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Obwohl es in Armenien ein Gleichberechtigungsgesetz gibt, werden Frauen weiterhin stark diskriminiert.

© imago/Xinhua

Selektive Abtreibungen: "Stirb, aber gib mir einen Sohn!"

Wenn armenische Paare ein Kind erwarten, hoffen sie, dass es ein Junge ist. Sonst beenden viele Frauen ihre Schwangerschaft illegal – Ärzte und Apotheker helfen dabei.

Ein halbdunkler, verblasster Korridor. Auf der gynäkologischen Station des noch zu Sowjetzeiten gebauten und nie renovierten Krankenhauses stehen schwangere Frauen Schlange. An den Gesichtern der meisten kann man Angst und Eile ablesen. Sie flüstern miteinander.

Ihr Thema: das Geschlecht ihrer ungeborenen Kinder. Heute werden sie erfahren, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen bekommen. Manche Frauen bekreuzigen sich, bevor sie das Zimmer des Arztes betreten.

„Mein Mann wartet ungeduldig auf mich am Eingang des Krankenhauses. Wenn der Arzt feststellt, dass es ein Mädchen wird, brauche ich nicht wiederzukommen“, sagt eine von ihnen.

Das war im Sommer 2015, in der Stadt Jeghegnadsor, die in der ärmsten Region Armeniens liegt. Die 35-jährige Arewik Minasian war damals in der zwölften Woche ihrer Schwangerschaft und hatte bereits zwei Töchter. Gleich nach der Hochzeit, sie war 19, hatten ihr Mann und seine Familie ihr mitgeteilt, dass sie von einem Sohn träumen.

Sie bekommt ein Mädchen

Wenn sich Arewik Minasian heute daran erinnert, wie sie beim Warten vor Nervosität langsam die Fäden aus ihrer Bluse gezogen hat, zittern die Hände der schmalen, dunkelhaarigen Frau noch immer. Während sie berichtet, krümmt sie sich so lange, bis es auf ihrem Sofa in Jeghegnadsor aussieht, als hockte da ein kleiner schwarzer Punkt.

Minasian kommt aus Armenien, dem kleinen Land im Kaukasus. Hier, wo die Einwohnerzahl nur knapp drei Millionen beträgt, entscheidet man sich oft gegen das Kind, wenn man erfährt, dass es weiblich ist. Das unerwünschte Mädchen wird dann im Krankenhaus oder zu Hause abgetrieben. Nach dem letzten Bericht des World Economic Forum ist die Geschlechterverteilung bei der Geburt in Armenien eine der unnatürlichsten weltweit. Von 144 Ländern belegt Armenien den zweiten Platz nach China.

Arewik Minasian betrat das Behandlungszimmer, als solle dort beschlossen werden, ob sie ins Paradies oder in die Hölle kommt. Nach einer halben Stunde verließ sie den Raum durch die klapprige Tür, ohne jemanden anzuschauen. Sie würde ein Mädchen bekommen. Die Reihe der schwangeren Frauen blickte mitleidig auf die Unglückliche. Vielleicht, glaubt Minasian heute, haben sie heimlich gebetet, dass ihnen so etwas Schlimmes nicht passieren würde.

"Ich kann mir nicht verzeihen"

„Die Liebe zu den Söhnen ist charakteristisch für patriarchalisch geprägte Gesellschaften, wo die Rolle des Mannes überhöht wird“, meint Anusch Poghosian von der NGO „Frauen-Ressourcenzentrum“ in Eriwan. Sie koordiniert ein Projekt zu sexueller und reproduktiver Gesundheit von Frauen. „Für die armenische Gesellschaft ist der Sohn der Nachfolger der Familie, er bekommt den Familiennamen des Vaters und erbt sein Vermögen. Das Mädchen wird als Fremde, als etwas Unwichtiges betrachtet, weil sie das Elternhaus sowieso verlassen wird, wenn sie heiratet. Die Studiengebühren, die die Eltern für ein Mädchen zahlen, empfinden sie als Belastung.“ In den sozialen Medien geben sich Frauen gegenseitig Tipps, manche davon sind abenteuerlich, wie man mit einem Sohn schwanger wird.

Sie habe damals, erzählt Arewik Minasian ihre Geschichte weiter, die Entscheidung getroffen, das Baby nicht zu bekommen, weil sie keine Probleme mit ihrem Mann haben wollte. Sie spricht so vorsichtig über ihre ungeborene Tochter, als könnten Worte diese noch verletzen. Auch nach zweieinhalb Jahren erinnert sie sich ungern an den Juni 2015, als sie gezwungen war, das von der Gesellschaft verdammte Mädchen abzutreiben.

