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Buntes Treiben. Ekstase auf der Pride-Parade.

© Visit Palm Springs

LGBTI-Gemeinde in Kalifornien: Palm Springs - die queerste Stadt der Welt

Fast die Hälfte der Bevölkerung gehört in Palm Springs zur Homo-Gemeinde, und im Stadtrat sitzen sogar ausschließlich Mitglieder der queeren Community.

Bob Gross steht um sechs Uhr auf. Wenn Palm Springs noch Konturen hat, die kahlen Berge in den blauen Himmel ragen, die schroffen Zacken sich mit scharfen Umrissen abzeichnen. Leuchtende Farben, klare Linien, ein Bild wie von Kalifornien-Fan David Hockney gemalt. Das will Gross sehen, in natura, am besten bei Sonnenaufgang. An diesem Ort, der so viele Menschen fasziniert, weil er eine besondere Energie habe, sagt der 66-Jährige.

Am Rand der kalifornischen Wüste, nahe des San-Andreas-Grabens, also im potenziell gefährlichen Erdbebengebiet, leben Männer wie Gross in einer Idylle. Ältere Schwule, die ihr Berufsleben hinter sich gelassen, in der Gegend ein Haus gekauft und sich unter Himmelblau noch einmal neu erfunden haben. In Palm Springs können sie die Freiheit leben, die ihnen jahrzehntelang vorenthalten wurde: Hand in Hand mit dem Partner über die Straße gehen, ihn spontan umarmen, ohne Beleidigungen oder gar Handgreiflichkeiten zu riskieren.

Palm Springs ist schwul, sehr schwul, offiziell sogar richtig schwul. Die 45.000 Einwohner zählende Gemeinde hat seit einem Jahr den weltweit ersten Stadtrat, der nur aus Mitgliedern der LGBT-Community besteht. Einen schwulen Bürgermeister, drei schwule Abgeordnete, eine bisexuelle und eine Transgender-Frau. „Etwa 40 Prozent aller Einwohner sind Teil der Community“, sagt Bob Gross, der für Besucher eine Gay Tour durch die Stadt anbietet. Er ist groß, kräftig, sonnengebräunt und trägt ein Basecap. Früher hat er für die Telefongesellschaft AT&T Callcenter im gesamten Land koordiniert, heute ist er offiziell Tourguide und inoffiziell ein „Silver Daddy“. Sportlich, grau meliert, unternehmenslustig.

Nah am Studio, weit weg vom Hollywood-Rummel

Von diesen Männern gibt es viele in Palm Springs. Morgens führen sie ihre Hunde im Design District Gassi, nachmittags trinken sie Frappuccino in einem der Cafés und reden über das ganztägige Frühstück im „Pinocchio in the Desert“, wo man Champagner zum Flatratepreis (4,95 Dollar pro Kopf) bekommt. Abends treffen sich die Männer im „Kaiser Grille“ zu feinem Steak, während vor dem Lokal ein Obdachloser mit enger Pailettenhose und schulterlangem Glitzer-Bandana ruft: „Mein Hubschrauber hat keinen Parkplatz gefunden.“

Bob Gross fährt durch das Viertel Warm Sands, in dem es ein Clothing Optional Resort neben dem nächsten gibt, Hotelanlagen mit der Möglichkeit, nackt über Gänge und Gehwege zu laufen. Bei schwulen Touristen sind diese Übernachtungsmöglichkeiten beliebt. Mann weiß gleich, was Mann bekommt. Allein zur jährlichen Pride-Woche Anfang November kommen 60 000 Zuschauer, wohnen und feiern auch in Warm Sands, hinter heckenbewachsenen Mauern und verschnörkelten Eingangstoren.

Gross lenkt den Wagen hinauf nach Las Palmas, eine Kolonie von exklusiven Residenzen. Vorbei an der Nudistenbrücke, einer unspektakulären Konstruktion mit blickdichtem Geländer, die zwei Nackedei-Resorts miteinander verbindet. Der Guide stoppt den Wagen, vor ihm eine schattige Auffahrt mit einem kleinen Klavier als Briefkasten. „Der Grund, warum Palm Springs schon früh für Schwule interessant war“, sagt er und zeigt auf die Hecken mit den dahinter liegenden Anwesen, „war Hollywood“. Ab den 1920er Jahren banden die Filmstudios ihre Schauspieler mit Verträgen an sich. In jedem stand die sogenannte Zwei-Stunden-Klausel. Kein Darsteller durfte weiter weg als zwei Stunden von Los Angeles wohnen. Palm Springs erfüllte diese Voraussetzung ganz knapp. Nah genug am Studio, weit weg vom Rummel.

