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Bush Doctor David Conteh ist einer von 45 000 traditionellen Heilern, die auch die Behandlung von psychisch Kranken übernehmen.

© Olivia Acland

Sierra Leone: Wie unsichtbare Narben die Entwicklung des Landes lähmen

Gewalt, Armut und Ebola: Hunderttausende Menschen in Sierra Leone leiden unter Traumata. Vom Umgang mit toxischem Stress.

In Kroo Bay ist man ganz unten angekommen. Geografisch wie gesellschaftlich. Wenn im Mai die Regenzeit beginnt, steht den Bewohnern des engen Irrgartens aus Lehm- und Wellblechhütten das Abwasser manchmal bis zur Hüfte. Von den umliegenden Hügeln spült der Regen dann Müll und Fäkalien ins Tal – durch die Behausungen von etwa 7000 Menschen und von dort in den Atlantik.

Die Bucht liegt im Norden von Freetown, Hauptstadt des westafrikanischen Staats Sierra Leone. In der Trockenzeit zieht sich die giftige Kloake in ein Flussbett inmitten des Viertels zurück. Dort steht der 36-jährige Santigie Bayo Dumbuya, umringt von Kindern, die zwischen Kadavern und herumstreunenden Schweinen im Dreck nach Verwertbarem suchen. „Unsere größten Probleme sind Umweltverschmutzung und mangelnde Hygiene“, sagt der Streetworker mit dem runden Bauch und dem kahlen Schädel.

Doch Sierra Leone hat noch ein anderes großes, jedoch kaum sichtbares Problem. Es beeinflusst das Leben von Hunderttausenden und lähmt die Entwicklung des Landes mit seinen rund sieben Millionen Einwohnern.

Hunderttausende Menschen leiden unter psychischen Krankheiten

Krieg, Armut und Krankheiten haben in den vergangenen Jahrzehnten tiefe Narben in der kollektiven Psyche hinterlassen. Hunderttausende Menschen leiden unter Depressionen, Psychosen und posttraumatischen Belastungsstörungen. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass jeder Zehnte betroffen ist. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen.

Fatal ist: Laut Schätzungen bekommen in Sierra Leone nur 1,2 Prozent der Betroffenen professionelle Hilfe. Über Jahrzehnte gab es im ganzen Land bloß einen praktizierenden Psychiater (heute sind es zwei), und weil die Versorgung mit Medikamenten schwierig ist, wurden Patienten in der einzigen Psychiatrie bis vor Kurzem angekettet. Selbst im Vergleich mit anderen Staaten Afrikas, in denen fehlende Behandlungsmöglichkeiten eher die Regel als die Ausnahme sind, steht Sierra Leone besonders schlecht da. In Südafrika etwa bleiben rund 75 Prozent der Betroffenen ohne Versorgung, in Äthiopien und Nigeria rund 90 Prozent.

Um zu verstehen, welche Bürde auf „Mama Salone“, wie die Einheimischen ihr Land liebevoll nennen, lastet, muss man 30 Jahre zurückblicken. 1991 hatten Rebellen der Revolutionary United Front (RUF) ihren blutigen Kampf gegen die Regierung begonnen, der erst nach elf Jahren und 70 000 Toten endete.

Krieg und Ebola sind nicht die einzige Ursache für die seelischen Wunden

Streetworker Dumbuya war zwölf, als er zum Kindersoldaten wurde. In ständiger Todesangst und aufgeputscht von einem Mix aus Marihuana und Schwarzpulver kämpfte er jahrelang im Dschungel. Die Erinnerungen an damals lassen den ansonsten redseligen Mann einsilbig werden. „Wenn du heute noch lebst, hattest du Glück“, sagt er nur. Zehntausende Jungen setzte die RUF als Soldaten ein. Mädchen wurden verschleppt, vergewaltigt und als „bushwifes“ zur Ehe mit ihren Peinigern gezwungen.

Aufklärung im Kampf gegen Aberglaube und Stigmatisierung sollen Poster helfen. Die Botschaft hier: Epilepsie ist nicht ansteckend.
Aufklärung im Kampf gegen Aberglaube und Stigmatisierung sollen Poster helfen. Die Botschaft hier: Epilepsie ist nicht ansteckend.

© Olivia Acland

Kaum ein Land dürfte so arg vom Schicksal gebeutelt worden sein wie Sierra Leone. Nach dem Krieg kam das Ebola-Virus: Zwischen Mai 2014 und November 2015 infizierten sich rund 8700 Menschen mit der Krankheit. Fast die Hälfte von ihnen starb. Es war der bis dato schwerste Ebola-Ausbruch aller Zeiten.