Die Nachricht vom dritten Mädchen hatte ihren Mann damals wütend gemacht. „Wenn ich auf meine beiden Töchter gucke, kann ich mir nicht verzeihen: Warum hatten sie das Recht auf Leben und meine letzte Tochter nicht?“

Seit der Abtreibung hat Arewik Minasian auch gesundheitliche Probleme. Sie kann nicht mehr schwanger werden. Ihr Mann hat sie inzwischen verlassen und verdingt sich – wie viele Armenier – als Gastarbeiter in Russland. Minasian glaubt, dass er geblieben wäre, hätten die beiden einen Sohn bekommen. Ihr Exmann hat in Russland wieder geheiratet, die neue Frau erwartet einen Jungen. Minasian sagt, dass sie ihrem Mann und ihrer Schwiegermutter nicht verzeihen kann, dass sie sie damals überredet hatten, die Schwangerschaft zu beenden.

"Stirb, aber gib mir einen Sohn!"

Ungeboren. In der Innenstadt der Hauptstadt Eriwan stehen Schühchen als Zeichen des Protests gegen die Abtreibung von weiblichen Föten.
Ungeboren. In der Innenstadt der Hauptstadt Eriwan stehen Schühchen als Zeichen des Protests gegen die Abtreibung von weiblichen Föten.

© Shahane Khachatryan

Ein Mädchen zu haben, sei finanziell gesehen sinnlos

,,Heute schäme ich mich, dass ich nicht für mein ungeborenes Kind gekämpft habe. Damals war ich so abhängig von meinem Mann. Ich hatte keine Arbeit und kein Geld“, sagt sie. Heute will sie über ihre „Schuld“ reden, damit andere Frauen sie hören und nicht abtreiben.

Die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern sei für Gesellschaften mit niedrigem Einkommen und ärmeren Verhältnissen typisch, sagt die Expertin Anusch Poghosian. Männer würden für die gleiche Arbeit besser bezahlt, die Frau sei von ihrem Mann finanziell abhängig. Obwohl es auch in Armenien ein Gleichberechtigungsgesetz gibt, würden Frauen weiterhin stark diskriminiert.

Nach Angaben des statistischen Amtes von 2017 verdienen Frauen im Durchschnitt ein Drittel weniger als Männer. Sie können ihre Eltern bei Bedarf nicht unterstützen. „Aus finanzieller Sicht ist es sinnlos, ein Mädchen zu haben“, erklärt Poghosian.

"Ein guter Mann soll einen Jungen bekommen"

„Eine Tochter ist gut, aber ein Junge ist wichtiger!“, sagt auch der 40-jährige Garegin K. aus Eriwan, der als Taxifahrer arbeitet. Als sein erstes Kind geboren wurde, eine Tochter, haben ihm seine Freunde gratuliert. „Ich habe mich fast mit ihnen gestritten. Gratulierten sie mir gerade wirklich zu einem Mädchen? Ein guter Mann soll einen Jungen bekommen!“, ruft Garegin K. empört. „Ich habe meiner Frau gesagt, stirb, aber gib mir einen Sohn!“ Er findet es lustig anzufügen: „Aus Angst hat sie mir tatsächlich einen Jungen geboren.“ Stolz zeigt er das Foto seines einzigen Sohnes.

Nach UN-Angaben ist das natürliche Verhältnis zwischen Jungen und Mädchen 102 bis106 zu 100. Anusch Poghosian erläutert, dass naturgemäß mehr Jungen als Mädchen geboren werden. Ein weltweites Phänomen, das Forscher damit erklären, dass männliche Embryos zunächst anfälliger sind, weshalb die Natur vorauseilend mehr von ihnen produziert.

Zwischen 2000 und 2005 geriet die Geschlechterverteilung in Armenien nach Angaben des statistischen Amtes am stärksten aus dem Gleichgewicht: Auf 100 Mädchen wurden 120 Jungen geboren. Zuletzt lag die Differenz bei 100 zu 112. Wenn es so weitergeht, werden nach einer UN-Auswertung bis 2060 92 000 Mädchen zu wenig geboren.

