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Marli Baros vor der Kulisse der Millionenstadt Rio.

© Lichterbeck

Schwarze Frauen in Brasilien: Die Kriegerinnen

Sie sind schwarz, weiblich, erfolgreich: Das ist neu in Brasilien, denn die Gesellschaft ist zutiefst gespalten und von Weißen dominiert. Drei Frauen erzählen, wie sie es geschafft haben.

Wenn Marli Barros die Runde um 23 Uhr begann, steckte sie ihren Revolver ins Halfter und fragte: „Kommt heute einer mit?“ Ihre Kollegen murmelten ablehnend, sie wollten lieber schlafen oder Fernsehen gucken. Marli Barros fuhr also alleine über die Raffinerie eines großen Ölkonzerns, wachte darüber, dass niemand eindrang, um zu stehlen oder zu sabotieren. Die nächtliche Patrouille konnte mehrere Stunden dauern, und es war streng verboten, sie alleine zu unternehmen.

„Ich war die erste schwarze Frau im Sicherheitsapparat des Konzerns“, sagt Barros. Die 37-Jährige reist nun als Logistikerin in die hintersten Winkel Brasiliens, um für denselben Konzern Probebohrungen nach Öl- und Gas zu begleiten. Wieder ist sie die einzige Schwarze im Team. „Ich beiße mich durch“, sagt sie. „Das kann ich gut.“

Einmal im Monat besucht Marli Barros ihren Vater. Ihr silberfarbener Geländewagen parkt auf dem kleinen Bauernhof im Hinterland des armen brasilianischen Bundesstaats Bahia, zwischen den geduckten Häuschen, den Hühnern, den Bohnenfeldern und Limettenbäumen.

Hier wurde sie geboren und von einer Tante aufgezogen, weil ihre Mutter nach der Geburt fortging und ihr Vater den ganzen Tag arbeitete. Es sprach wenig dafür, dass sie einmal Jura studieren, einen gutbezahlten Job finden, eine Wohnung in der Millionenstadt Salvador kaufen und als Erste aus ihrem Dorf durch Europa reisen würde. Und dass sie einmal sagen wird: „Ich bin von keinem Mann abhängig.“

Die neue Generation

In Deutschland hieße Marli Barros wahrscheinlich „Powerfrau“. In Brasilien sagt man Guerreira, Kriegerin. Sie zählt zu einer neuen Generation schwarzer Frauen, die sich den klassischen Rollen verweigert, die eine immer noch kolonial aufgebaute Gesellschaft vorsieht: Putzfrau, Kindermädchen, Kassiererin.

Stattdessen sind diese Frauen Unternehmerinnen, Schauspielerinnen, Technikerinnen. Sie verdienen eigenes Geld, wollen die Welt sehen, haben höhere Ansprüche an Partner. Viele von ihnen kommen aus einfachen, armen Familien und verdanken ihren Aufstieg auch den neuen Möglichkeiten, die das Wachstum Brasiliens in der letzten Dekade eröffnet hat. Sie hatten die Möglichkeit zu studieren, eine Ausbildung zu machen – Wege, die ihren Eltern verschlossen blieben.

In Brasilien war der Lebensweg eines Menschen jahrzehntelang von der Herkunft abhängig. Wer arm geboren wurde, blieb es auch. Und wer schwarz war, war in der Regel arm. Ganz unten in der Hierarchie: schwarze Frauen. Sexuell traute man ihnen alles zu, intellektuell wenig.

Die Revolution in der Telenovela

Viviane Porto ist Schauspielerin in einer Telenovela.
Viviane Porto ist Schauspielerin in einer Telenovela.

© Lichterbeck

Es gibt in Brasilien einen verlässlichen Seismografen für gesellschaftliche Verschiebungen: die Telenovelas des Fernsehsenders Globo TV. Was dort verhandelt wird, ist im Mainstream angekommen. Seit März läuft zur besten Sendezeit die Serie „Babilônia“, benannt nach einer Favela an den Hängen der Copacabana. Das Neue daran: Einige Hauptfiguren sind schwarze Frauen, die nicht wie sonst als Hausmädchen in den Luxusapartments weißer Familien arbeiten, sondern Anwältin und Kleinunternehmerin sind.

