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Die wunderbare Waren-Welt. In der mecklenburgischen Kleinstadt blüht der Einzelhandel. Wie hier in der Kietzstraße.

© imago/Frank Sorge

Shoppen in Waren: Die Lange Straße lebt

Woanders sterben Läden, hier entfacht Benno Schlehenfeuer. Iveta und Ciaran haben’s mit ihrer Schokolade sogar bis nach Berlin geschafft.

Von Andreas Austilat

Später will Benno Kruse noch ein Gedicht aufsagen, vorgetragen in seinem norddeutschen Küstenslang. Das macht er immer kurz vor Ladenschluss. Mindestens zehn hat der 69-Jährige im Kopf. Die Passanten mögen das, doch wenn es seine einzige Masche wäre, wahrscheinlich würde es ihn nicht mehr geben, nicht in dieser Lage, nicht seit 15 Jahren in Waren an der Müritz.

Benno – er ist schnell beim Du – wirkt mit seinem Dialekt und dem weißen Bart wie ein alter Fahrensmann, dazu trägt er rote Schürze und blaues Hemd, das nach dem zweiten Glühwein als Fischerkittel durchgehen würde, wenn es keinen Kragen hätte. Mit seiner Glühweinhütte besetzt er hier den besten Platz. Genau dort, wo der Neue Markt – Warens Altstadt-Zentrum – endet, und die Shopping-Meile der mecklenburgischen Kleinstadt beginnt.

Shopping-Meile? Schön, die Lange Straße ist ihrem Namen zum Trotz nur etwa 400 Meter lang, die hier beginnende Hälfte hat es jedoch in sich. Eine unterbrochene Reihe unterschiedlichster Geschäfte in den Erdgeschossen der Gründerzeithäuser säumt die Straße. Sie bieten Bücher feil, Mode, Brillen, noch mal Bücher, noch mal Mode, Schuhe, Schokolade, Whisky und Tabak. Und nur ein paar dieser Läden sind Filialen einer der sattsam bekannten Ketten.

Die Ecke ist ohne Frage äußerst begehrt. Benno dürfte also noch ein anderes Geheimnis kennen, mindestens. Zum Beispiel den Trick, sein Gegenüber mit einem gehörigen Schuss Schlehenfeuer gefügig zu machen. Schlehenfeuer gehört nach seiner Expertise unbedingt in einen Glühwein.

Ist alles nur eine Fata Morgana?

Oh wunderbare Waren-Welt. Viele Kleinstädte sind doch längst zu einer seelenlosen Hülle geschrumpft. Mögen sie alle auch eine hübsche Altstadt haben, gern in Pastellfarben restauriert. Mag sich überall das Rathaus, das Heimatmuseum, die Touristeninformation, eine Apotheke und vielleicht noch ein Grillrestaurant um den Platz im Zentrum gruppieren, für ein lebendiges Geschäftsleben reicht es meist nicht. Das befindet sich, wenn überhaupt, vor der Stadt, wo sich entweder ein Dänisches Bettenlager niedergelassen hat oder eine Filiale von Famila. Oder es gibt nur noch die Packstation, weil der gesamte Handel inzwischen im Internet abgewickelt wird.

Anders in Waren. Oder ist alles vielleicht nur eine Fata Morgana? Schließlich gehört die Illusion gewissermaßen zum Markenkern der 22 000-Einwohner-Stadt mitten im Binnenland, gelegen am Ufer der zwar großen, sich vor dem Hafen aber zu einer Art Bucht verjüngenden Müritz.

Wenn nur ein bisschen Wind geht, kann man es selbst jetzt noch hören, das Klingeln der Stahlseile an den Masten der wenigen verbliebenen Boote im winterlichen Hafenbecken. Mit dem heiseren Gekrächze der unermüdlich kreisenden Möwen fügt es sich im Kopf zu einem akustischen Meerespanorama. Tatsächlich nennen manche hier die Müritz das kleine Meer. Ein findiger Investor, dessen nagelneue Apartementanlage am Seeufer die Strandpromenade belästigt, hat sein Unterfangen folgerichtig „Mare Mueritz“ getauft. Nur einen Funken Fantasie vorausgesetzt, ist Waren von Berlin aus gesehen der kürzeste Weg zum Meer.

