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Pedro Almodóvar (links) auf einer Party.

© Pablo Pérez-Mínguez

Sex & Drogen in Madrid: Die spanische Revolution

Nach dem Tod von General Franco blüht 1979 in Madrid eine Subkultur auf: Drogen, Sex, Mode. Die Stars von heute waren schon dabei.

Sonntagmorgen an der Plaza Cascorro. Bereits um neun Uhr ist Madrids Flohmarkt El Rastro voller Touristen. Buden mit Souvenirs und Handwerkskitsch reihen sich aneinander. „Hier fing es an“, sagt Javier Perez Grueso, 55, Künstler, Musiker, Allroundlaie. Er erinnert sich an eine Zeit, die nun schon 35 Jahre zurückliegt. In der schrille Gestalten in schwarzen Lederjacken auftauchen, Platten verkaufen, die Haare zu asymmetrischen Frisuren geformt. Die Modernen nennen sie sich. Sie gehen in „La Bobia“, die Bar am nördlichen Ende der Plaza, diskutieren über die Sex Pistols, dröhnen sich mit Amphetaminen, Heroin oder Haschisch zu, weil es ja sonst nichts zu tun gibt an diesen Sonntagen, wenn man kein Kirchgänger oder Fußballfan ist.

Javier ist damals 20. Er lebt wie seine Freunde das Motto der 60er Jahre nach: Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll. Alles wird selbst kreiert – von der Musik über die Mode bis zum Design. Aus Javier wird Javier Furia, aus der 14-jährigen Olvido Gara Jova die Sängerin Alaska. Ihre Bands tragen Namen wie Slogans: Kaka de Lux, Radio Futura, Los Coyotes. Die Jungen malen sich das graue Land bunt und erschaffen so die größte Kulturbewegung im Spanien des 20. Jahrhunderts: die Movida Madrileña.

Am Anfang steht der Befreiungsschlag. Nach 36 Jahren an der Macht stirbt Diktator Francisco Franco im November 1975. Javier feiert mit seinen Freunden. Sie köpfen Cidre, in Ermangelung von Champagner, und rufen: „Der Alte ist tot!“. Sie wissen, das ist das Ende einer dunklen Ära. Der General hat das Land abgeriegelt, so dass die Gegenkulturen der 60er Jahre Spanien nicht erreichten. Jetzt, nach vier Jahrzehnten der Repression, öffnet sich das Land. König Juan Carlos I. kündigt den schrittweisen Übergang zur Demokratie an. Transición heißt diese Periode in der spanischen Geschichte.

Kaka de Lux gibt 1978 den Rhythmus der neuen Zeit vor. Die Band, in der auch Alaska mitspielt und zu deren Dunstkreis Javier Furia gehört, trennt sich ein Jahr später bereits, liefert aber die Blaupause für die nächsten Jahre – eine Mischung aus Punk und New Wave.

Das Land atmet Veränderung. Das Pornografieverbot fällt. Im Radio spielen Discjockeys mit einem Mal David Bowie, Queen und Roxy Music. In Madrid gastieren ausländische Musiker wie Lou Reed, Galerien und Bars öffnen, Menschen experimentieren mit Mode und ihrer Sexualität. Spätestens Anfang der 80er Jahre ist es ein wenig so wie zehn Jahre später im Osten Berlins nach dem Mauerfall. Jeder erfindet sich neu, probiert sich aus. Die Obrigkeit schaut weg.

Javier Furia entwirft Konzeptkunst, auf einer Vernissage trifft er ein junges Plappermaul, das einfach nicht aufhören kann, über Filme zu reden. Also drehen sie 1979 einen, zusammen mit Freunden und unbekannten Schauspielern, in der Wohnung eines Künstlerpaars und auf der Straße. In „Pepi, Luci, Bom und der Rest der Bande“ gibt es eine lesbische Liebesbeziehung, viel Rockmusik, einen Polizisten als Vergewaltiger – plus eine Szene, in der die nun 16-jährige Alaska auf eine andere Frau uriniert.