In vielen Ländern herrscht bereits Frauenmangel

„Man braucht nur in eine beliebige Schulklasse zu gehen und kann bereits sehen, wie niedrig die Zahl der Mädchen ist“, schlägt die Expertin Anusch Poghosian vor. Sie glaubt, dass dieses Ungleichgewicht zu weiteren gesellschaftlichen Problemen führen wird. ,,In China und Indien, wo die Zahl der selektiven Abtreibungen auch sehr hoch ist, nehmen die Fälle von Frauenhandel und Vergewaltigung zu.“

Seit den 1990er Jahren beobachten die Vereinten Nationen weltweit eine unausgewogene Geschlechterverteilung der Neugeborenen. Besonders in Nepal, Indien, China, Bangladesch, Osteuropa – hier speziell in Albanien – und im Kaukasus herrscht Frauenmangel. Das liegt am technischen Fortschritt. Seit den 90er Jahren lässt sich das Geschlecht, zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, schon in der zwölften Woche per Ultraschall feststellen. Seitdem sind die ersten Abweichungen vom natürlichen Verhältnis erkennbar.

Apotheken verkaufen illegal Mittel

Ungleich. Nach einer Auswertung der Vereinten Nationen werden 2060 in Armenien 92 000 Mädchen zu wenig geboren.
Ungleich. Nach einer Auswertung der Vereinten Nationen werden 2060 in Armenien 92 000 Mädchen zu wenig geboren.

© Shahane Khachatryan

Garegin K.s Frau ist eine von fünf Töchtern. Ihre jüngste Schwester heißt Bawakan. Das bedeutet „ausreichend, genug“. Garekin K. erklärt: „Genug Mädchen, endlich muss ein Sohn kommen.“ Lange Zeit war es in der armenischen Gesellschaft üblich, das dritte oder vierte Mädchen so zu nennen. „Als ich meiner Mutter mitteilte, dass ich unsere Nachbarin Anna heiraten möchte, äußerte sie Bedenken. Sie hatte Angst, dass Anna wie ihre Mutter vielleicht nur Mädchen gebären würde und dadurch unsere Familie zerstört“, erzählt Garegin K.

Wie in Deutschland ist Abtreibung in Armenien nach der zwölften Woche gesetzlich verboten. Deshalb versuchen viele Frauen die Schwangerschaft mit eigenen Mitteln abzubrechen. ,,Diese Methoden werden meist von Frauen auf den Dörfern verwendet. Da es dort keine Krankenhäuser gibt, und sie für die Abtreibung in die Stadt fahren müssten, versuchen sie es auf eigene Faust. Viele von ihnen werden dadurch unfruchtbar oder sterben sogar dabei“, sagt Poghosian.

Ärzte treiben nach Ablauf der Frist ab

In Gruppen auf Facebook tauschen sich junge Frauen über solche Abtreibungsmethoden aus. Dazu zählen verschiedene selbstgemachte Getränke mit Pfeffer und Aspirin, das Tragen von schweren Gegenständen oder die Einnahme von „Cytotec misoprostol“. Dieses Medikament wird eigentlich gegen Magengeschwüre verschrieben, führt aber auch zu Gebärmutterspastiken und wurde daher populär unter verzweifelten Frauen. Obwohl es, anders als die meisten Mittel in Armenien, verschreibungspflichtig ist, verkaufen viele Apotheken das Präparat für weniger als vier Euro pro Packung. Eine gesetzlich erlaubte Abtreibung hingegen kann bis zu 150 Euro kosten.

Zusätzlich hat sich ein ganz neuer Geschäftszweig herausgebildet. „Es gibt Ärzte, die ohne Registrierung am Wochenende oder abends abtreiben – für 100 000 bis 200 000 AMD (das entspricht etwa 200 bis 400 Euro). Die Telefonnummern dieser Ärzte kennen die schwangeren Frauen sehr gut“, sagt Anusch Poghosian.

"Ich lebe nicht, weil ich ein Mädchen war"

Sie glaubt, dass die Rolle der Frau in der Gesellschaft gestärkt werden muss, um die Fälle der geschlechtsbezogenen Abtreibungen zu verringern. Immer wieder gibt es bereits Proteste dagegen. Väter posten beispielsweise in den sozialen Netzwerken Fotos mit ihren Töchtern: „Ich habe eine Tochter, und ich bin glücklich.“ Auf der Northern Avenue, einer der Hauptstraßen Eriwans, stehen einige Paar kleine Schuhe als Zeichen des Protests – für die ungeborenen Mädchen Armeniens.

„Lilit: Ich lebe nicht, weil ich ein Mädchen war“, steht auf dem Zettel vor einem der Schuhe. „Tatewik: Ich bin nicht geboren, da der Erstling ein Sohn sein sollte.“ Oder: „Ani: Ich bin nicht auf der Welt, weil ich den Familiennamen meines Vaters nicht hätte tragen können.“

Shahane Khachatryan

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