Die traumatischen Ereignisse der jüngeren Geschichte sind nicht die einzige Ursache für die seelischen Wunden in der Bevölkerung. In einem Land wie Sierra Leone, das zu den ärmsten der Erde gehört, können allein die Lebensumstände psychische Leiden auslösen oder verstärken. Fachleute sprechen von „daily stressors“ – existenziellen Bedrohungen wie Armut, Hunger, Gewalt oder, bei Kindern, dem Verlust von Bezugspersonen. Gibt es kein Gegengewicht aus positiven Erfahrungen, etwa elterliche Fürsorge, kommt es zu „toxischem Stress“. Wie ein schleichendes Gift beginnt dieser, die Psyche zu zersetzen, gilt als Auslöser von Depressionen. Bei Kindern kann er die Entwicklung verzögern und so das ganze Leben negativ beeinflussen.

„Die Leute hatten Angst vor mir“

Slum Kroo Bay ist eines der ärmsten Viertel von Sierra Leones Hauptstadt Freetown.
Slum Kroo Bay ist eines der ärmsten Viertel von Sierra Leones Hauptstadt Freetown.

© Olivia Acland

Kroo Bay ist der Inbegriff widriger Lebensumstände. Fast 80 Prozent der Bevölkerung von Sierra Leone lebt unterhalb der Armutsgrenze – und die Ärmsten haben sich an den Ufern des Müllflusses niedergelassen. Streetworker Dumbuya hat hier 2009 die Hilfsorganisation „We yone child“ („Unsere Kinder“) gegründet, und in dem 19 Hektar großen Viertel eine Schule gebaut. Als ehemaliger Kindersoldat weiß er, was es heißt, unter katastrophalen Bedingungen aufzuwachsen. Nicht nur während, sondern auch nach dem Krieg. Die schwer traumatisierten Kinder und ihre Familien wurden von Nachbarn, Freunden und sogar Verwandten gemieden oder offen angefeindet. „Die Leute hatten Angst vor mir“, sagt Dumbuya. Viele seiner Weggefährten verloren den Glauben an sich selbst, ihnen haftet der Ruf einer „verlorenen Generation“ an, verhaltensgestört und gewalttätig. Dumbuya aber schaffte es, ging wieder zur Schule und machte sogar seinen Abschluss.

Nach dem Bürgerkrieg hatten Wissenschaftler gewarnt, das Ausmaß der Traumatisierung in der Bevölkerung könne den fragilen Frieden gefährden. Ähnliche Befürchtungen wiederholten sich nach der Ebola-Epidemie. Dass es nie so weit kam, erklärt die Expertin Theresa Betancourt mit einem Wort: Resilienz. Darunter versteht man die Fähigkeit, mit traumatischen Erlebnissen fertig zu werden. Sie ist nicht unbedingt angeboren, sondern kann sich auch durch positive Faktoren herausbilden. Betancourt, früher Professorin in Harvard und nun am Boston College, war seit Ende des Bürgerkriegs unzählige Male in Sierra Leone. „Die Umstände vor Ort sind furchtbar, Hilfseinrichtungen kaum vorhanden“, beschreibt sie ihre Eindrücke aus mehr als einem Jahrzehnt Feldforschung. „Aber allen Widrigkeiten zum Trotz beobachten wir eine erstaunliche, natürlich gewachsene Resilienz.“

Bildung ist für viele ein unerschwinglicher Luxus

Was stärkt die Widerstandsfähigkeit? Etwa enge soziale Bindungen. Bei ehemaligen Kindersoldaten, das zeigen Betancourts Langzeitbeobachtungen, wirkte sich auch Schulbesuch positiv aus. Auf diesen Effekt hofft Santigie Bayo Dumbuya. Seine Schule in Kroo Bay besuchen knapp 200 Kinder. „Die Leute hier sehen Bildung nicht als überlebenswichtig an“, sagt er beim Gang durch die Gassen des Slums, in denen Rauch von verbranntem Plastik in der Nase brennt. „Dabei ist sie der einzige Ausweg.“

Doch für viele in Sierra Leone ist sie eben auch ein unerschwinglicher Luxus. Zwar wurden die Gebühren für die Grundschule bereits vor Jahren abgeschafft, aber die Kosten für Uniformen, Unterrichtsmaterial und eine ganze Reihe anderer Posten erschweren Kindern aus armen Familien den Zugang. Viele Eltern schicken die Kleinen stattdessen arbeiten, nur knapp die Hälfte der Schüler schließt überhaupt die Grundschule ab. Forscherin Betancourt sagt: „In einem solchen Umfeld verfestigen sich Probleme immer weiter.“ Sowohl die sozialen, als auch die mentalen.