Ausgedacht hat sich die wüste Story der junge Büroangestellte der Telefonica, der ständig alle zum Lachen bringt, wie Javier sich erinnert. Sein Name: Pedro Almodóvar. Fast genau 20 Jahre später wird der Regisseur einen Oscar verliehen bekommen. Sein skandalöser Debütfilm mit der Urinszene wird 35 Jahre später im Madrider Museum Reina Sofia in Endlosschleife zu sehen sein – als Zeitdokument der Movida.

100 Meter entfernt von der Wohnung, wo der Film einst gedreht wurde, sitzt heute Victor Abundancia in einem Café. Der 57-Jährige hat sein Rennrad neben dem Tisch angeschlossen. Ein paar Gäste trinken in der Sonne einen café cortado. Victor ist 1980 Comiczeichner, Musiker und einiges andere, was er sich vorgenommen hat zu sein. Er trägt die Kleidung eines Punk-Rockers – Jeans, Lederjacke – und sieht „Pepi, Luci, Bom und der Rest der Bande“ in einem Programmkino Madrids. „Hinter mir saßen Menschen ohne Verbindung zur Movida, und die lachten sich die ganze Zeit schlapp“, sagt er.

Wer etwas verdient, investiert in Alkohol

Victor ist ein Jahr zuvor zum ersten Mal nach London gereist. Er übernachtete in einem billigen Hostel, sah die B-52s live und kaufte sich eine Gitarre. „Die waren billiger als in Spanien.“ Der Kontrast zu Madrid war groß – noch. Dank Almodóvars Film beginnt bald das internationale Interesse an den spanischen Paradiesvögeln.

Unter der Woche treffen sich Musiker und Künstler in Malasaña, einem alten Arbeiterviertel nördlich des Zentrums. Die ersten Bars wie „La Via Lactea“ und „El Pentagrama“ öffnen Ende der 70er. Der Stadtteil ist für seine Aufsässigkeit bekannt. Während der Napoleonischen Besatzungszeit 1808 begann von hier aus ein Aufstand gegen die Franzosen.

Pedro Almodóvar arbeitet ab Mitte der 70er Jahre in dem Jugendstilhochhaus der Telefonica an der Prachtstraße Gran Via, er muss nur den Hinterausgang nehmen, eine Viertelstunde durch die dreckigen Gassen gehen, vorbei an den Prostituierten und Dealern, an den heruntergekommenen Häusern und kleinen Läden, dann ist er mitten in Malasaña, in der Calle de la Palma, wo die „Via Lactea“, auf Deutsch: Milchstraße, Bier für 30 Peseten verkauft, etwa 20 Euro-Cent.

Nachmittags holt Javier Alaska von der Schule ab, sie trägt noch die Uniform, zieht sich in einer Toilette um. „Die Häuser waren alle grau“, erzählt er. „Viele Wohnungen hatten keine Heizung, im Sommer war das toll, weil sie so groß waren, aber im Winter ging es manchmal gar nicht, weil es keine Fensterscheiben gab.“ Decken aus Holz, Feuchtigkeit in den Zimmern, die Tapeten lösen sich von den Wänden.

Geld verdient fast keiner der Jungen. Wenn doch einmal, wird es investiert. „Whiskey, Licor 43, Cointreau, was am meisten knallt“, sagt Pepe Patatin. Er kommt 1980 aus Valencia in die Hauptstadt. Wie Pedro und Javier ist er schwul, er leistet seinen Militärdienst ab und bleibt danach gleich hier. Seine Eltern wollen, dass er eine Therapie beginnt, um heterosexuell zu werden, danach eine Banklehre. Pepe schwirrt lieber durch die Clubs, macht Kunst, entwirft Kleidung, hilft beim Styling der unterschiedlichen Bands. Wenn man ihn heute trifft, klingt seine Stimme wie abgewetzt nach vielen Jahren Exzess und Partys. Er rennt in seiner Wohnung hin und her, während er redet. „In Madrid gab es keine Sperrstunde für nichts“, erzählt er. „Die ganze Stadt war ein Freudenhaus.“ Wer von anderen toll gefunden wurde, habe für den Alkohol gar nichts bezahlen müssen. „Und mich haben sie wie eine Königin behandelt.“ Sein Weggefährte Javier Furia lacht: „Bier, alle tranken Bier. Nur du nicht, weil du dich für feiner hieltest.“

Javier Furia übt den Blick der Movida. 
Javier Furia übt den Blick der Movida. 