Jetzt jedoch treibt der für die Jahreszeit nicht untypische Nieselregen die wenigen Spaziergänger vom Hafen weg hoch in die Altstadt, genau auf Bennos Glühweinhütte zu. Die ist dank ausladender Marktschirme von oben wasserdicht und wegen der reichlich verstreuten Holzschnipsel auch von unten trocken. Deftiges gibt’s dazu: Benno brät Wurst vom Wildschwein aus Müritzer Jagd.

Karstadt und Kaufhof winkten ab

Benno Kruse blickt auf eine lange Verkäuferkarriere zurück. Er hat für Mercedes mit Unimogs gehandelt, als sie ihn 1990 mit der Wende hierherschickten. Er stieg auf gebrauchte Landmaschinen um. Denn lieber ein kleiner Herr als ein großer Knecht, sagt er, was aus seinem Mund total einleuchtend klingt – schon vor dem zweiten Glühwein.

Wie haben die das gemacht, die Innenstadt am Leben zu erhalten? Sie haben gleich nach der Wende losgelegt, kluge Köpfe von hier und wohlmeinende Investoren von außen, die offenbar schnell erkannten, das wird was, erzählt er. Karstadt und Kaufhof gehörten allerdings nicht dazu. Als die Warener damals fragten, ob einer der beiden nicht ihr altes, vor der Abwicklung stehendes Kaufhaus am Rand der Altstadt übernehmen wollte, winkten die Konzerne ab. Lohne sich nicht. Dafür sei die Stadt zu klein.

Zu klein! Benno erlaubt sich ein kurzes schnaubendes Lachen. Er selbst hat seine Basis zehn Kilometer von hier, in Groß Gievitz, und dort einen Dorfladen aufgemacht. Wie er das erzählt, erfreut er sich am Staunen seiner Gesprächspartner. Genau, aufgemacht, in einer Zeit, in der Läden in 400-Einwohner-Dörfern wie Groß Gievitz geschlossen werden.

Zeit für sein größtes Geheimnis: Ein Geschäftsmann muss jedem Kunden das Gefühl geben können, in seinem Laden genau richtig zu sein. Beim zweiten Mal muss er ihn wiedererkennen. Und beim dritten Mal wissen, wer die Oma mit der Hüftoperation war, und wer sich ein neues Auto gekauft hat und stolz darauf ist. Benno beherrscht diese Kunst, hat sie in mehreren Imbissbuden immer wieder verfeinert. Aber auch er wird älter, und deshalb verkauft er lieber Glühwein. Der hat von November bis März Saison. Wer 100 Tage lang von elf bis 20 Uhr den Unterhalter gemacht hat, und zwar jeden Tag, der braucht mal eine Pause.

Auch am Ufer des Herrensees tobt das Leben

Was für ein Hecht. Im Müritzeum können Besucher unter anderem heimische Süßwasserfische bestaunen.
Was für ein Hecht. Im Müritzeum können Besucher unter anderem heimische Süßwasserfische bestaunen.

© Bernd Wüstneck dpa/lmv

In der anschließenden Langen Straße zeigt sich, nicht jeder hat hier Benno Kruses langen Atem. Auf zwei Schaufenstern wird der Räumungsverkauf angekündigt. Dafür kommen immer wieder neue, die ihre Chance suchen. Solche wie Iveta Kilian und Ciaran Close. Wenn die beiden nicht gerade hinter dem Tresen ihres Schokoladens „Kilian und Close“ stehen, experimentieren sie hinter einer gläsernen Wand für alle sichtbar an ihren neuen Kreationen. Ciaran hackt gerade geröstete Kakaobohnen, über die Schokolade gestreut verleihen sie ihr besonderen Biss.

Der 35-jährige Ire und seine 36-jährige tschechische Partnerin haben sich beim Studium in Rostock kennengelernt und Waren auf einer Radtour durch den Müritz-Nationalpark entdeckt – die Stadt liegt unmittelbar an dessen Rand. Ihren Laden hier haben sie im Mai eröffnet. Schnell fürchteten sie, der Sommer würde viel zu heiß für ihre leicht schmelzende Ware. Die Sorge war ebenso unbegründet wie jene, dass ab Oktober mit den Touristen auch die Kunden ausblieben.

