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Was der junge Mann meint, ist wohl klar. Oft bestand der Ost-West-Dialog im Einheitsdeutschland jedoch aus misslungener Kommunikation (Archivfoto von 3.10.1990).

© dpa

Sprache in Ost und West: Die Deutsche Einheit als Vokabelproblem

Den Wortschatz in Ost und West durchzogen viele semantische Haarrisse. Wäre Deutschland heute einiger, wenn man sich 1989 erst einmal auf gemeinsame Begriffe geeinigt hätte? Ein Essay.

- Prof. Dr. Ralf Rytlewski ist Politikwissenschaftler der Freien Universität Berlin mit Schwerpunkten vergleichende Deutschlandforschung, Kultur- und Stadtpolitik

30 Jahre nach Mauerfall und Wiedervereinigung Deutschlands haben die Ostdeutschen nichts vergessen, nicht die hereinbrechende Arbeitslosigkeit, nicht die Treuhandanstalt als Inbegriff rein ökonomischen Kalküls, nicht die versperrten Wege in höhere Positionen in Staat und Gesellschaft. Die politische und gesellschaftliche Integration ergab zwar auf breiter Front Annäherungen, aber auch Absonderungen.

Dieser doppelten Entwicklung ist die Sprache eingeschrieben, und zugleich gestaltet die Sprache die Entwicklungen. Es ist wohl nie vermessen worden, welche Wortschätze mit welchen Wertungen den Deutschen 1989 zur Verfügung standen, um den jeweils anderen Teil des Landes in seinem Tun und Lassen zu verstehen.

Wenn Manfred Stolpe, der 2019 verstorbene langjährige Ministerpräsident von Brandenburg, bilanzierte, die Lebensleistung der jeweils anderen Seite sei verkannt worden, wenn einschlägige Neuerscheinungen und andere Rückblicke Ähnliches bekunden und dabei immer wieder die versagte Anerkennung der Ostdeutschen durch die Westdeutschen ansprechen, ist es Zeit, nach Gründen für das Misslingen einer fairen Ost-West-Kommunikation zu fragen.

Von einer „Kommunikationsstörung“ im Gespräch der Deutschen berichtete bereits der nach dem Krieg von Marburg nach Leipzig gewechselte Romanist Werner Krauss, doch die sprachwissenschaftliche und politische Öffentlichkeit interessierte eine ganz andere Frage: Hält die gesamtdeutsche Sprachgemeinschaft oder entwickeln sich zwei Nationalsprachen im Reflex auf die politische, ökonomische und gesellschaftliche Entzweiung in Deutschland?

Bis zur Vereinigung 1990 wurde diese Frage immer wieder gestellt. Zahlreiche Wortschatzvergleiche konstatieren unterschiedliche Wortneubildungen und unterschiedliche Fachsprachen des Politischen und des Weltanschaulichen, jedoch keine „Sprachspaltung“ - und damit auch keine Spaltung der gemeinsamen literarischen Tradition. Allenfalls sah man ein ost-westliches Konkurrieren bei der Aneignung des künstlerischen Erbes, latent bis heute nachwirkend.

Mit der Vereinigung 1990 wechselt die Aufmerksamkeit von Sprachgemeinsamkeiten hin zu Sprach- und Sprechdifferenzen. Im Mai 1991 befasst sich die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung aus Darmstadt mit dem Sprachgebrauch in Ost und West. Der Akademie gehörten zu dem Zeitpunkt als ostdeutsche Mitglieder nur Christa Wolff und Günter de Bruyn an. Man tagte zur Feier der Ereignisse in Weimar, quasi in der Höhle des Löwen, ist doch die in Weimar archivierte und gepflegte Weimarer Klassik bis in die 1960er Jahre tonangebend für Deutsch als Hochsprache gewesen.

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Die Akademie-Vertreter hatten mehrere Pikanterien zu überstehen. Wie konnten sie sich dem Ansinnen, ja dem Ansturm ostdeutscher Kandidaten auf Mitgliedschaft freundlich erwehren? Wie dem Ansinnen, die Akademie schleunigst nach Weimar umzuziehen? Darauf wurde trocken geantwortet, auch Darmstadt sei von Goethe zweimal besucht worden und sei im übrigen Weimar nicht unähnlich. Und drittens die Frage: Lassen sich die westdeutschen Eitelkeiten und Überheblichkeiten vielleicht etwas zähmen?