© Pablo Pérez-Mínguez

Javier Furia hat 1980 mit seiner Band Radio Futura einen großen Moment. Die Radiostationen spielen schon seit Monaten die neue spanische Welle, nun will auch das Fernsehen daran teilhaben. Furias Quintett tritt in einer Sendung auf, sie singen „Enamorado de la moda juventil“, auch das klingt wie ein Werbeslogan: „Verliebt in die Jugendkultur“. Javier trägt im TV-Studio Karottenhose, Turnschuhe und T-Shirt, komplett in Weiß. Darüber ein gelbes Hemd mit Schachbrettmuster. „Niemand hatte auf der Straße Blumenhemden oder auffallende Sachen an, und dann kamen wir mit Ketten, Lederhosen, Hahnenkamm-Frisuren. Alle haben gedacht: maricones.“

Schwuchteln, Schwule, so rufen die Spanier diejenigen, die modern sein wollen – ob diese nun Frauen mögen oder nicht. Tatsächlich ist die Movida Madrileña neben der Kulturrevolution auch eine Schwulenbewegung. Zum ersten Mal werden Homosexuelle im Land sichtbar, verstecken sich nicht. Javier Furias Eltern haben kein Problem mit der Sexualität ihres Sohnes, Pepe Patatins Eltern werden ihn nie in Madrid besuchen.

In den Bars mischen sich Heteros und Homos. In der Rockabilly-Kneipe „King Creole“ entdeckt Pedro Almodóvar die junge Rossy de Palma mit ihrer riesigen Nase und macht sie zum Filmstar. Noch so eine berühmte Szene: In „Labyrinth der Leidenschaften“ von 1982 fährt die Schauspielerin auf einer Vespa durch Malasaña, kreuz und quer, auf der Suche nach einem Drogendealer. Neben ihr ist zum ersten Mal Antonio Banderas auf der Leinwand zu sehen.

Victor Abundancia erklärt, was es damals zu unterscheiden galt: „gute Drogen von schlechten“. Marihuana ist in Ordnung, starke Arzneimittel aus der Apotheke auch, besorgt von Praxishilfen oder Verwandten von Ärzten, die Rezepte fälschen. Amphetamine machen die Runde auf den Toiletten.

Schlecht angesehen wird zunächst Kokain. Es gilt als Rauschmittel der Reichen. Um 1982 kommt Heroin nach Spanien, el caballo nennen sie es nur, das Pferd. Pepe Patatin kennt keine Berührungsängste. Auf der Gran Via stolzieren Schwarze auf und ab, die in ihrem Mund kleine Tütchen verstecken oder in den Pfützen der Gassen. „Es gab eine Zeit, da hatte jeder meiner Freunde einen Schwarzen zur Hand“, sagt Pepe.

Einen unwahrscheinlichen Verbündeten findet die Jugend im Bürgermeister der Stadt. Von 1979 bis 1986 regiert der Sozialist Enrique Tierno Galván, ein Jurist, der mit 62 Jahren sein Amt antritt. „Der alte Professor“, so nennen ihn Pepe, Javier, Victor, ach was, so nennt ihn das ganze Land. Er unterstützt Konzerte der Movida, auf einer Massenveranstaltung 1983 begrüßt er die Feiernden mit den Worten: „Wer noch nicht bekifft ist, sollte was rauchen!“

Die Polizei ist überfordert. Gesetze gegen Drogenmissbrauch brauchte Franco im abgeschotteten Spanien nicht. Aber welche gegen subversives Auftreten, und die sind teilweise noch in Kraft. Mehrfach wird Javier von Polizisten aufgegriffen. Seine Drogen sind ihnen egal. Wie er jedoch herumläuft, das missfällt ihnen sehr, und sie nehmen ihn zur Befragung mit. Nach ein paar Stunden darf er die Wache wieder verlassen.