Inzwischen wissen sie, dass die Warener selbst bei ihnen einkaufen. Kilian und Close haben sich ebenfalls einen Trick überlegt: Nur beste Zutaten verwenden. Sie beziehen Mandeln und Pistazien aus Sizilien, den Kakao aus Mittel- und Südamerika, die Walnüsse aus dem Périgord. Trotzdem ist fraglich, ob sie allein von ihrem Laden leben könnten. Doch ihre Schokolade wird mittlerweile auch von einem Dutzend Geschäften in Berlin angeboten, etwa bei Andreas Murkudis an der Potsdamer Straße.

Die Schreie von Fuchs und Marder sind nicht echt

Nach 200 Metern endet die Waren-Welt freilich ziemlich abrupt, die Lange Straße geht in die unspektakuläre Kietzstraße über. Es lohnt sich trotzdem, weiterzulaufen, denn am Ufer des Herrensees liegt das Müritzeum. Fast wirkt es, als wäre der geschwungene Bau mit seiner Lärchenholzverkleidung hier vor Anker gegangen. Das Müritzeum wirbt damit, so etwas wie ein Welcome-Zentrum für die umgebende Naturlandschaft zu sein. Besucher, die sich nicht sicher sind, ob sie lieber Vögel, Fische oder doch eher Buchen mögen, kriegen hier schon mal trockenen Fußes einen Überblick.

Drinnen ist der kleine Buchenwald natürlich ebenso wenig echt, wie die Schreie von Fuchs und Marder, die im Dunkelraum ertönen, wenn man ihre Silhouetten mit der speziellen Taschenlampe anstrahlt. Mit einigem Aufwand vermittelt einem das Müritzeum einen lebendigen Eindruck von dem, was draußen im Müritz-Nationalpark so vor sich geht, ohne dass man sich bei miesem Wetter den Unbilden der Natur aussetzen muss.

Die kann grausam sein, wie man eher nebenbei erfährt. Herzstück der Ausstellung ist nämlich eine schön gestaltete Gewässerlandschaft, das größte Aquarium für heimische Süßwasserfische hierzulande. Die oben offenen gläsernen Becken mäandern durchs Untergeschoss, als handle es sich um eine Flusslandschaft. Spannend ist es auch: In einem Bassin treiben ein träger Wels und ein Hecht, beide etwa gleich groß. Das muss so sein, die beiden würden sonst womöglich übereinander herfallen. Die Rolle des Opfers nimmt die Rotfeder ein, die zwischen den Räubern ein kurzes Leben führt.

Um 18 Uhr schließen die Geschäfte

Wenn Bennos Wildwurst noch nicht sättigend genug war, dann sei zum Schluss das Restaurant „Fischers Küche“ in der gläsernen Front des Müritzeums empfohlen. Es ist eines der ambitioniertesten Häuser im Städtchen, den Fisch beziehen die Köche für ihre zum Gastraum hin offene Küche von den Müritz-Fischern. Wels und Hecht stehen auf der Karte. Die arme Rotfeder nicht, schon aus kulinarischen Gründen, und irgendwie ist es auch gerecht.

Auf dem Neuen Markt geht es inzwischen ruhiger zu, denn um 18 Uhr schließen die meisten Geschäfte. Benno Kruse hingegen harrt weiter aus. Sein letzter Auftritt kommt erst gegen 20 Uhr, natürlich mit einem Gedicht. Dann fährt er zurück nach Groß Gievitz, um die bis zu 600 Tassen abzuwaschen, die seine Gäste über den Tag geleert haben.

Reisetipps für Waren an der Müritz

Die Bahn ab Berlin fährt anderthalb Stunden nach Waren. Hotels gibt es viele, zum Beispiel „Das kleine Meer“ in der Altstadt.

Tipp für den Nachmittag: Das Tortenhus am Alten Markt mit exquisitem Kuchen.

Weitere Infos: waren-tourismus.de

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