Liberace ließ Jungs aus Frankreich einfliegen

In der Abgeschiedenheit des Coachella Valley, zwischen den 3000 Meter hohen San Jacinto Mountains, konnten die Stars tun, was sie wollten, hetero- wie homosexuelle. Rock Hudson hatte ein Anwesen nahe Palm Springs, wo er mit seinem Partner lebte. Greta Garbo entspannte hier, von ihr munkelte man, dass sie Frauen genauso mochte wie Männer. Cary Grant lebte mit seinen fünf Ehefrauen in Palm Springs – und um die Ecke sein Busenfreund Randolph Scott, von dem niemand genau wusste, ob er vielleicht auch ein Mann für gewisse Stunden war. „Das war eine Zeit vor TMZ“, sagt Gross und bezieht sich auf die im heutigen Hollywood gefürchtete Klatschwebsite.

Der Ruf zog auch jenen Herrn an, der seinen Briefkasten so originell mit einem Piano gestaltete: den Entertainer Liberace. Für sein Haus bestellte er außerdem einen Eingang mit weißen Löwenfiguren, griechische Skulpturen, römische Säulen und eine Kopie der Freiheitsstatue. Nicht gerade eine Einladung zum Wegschauen. Der Pianist mit Show in Las Vegas war ab den 50er Jahren für seine extravaganten Kostüme, ondulierten Haare und das öffentliche Leugnen seiner Sexualität bekannt. Im Scheinwerferlicht grüßte er seine weiblichen Fans, für den heimischen Swimmingpool ließ er Jungs aus Frankreich einfliegen. 1987 starb er in Palm Springs an den Folgen der Immunschwächekrankheit Aids.

Gross winkt einem Gärtner zu, der den Rasen harkt. „Wollt ihr rein?“, fragt der alte Mann mit Sonnenbrille und Kinnbart, die Besitzer seien gerade verreist. Also hinein in den Innenhof des flach gebauten Hauses, wo ein riesiger rosaroter Plastikflamingo im Pool dümpelt. Durch die Fensterscheiben zeigt Gross auf einen gerahmten Tapetenfetzen, auf dem Musiknoten gedruckt sind. „Die hatte Liberace früher in der Küche.“ Gar nicht so groß das Haus, 100 Quadratmeter Grundfläche, beinahe bescheiden. Er war doch der Sonnenkönig unter den Unterhaltern! Bob Gross grinst. Deshalb habe sich der Künstler in den 70er Jahren um die Ecke eine neue und größere Villa zugelegt.

Alles nicht schwul genug, bloß weg hier

Stillleben in der Villa von Entertainer Liberace.
Stillleben in der Villa von Entertainer Liberace.

© Ulf Lippitz

Wenige Minuten später biegt Gross mit dem Jeep in den Camino del Norte ein. „Nicht zu Hause“, sagt er, als er an einer Hecke vorbeifährt. Wäre der Eiskunstläufer Brian Boitano, der Olympiasieger von 1988, nämlich da, hätte er die amerikanische Flagge mit dem Regenbogensymbol gehisst. Dann fährt Bob Gross noch an den früheren Villen von Elvis Presley, Marilyn Monroe und Elizabeth Taylor vorbei, an dem Haus, in dem John F. Kennedy einige Monate verbracht hat, und dem modernistischen Anwesen, das Leonardo DiCaprio gekauft hat. Alles nicht schwul genug, bloß weg hier.

Zurück zur Arenas Road in Downtown, zehn Minuten mit dem Auto, wo an einem Block eine queere Bar neben der anderen eröffnet hat. Dazwischen gibt es einen Gay Mart, in dem schwule Überlebensmittel gehandelt werden: Gleitcreme, Glückwunschkarten, Regenbogenbadehosen. Für schwule Touristen spielt sich hier das Nachtleben ab. Erst Happy Hour mit Martini-Cocktails, dann ein Schnitzel um die Ecke bei „Johannes“, dem Tiroler Gastronomen, der allerdings, Schönheitsfehler, hetero ist. „Unser Castro“, sagt Bob Gross und meint damit das Homoviertel von San Francisco. Aus der Stadt, die in den 70er Jahren für die Liberalisierung an der Westküste stand, zogen in den vergangenen Jahren viele Schwule und Lesben nach Palm Springs. San Francisco zählt zu den teuersten Städten des Landes, Palm Springs ist dagegen für die Mittelschicht noch bezahlbar.