Viviane Porto spielt in „Babilônia“ eine wortkarge schwarze Friseurin, die von ihrer Chefin – selbst dunkelhäutig – entlassen wird, weil sie in der Favela wohnt. Porto glaubt, dass die Novela eine Revolution sei. Sie werde einmal als Schlüsselmoment begriffen, sagt sie. Der ganze soziale Dünkel Brasiliens komme mit verblüffender Offenheit zur Sprache. Es gehe um Rassismus, Homophobie, Armut, Stereotype

Vorbild: weiße Mädchen mit glatten Haaren

Viviane Porto stammt selbst aus einfachen Verhältnissen. Sie wuchs in São Paulo als Tochter einer alleinerziehenden Mutter auf, die hart arbeitete, um Viviane auf eine gute Schule zu schicken. Dort war sie unter 2000 Schülern nur eins von zwei schwarzen Mädchen. Mit 15 schloss sie sich einer Theatergruppe an und wurde dann von einem TV-Ballett engagiert. 50 Tänzerinnen traten dort auf, nur zwei waren schwarz. Der Rest: weiße Mädchen mit glatten Haaren, dem Schönheitsideal Brasiliens entsprechend, das sich an Europa orientiert.

Anschließend bekam Porto Nebenrollen in Rührstücken wie „Verrückte Leidenschaft“. Sie lernte ihren späteren Ehemann kennen, einen Italiener, bekam zwei Kinder und lebte in Triest. „Babilônia“ ist für sie der Wiedereinstieg in die Schauspielerei. Allerdings gibt es ein Problem: Die Telenovela verliert dramatisch an Einschaltquoten. „Es werden Wahrheiten ausgesprochen, die die Brasilianer nicht hören wollen“, sagt Porto. „Das Land schaut ungern in den Spiegel, weil es erkennen müsste, dass es nicht so schön ist, wie es glaubt.“

In Brasilien existiert der Begriff „Rassendemokratie“, es ist die Entsprechung zum US-amerikanischen „Schmelztiegel“. Oberflächlich gesehen, vermischen sich die Menschen in Brasilien viel ungezwungener als in den USA.

Mischehen unter Ärmeren

Ein Drittel der Heiraten werden hier zwischen Partnern geschlossen, die sich verschiedenen Ethnien zurechnen (diese bestimmt jeder im Zensus für sich selbst). Allerdings gehört auch zur Wahrheit, dass fast ausschließlich die Ärmeren gemischt heiraten. Je weiter man in der gesellschaftlichen Hierarchie nach oben schaut, umso monotoner wird es.

Im Zensus von 2010 definierten sich 52 Prozent der Brasilianer als schwarz. Aber an den Tischen der besseren Restaurants sitzen ausschließlich Weiße, die Dunkelhäutigen arbeiten in der Küche. In Rios Neureichenviertel Barra da Tijuca (Hauptaustragungsort der Olympischen Spiele) sind 90 Prozent der Haushalte weiß, schwarz sind die weiblichen Bediensteten. Während der Fußball-WM wunderten sich viele Besucher über das hellhäutige Publikum in den Stadien: Das waren die Brasilianer, die sich die Tickets leisten konnten.

Die Wirtschaft ist farbenblind

Brasilien präsentiert sich gern als farbenfrohe und -blinde Nation. Umso schockierender die Abgründe. Als Globo TV dieses Jahr erstmals eine Schwarze als Wetterfee engagierte, schwappte eine Welle von Hass durch das Internet. Der Nachrichtenchef des Senders war gezwungen, Strafanzeige zu stellen.

Noch extremer sind die Zustände in Politik und Wirtschaft. Die Vorstände der 380 an der brasilianischen Börse notierten Firmen sind ausnahmslos weiß. Unter den 38 Ministern im Kabinett von Präsidentin Rousseff findet sich ein Schwarzer: der Minister für ethnische Gleichstellung. Brasilien hat 26 Gouverneure: 25 weiße Männer, eine weiße Frau. Kaum eine Elite hat höhere Mauern um sich herum gezogen. Manche nennen das soziale Apartheid.

