weg war der wichtigste Moment meines Lebens.

Andere träumen von so einer Laufbahn.

Schrecklich! Dann hätte ich gelebt, wie ich bis dahin gelebt hatte. Ich war ja schon erschöpft, wenn ich zwei Stunden mit Menschen zu tun hatte. So erschöpft davon, nicht zu sagen, was ich denke.

Eine Wissenschaft wie die Philosophie ist doch gerade gemacht für präzise Kommunikation, Ideen …

… das denkt ihr! Nein. Das hat mit der Philosophie als Lehre nichts zu tun. Ich hätte nicht mit Menschen umgehen können, wie ich das gewohnt bin. Dass da immer Kollegen gewesen wären …

Frau Palmen, Sie hatten Stalker. Einer wollte Sie umbringen. Hat das mit Ihrer Art, zu schreiben, zu tun?

Ja, das denke ich. Man hat Stalker, weil man Menschen in die Einsamkeit seines Verstandes einlädt. Lennon und Salinger taten es. Und es ist der Effekt eines Stils. Stil ist Persönlichkeit. Ein Stalker denkt, dass er mich kennt. Es ist auch ein bisschen wahr.

Nach van Mierlos Tod zogen Sie von Ihrer Wohnung, in der Sie regelmäßig in Klausur gingen, in sein Haus in der Herengracht. Sie wollten ein offenes Haus, mit Freunden und Familie.

Das war Absicht, weil ich mir ziemlich sicher bin, dass ich keine neue Liebe will. Ich ertrage sie nicht mehr. Es war gut. Es war gut genug. Es war herrlich.

Ist es eine Entscheidung, ob man sich verlieben will oder nicht?

Das weiß ich nicht, aber ich hoffe es. Freundschaft wird dann wichtiger. Die Familie auch. Das ist Intimität, die ich ertrage.

Haben Sie einen guten Ausblick?

Wasser, die Gracht. Bäume. Die wunderschönen Häuser der Nachbarn, alles alt. Mein Haus ist von 1614, eines der ältesten Häuser in Amsterdam.

Die Holländer haben keine Vorhänge, das wissen bei uns schon Grundschüler.

Es ist vielen wichtig, dass man hineingucken kann. Bei mir geht es nicht: Ich habe American Blinds.

Gucken Sie denn bei anderen?

Natürlich! Ich kann die Menschen doch nicht im Stich lassen.

Sie sezierten Ihre Trauer ganz genau. Die übliche Form, auf den Verlust eines Menschen zu reagieren, sind traditionell Rituale.

Ich trug Hans’ riesige Pullis. Es hilft, wenn man jemandem ansieht, dass er im ersten Jahr der Trauer ist. Man hat es dann mit einer Person zu tun, die ein bisschen wahnsinnig ist. Die muss man anders behandeln. Aber es gibt so viele Stunden an einem Tag, da reichen die Rituale nicht aus. Stunden, die man nur hinter sich bekommen will. Das ist das Schreckliche: Die Zeit ist IM ANFANG ]dein Feind. Jede Stunde sind 60 Minuten zu viel. Das ist, was Leiden ist. Es dauert Monate. Und dann mit einem Körper, der sich nur sehnt. Das ist Trauer.

Am 14. Februar, Ischa Meijers Todestag, feiern Sie ein Fest mit Freunden.

Jedes Jahr. Aber langsam werden es zu viele Todestage. Meine lieben Damen, ich werde jetzt mal ganz unverschämt auf meine Uhr gucken … sie geht falsch, und es ist eine Rolex!

18 Uhr 30. Haben eigentlich Ihre Eltern Ihre Bücher gelesen?

Mein Vater nicht. Er starb kurz nach „Die Freundschaft“, drei Monate nach Ischa. Meine Mutter ja.

Dann müsste sie auch verstehen, wie kritisch Sie diese Generation sehen. Sie glauben, dass Ihre Eltern, vom Krieg geprägt, Sie zum Glücklichsein verpflichten wollen. Sie nennen das „Das Joch des Glücks“.

Ich denke auch, dass meine Mutter es versteht. Nur erträgt sie es nicht, dass ich das alles so empfinde. Sie kann gut verdrängen. Und ich kann nicht zu ihr sagen: Mutter, es schmerzt mich so, wie du läufst, wie du guckst, wie du sprichst, wie du kochst. All diese Bemühungen von Menschen, gut zu leben, greifen mich an, jeden Tag eigentlich. Wenn ich sterbe, ist das aus diesem Mitgefühl heraus. Mir ist klar: Das ist megaloman, es geschieht aus einer Überlegenheit heraus. Ich schaffe es schon, aber du nicht. Ich ertrage es schon, aber du nicht. Und du nicht. Und du auch nicht.

Was macht Sie glücklich?

Fast alles, ich bin ein ziemlich glücklicher Mensch. Einfach in der Welt zu sein, das hat mich immer unglaublich glücklich und panisch gemacht. Fast unbegreiflich finde ich das. Jeden Tag.

Überhaupt zu leben?

Überhaupt zu leben. Das habe ich seit meiner Kindheit, täglich. Ein ziemlich erschöpfendes Gefühl, aber auch lekker.

Offenbar haben Sie nicht nur eine Art, Beziehungen intensiver aufzuschreiben, als andere – Sie erleben die Liebe intensiver.

Ich kann mir das erlauben. Es ist das Resultat daraus, schon sehr viel „Nein“ gesagt zu haben. Denn ich hab’ keinen Mann gewählt, weil ich Kinder wollte und ein Haus und Ruhe – sondern nur, um lieben zu können. Nicht wegen Geld und Status. Das hatte ich alles schon. Ich konnte nur lieben um der Liebe willen.

Und warum haben die Männer Sie gewählt?

Weil ich so witzig bin! Weil ich so bin. Man muss so etwas Radikales wie mich ertragen können. Es muss eigentlich die Erfüllung des Traumes von Liebe sein, den der Mann auch hat. Sowohl Ischa als auch Hans hatte diesen Traum. Gott sei Dank.

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