Lisa Middleton ist sozialer Wohnungsbau ein Anliegen

Doch auch dort bestimmen zunehmend Debatten über günstigen Wohnraum die öffentliche Diskussion. Lisa Middleton ist sozialer Wohnungsbau ein Anliegen. Mit diesem Thema hat sie vor einem Jahr die Stadtratswahlen gewonnen – als erste Transgender-Frau der USA, die in ein politisches Amt gewählt wurde. Middleton ist 66 Jahre alt, sie trägt ein schlichtes Kostüm und einen Seitenscheitel. Sie sitzt im Garten des „Koffi“, an den sieben anderen Tischen sitzen fast nur Männer, an einem trinkt eine Frau mit ihrem Begleiter einen Kaffee. Möglicherweise ihr Freund, aber das zu behaupten, wäre heteronormative Spekulation.

Die Stadträtin arbeitete lange in einer Behörde in San Diego, jedes Jahr fuhr sie mit ihrer Partnerin nach Palm Springs, um den gemeinsamen Jahrestag zu feiern. Als sie 2010 in den Ruhestand ging, zog das Paar endgültig her. Und wie das so ist mit Rentnern: Sie haben Zeit. Also engagierte sich Middleton in einer Nachbarschaftsinitiative, in einer Gesellschaft für Gartenbau, saß bald im Aufsichtsrat des LGBT-Zentrums und schließlich im Rathaus. Längst nicht nur mithilfe der liberalen Kräfte. Ihre zwei größten finanziellen Unterstützer waren Republikaner. „Zwei weiße Heteros“, betont sie. Rhinos, wie sie sagt. Wähler, die „Republican in name only“ sind, also nur dem Namen nach den Konservativen nahe stehen.

Junge Leute besuchen die Stadt als Touristen

Lisa Middleton spricht mit sanfter, aber bestimmter Stimme, womöglich weil sie sich jahrelang antrainiert hat, ruhig ihre Argumente vorzutragen. Warum sie und viele andere Menschen aus der LGBT-Community nach Palm Springs gezogen sind, erzählt sie, hat noch einen anderen Grund. „Die gesundheitliche Versorgung“, sagt sie. Viele Kliniken haben sich im Valley niedergelassen, einige verfügen über exzellente Stationen, die HIV-Infizierte oder Transgender-Patienten behandeln. Manche Einrichtungen richten sich nur an diese Zielgruppe. Auf regelmäßig stattfindenden Charity-Events spendet die vermögende Klientel freigiebig für einige der Projekte. Ehrenamtliche Tätigkeiten gehören für viele der Pensionäre zum gesellschaftlichen Alltag.

Klinikbesuche, Dinnerpartys, Spendenmarathons. Klingt nach Rentnerparadies. Junge Leute leben weniger hier, besuchen die Stadt jedoch als Touristen. Wenn im März die lesbische Dinah Shaw Party und im April die schwule White Party anstehen, steigen Zehntausende in den Hotels der Umgebung ab. Aus Los Angeles schauen Wochenendurlauber vorbei, um tagsüber in den Bergen zu wandern und abends Dragqueens im „Toucans“ zu erleben. Der Altersdurchschnitt hat auch positive Aspekte. Niemand redet über Hipster, die ganze Viertel umkrempeln. Wenn es ein Thema gibt, das die Bewohner von Palm Springs spaltet, ist es die Frage: „Hast du Katzen oder Hunde?“

Oder wie man der Hitze von 350 Sonnentagen pro Jahr entflieht. Bob Gross sagt, als er sich mit seinem Jeep verabschiedet: „In Palm Springs haben wir zwei Jahreszeiten, Himmel und Hölle.“ Acht Monate angenehm warmes Wetter und vier Monate brutalen Sonnenschein mit 40 Grad im Schatten. Die Konturen verschwinden an solchen Morgen schnell. Man kann sich dann nur an einen jener Orte begeben, die der Maler David Hockney in ikonischen Gemälden festgehalten hat: an einen Swimmingpool.

Reisetipps für Palm Springs

Hinkommen

Nach Los Angeles fliegen, mit KLM ab 340 Euro, vom Bahnhof Union Station fährt ein Flixbus nach Palm Springs, etwa 10 Euro.

Unterkommen

Hilton Palm Springs, fünf Minuten Fußweg zur Arenas Road, Doppelzimmer ab 130 Euro.

Rumkommen

Die „Gay Icons Tour“ mit Bob Gross kann man unter red-jeep.com anfragen. Sie dauert zwei Stunden, ab einer Mindestteilnehmerzahl von vier Personen.

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