Dann sterben die ersten Süchtigen. Das Wort yonkie taucht im Sprachschatz auf. Um die Junkies zu vertreiben, installieren die Betreiber der Bars Schwarzlicht. So sollen Abhängige ihre Venen nicht finden. Das Motto der Movida, „Madrid me mata“, Madrid bringt mich um, wird plötzlich bedrohliche Realität.

Aids und Heroin zerstören hunderte Leben

In den frühen 80er Jahren feiern sie noch. Jeden Morgen bis drei Uhr, wenn die Bars schließen, und bis sieben Uhr, wenn die Läden heruntergelassen sind. Oder wie Victor Abundancia in den Kneipen der Taxifahrer, wo immer etwas los ist. Er tritt mit seiner Band Los Coyotes im „Rock-Ola“ auf, dem wichtigsten Konzertsaal jener Zeit. Das ehemalige Kino öffnet 1981, Javier, Pepe, Pedro, sie alle sind hier, aufgetakelt. Jugendliche blockieren die Telefonzellen rundherum, weil sie darin ihre brave Kleidung, mit der sie das Haus ihrer Eltern verlassen haben, ausziehen und sich in die Schockmode der Movida quetschen.

Von der madrilenischen Szene hört man auch in New York. Andy Warhol kommt im Januar 1983 zu Besuch, er will etwas sehen von diesen Verrückten. Victor Abundancia versteht die Aufregung um den Pop-Art-Pionier nicht. „Ein Künstler für die Señoras“, nennt er ihn. Dass alle ausflippen, findet er behämmert. Und auch für Warhol wirft der Aufenthalt wenig ab. In sein Tagebuch, in dem er penibel jeden Einkauf einträgt, schreibt er nichts über Madrid.

1983 bekommt Victor Abundancia ein Angebot, das er nicht ausschlagen kann. „Los Coyotes“ haben es nie zur großen Berühmtheit geschafft, die Sängerin Alaska ist hingegen ein aufsteigender Stern. Für ihre Band sucht sie neue Musiker – und engagiert den Gitarristen. Im Sommer 1984 nehmen „Alaska y Dinarama“ das Album „Deseo carnal“ auf. Als es im September erscheint, stellt es einen Verkaufsrekord auf, am Ende gehen mehr als eine Million Einheiten über den Ldentisch. Lieder wie „Ni tú ni nadie“ werden in Spanien Riesenhits, Alaska mutiert zum kommerziellen Aushängeschild der Movida – die spätestens damit jedes Dorf des Landes erreicht.

Rossy de Palma.
Rossy de Palma.

© Pablo Pérez-Mínguez

Es ist der Höhepunkt einer künstlerischen Bewegung, die danach zerfasert, zerfällt und neuen Richtungen Platz macht. Aids und Heroin zerstören hunderte Leben. Eine ähnliche Jugendkultur wird es danach nie mehr in Spanien geben. Bis heute kommen die großen Namen der Kulturlandschaft – die Literatur ausgenommen – aus dieser Zeit.

Javier Furia lebt inzwischen zurückgezogen in seinem Haus außerhalb Madrids.

Pepe Patatin wohnt in einer geräumigen Altbauwohnung nahe dem Rastro, dem Flohmarkt.

Victor Abundancia arbeitet als Zeichner und veröffentlicht Bücher.

Pedro Almodóvar entdeckt Stars wie Penélope Cruz und dreht erfolgreich Filme.

Die Bars „La Via Lactea“ und „El Penta“ zehren von ihrem Ruhm während der Movida. In Malasaña erinnert ein kleines Museum an die bewegte Zeit – gleich gegenüber dem Penta. Es gibt Touristentouren zu den Orten des Exzesses, im Museum Reina Sofia hängen Fotos an den Wänden, liegen die Fanzines im Archiv. Aber nichts kann dieses nagende Gefühl auslöschen: Man hätte dabei sein sollen.

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