Der Parlamentsabgeordnete Jair Bolsonaro, der bei den letzten Wahlen in Rio die meisten Stimmen erhielt, wurde kürzlich gefragt, was er tun würde, wenn einer seiner Söhne sich in eine schwarze Frau verlieben würde. Er antwortete: „Das ist unmöglich, ich habe sie gut erzogen.“ Seine Wähler feierten ihn.

Die Zauberhände von Julide

Julide Gomes in ihrer Praxis in Ipanema.
Julide Gomes in ihrer Praxis in Ipanema.

© Lichterbeck

Es sind solche Episoden, die Brasilien eine Auseinandersetzung mit sich selbst aufzwingen. Und es sind Frauen wie Julide Gomes, deren Lebenslauf eine Antwort auf Politiker wie Bolsonaro ist. Auch wenn er klischeehaft beginnt. Als Julides Eltern sich kennenlernten, war ihre Mutter zwölf Jahre alt – und kurz darauf schwanger. Nichts Besonderes in Bahia, im Nordosten Brasiliens. Julides Vater zeugte 32 weitere Kinder mit unterschiedlichen Frauen, Julides Mutter starb mit nur 36.

Sie selbst war noch keine zehn Jahre alt, als sie fortging. „Ich war frühreif“, sagt sie „Und ich wollte ein anderes Leben.“ Also zog sie nach Rio de Janeiro, arbeitete als Kindermädchen bei einer Tante. Für die Schule blieb keine Zeit, mit 13 konnte sie weder lesen noch rechnen. All das holte sie in wenigen Jahren nach, bewarb sich erfolgreich auf Rios bester Schule für Physiotherapie. „Ich habe nie geheult, obwohl ich allein war.“

Komische Blicke im Fitnessstudio

Heute betreibt die 32-jährige Gomes eine Praxis für Physiotherapie in Ipanema, Rios Luxusviertel, wenige Meter vom berühmten Strand entfernt. Ihre Kundinnen: Frauen aus der Oberschicht, die im Internet schwärmen: „Julide hat Zauberhände.“ Doch wenn Julide Gomes ins teure Fitnessstudio geht, glauben viele, sie habe sich einen reichen Mann geangelt, der ihre Mitgliedsgebühr zahlt.

Mit Anfang 20 heiratete Julide Gomes – und ließ sich wieder scheiden. „Die brasilianischen Männer sind schwach“, sagt sie. „Die wissen nicht, wie man mit starken Frauen umgeht. Wir passen einfach nicht in ihr Bild.“ Nun ist sie mit einem Ungarn zusammen – den sie ins Restaurant einlädt. Darauf legt sie Wert.

Bildung hilft

Der Wandel ist jung, fragil und mag nicht von Dauer sein. Aber er ist da. Seit 2002 sind 30 Millionen Brasilianer in die untere Mittelklasse aufgestiegen. Dank Wirtschaftswachstum und umfangreicher Sozialprogramme. Diese Mobilität ist nun durch den Einbruch der Wirtschaft und eine tiefe Krise des politischen Systems gefährdet. Brasilien erlebt eine Welle des Ultrakonservatismus. Die Eliten möchten die alte, quasi-koloniale Ordnung wiederherstellen, Rufe nach einem Putsch werden laut.

Wenn man die drei Frauen fragt, ob es ein Mittel gegen diese Tendenz gibt, sagen sie: Bildung. Julide Gomes verbrachte als Teenager ganze Tage in der Bibliothek. Viviane Porto wurde von ihrer Mutter animiert zu lesen. Marli Barros sagt: „Bildung ist der Schlüssel, damit sie das Rad nicht wieder zurückdrehen.“ Die drei Kriegerinnen haben es geschafft. „Unsere Hautfarbe mag uns immer noch Türen verschließen“, sagt Julide Gomes, „aber sie tauschen? Niemals.“

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