Letztere sind in Sierra Leone meist ein Fall für einen traditionellen Heiler wie David Conteh. Sein Arbeitsplatz ist die blau getünchte „Mortalman Garage“ inmitten eines unübersichtlichen Gewirrs aus Hütten und Gassen am östlichen Stadtrand von Freetown. An der Mauer verbleichen die Worte „Bush Doctor“ . Der Rest der Fläche ist übersät mit Dutzenden Bildchen von Krankheiten und Problemen, die Conteh behandelt, von Liebeskummer bis Zahnschmerzen.

Die Heiler beuten Familien finanziell aus

Ex-Kindersoldat Santigie Bayo Dumbuya mit Schülern der von ihm gegründeten Schule.
Ex-Kindersoldat Santigie Bayo Dumbuya mit Schülern der von ihm gegründeten Schule.

© Olivia Acland

Conteh, ein schlaksiger Mann in goldfarbenem Ronko, einem traditionellen knielangen Gewand, empfängt in einem nur wenige Quadratmeter großen Raum, vollgestopft mit alten Röhrenfernsehern sowie Säcken voller Pulver, Wurzeln und Blätter. Seit 30 Jahren mixt er daraus, wie seine Vorfahren vor ihm, Tinkturen und Pasten, mit denen er „böse Geister“ aus kranken Körpern vertreiben will.

In einem Verschlag einige Meter entfernt kauert ein Patient: Ibrahim. Er sei Lehrer gewesen, erklärt Conteh, bis ihn der Vater seiner Freundin verflucht habe. Der Heiler fordert Ibrahim auf, sich zu erheben. Ein Kraftakt. Irgendwann steht er gekrümmt da, der Kopf schief, sein Blick starr. In der linken Hand hält er ein Tütchen mit Pulver und einen Löffel, die rechte hindert den Hosenbund am Herunterrutschen. „Als er zu uns kam, konnte er das noch nicht“, sagt Conteh und spornt Ibrahim zu mehr an. Der brummt nur, und der Heiler verliert die Geduld: „Bringt mir den Stock!“

Die Rolle der traditionellen Heiler in Sierra Leone ist ambivalent. Für die Bevölkerung sind sie oft die ersten Ansprechpartner. 45 000 von ihnen stehen laut der „Traditional Healers Union“ den wenigen Ärzten im Land gegenüber. In der spirituell geprägten Gesellschaft gelten Flüche, Dämonen und Hexerei bis heute als Ursache psychischer Probleme – und als Strafe für Missetaten der Vorfahren.

Geistig Behinderte werden erbarmungslos geschlagen

„Man kann es den Menschen nicht übelnehmen. Sie kennen nichts anderes“, sagt Rebecca Esliker. Die 58-Jährige leitet das Institut für Psychologie an der Universität von Makeni im Herzen des Landes und ist zugleich dessen einzige Mitarbeiterin. Esliker wurde in Irland und den USA zur Psychologin ausgebildet. Die Heiler beuteten Familien finanziell aus, sagt sie. Aus Angst vor gesellschaftlicher Ächtung würden etwa manche ihr Geld für die Behandlung eines geistig behinderten Angehörigen ausgeben – ohne tatsächliche Aussicht auf Erfolg. Das größte Problem sei Gewalt. „Sie schlagen erbarmungslos zu, um den Teufel auszutreiben, wie sie sagen.“

Seit sie vor drei Jahren in ihre Heimat zurückkehrte, arbeitet Esliker unentwegt daran, über das Thema geistige Gesundheit aufzuklären. Auch in der Politik. Die 2011 gegründete Mental Health Coalition (MHC) konnte das Gesundheitsministerium überzeugen, eine Abteilung für nichtübertragbare Krankheiten und mentale Gesundheit zu gründen. Und in der einzigen Psychiatrie des Landes wurde jüngst feierlich das Ende des Ankettens von Patienten verkündet. Esliker selbst startete Ausbildungskurse für medizinisch-psychologische Assistenten, deren Kompetenzen zwischen Ärzten und Pflegepersonal angesiedelt sind. „Im ersten Jahr hatten wir zwei Studenten. Dieses Jahr sind es schon sechs“, sagt sie. „Es tut sich etwas, wenn auch nur langsam.“

Das Gesundheitsministerium blendet das Problem aus

Priorität hat mentale Gesundheit für die Politik noch immer nicht. In einem Strategiepapier des Gesundheitsministeriums für die kommenden Jahre wird der Bereich geistige Gesundheit nicht einmal erwähnt. Um dennoch möglichst vielen Patienten helfen zu können, bezieht die MHC sogar die umstrittenen Heiler mit ein. Diese sollen geschult werden, auffällige Symptome etwa von Epilepsie zu erkennen, um Patienten an einen Arzt überweisen zu können.

In der Mortalman Garage versichert Bush Doctor David Conteh jedoch, die Ärzte hätten seinen Patienten Ibrahim aufgegeben – und als letzte Rettung zu ihm geschickt.

Die Recherche wurde vom European Journalism Center finanziert.

Malte Werner

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