Mit den Worten des Wittenberger Theologen und Bürgerrechtlers Friedrich Schorlemmer: „Die Westdeutschen sollen uns doch nicht laufend den Fluch, der auf uns lastet', um die Ohren schlagen“, womit er auf westdeutsche Kritik an der politischen Loyalität von Schriftstellern der DDR anspielte.

Schweigen, Blickkontakt - in Ost und West von unterschiedlicher Bedeutung

Was auf der Akademie-Tagung in Weimar an bewusster Selbstständigkeit nur aufblitzte, hat inzwischen die kommunikationswissenschaftliche Forschung freigelegt. Wir haben es demnach in Deutschland auf der Basis der einen Sprache mit zwei Kommunikationssystemen beziehungsweise -kulturen zu tun, deren semantische Ebene äußerst interessant ist.

Der Autor Olaf Georg Klein hat 2002 empirische Differenzen zwischen den beiden Systemen zusammengestellt, die die Kommunikationspraktiken in Ost und West skizzieren. Da ist das in Ost und West differente Zusammenwirken von verbalen und nonverbalen Kommunikationsformen, beispielsweise die unterschiedliche Funktion des Schweigens im Gespräch, das Zustimmung oder Ablehnung aussagen kann, oder unterschiedliche Funktionen des Handgebens, der Blickkontakte oder der körperlichen Nähe.

In der Arbeitswelt fallen ost-westliche Differenzen besonders deutlich im Umgang mit der Gesprächszeit so wie bei der Trennung von privater und dienstlicher beziehungsweise öffentlicher Sphäre auf.

Vertrackt für die Kommunikationspraxis sind semantische Differenzen bei einer Bezeichnung, die sich dann bemerkbar machen, wenn das geäußerte mit dem gemeinten Wort und den damit verbundenen Bildern verglichen wird. Stand zum Beispiel das Wort Imperialismus im ostdeutschen Gebrauch häufig für das Wort Kapitalismus, so meinte es in westdeutscher Verwendung die Herrschaftsform territorialer Expansion.

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Ostdeutsche übersetzten das aus den Westmedien bekannte Wort Arbeitsloser zunächst missverstehend mit Arbeitsverweigerer und/oder Arbeitsunfähiger, denn es fehlte ihnen die im Westen übliche Konnotation Arbeitsmarkt mit den Akteuren Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Auch bei Themen der Legitimität der deutschen Ostgrenzen gingen die Assoziationen wegen unterschiedlicher konnotativer Einordnung auseinander.

Starke geschichtspolitische Differenzen markiert der Faschismusbegriff. So interpretiert der Marxismus-Leninismus mit Faschismus den Nationalsozialismus als einen Fall bürgerlich-kapitalistischer Herrschaft und bestimmt in strikter Absetzung dazu die DDR-Herrschaft als antifaschistisch - ein Wort, das tief in die Alltagssprache der DDR eindrang. Die vorherrschende historische westdeutsche Sicht reservierte den Begriff für den italienischen Faschismus und betont die Einzigartigkeit der totalitären NS-Diktatur, wenngleich der Sprachgebrauch lockerer und damit unschärfer wurde.

Die fehlende Augenhöhe hat viele erst zum "Ossi" werden lassen

Solche semantischen Haarrisse durchziehen vor allem den politischen Wortschatz - aber auch den gesellschaftlichen. Sprachen und sprechen Westdeutsche beispielsweise von Eigentum primär als individuell-rechtliche Verbürgung, so legten Ostdeutsche den Akzent auf den sozio-ökonomischen Rahmen von Eigentum und dessen Gemeinschaftsverpflichtung. Vermeidet der ostdeutsche Sprachgebrauch das Wort Elite, da bürgerlich, versteht der westdeutsche unter Elite Menschen, die sich gemäß verschiedener Kriterien als überlegen erwiesen haben.

Die hier wie dort häufig benutzten Wörter Solidarität und Gleichheit, sogenannte Hochwertbegriffe, können ohnehin nur dann voll verstanden werden, wenn ihr parteilich-normativer Kontext ebenfalls zur Sprache kommt.

Wenn die westdeutsche Seite im Vereinigungsprozess früh die politische Gestaltungsmacht an sich brachte, dann gilt dies auch in der Geschichtsschreibung, wenn sie vorzugsweise auf den 3. Oktober und wenig auf den 9. November Bezug nimmt. Steht der 9. November für das Zusammenwirken von Volksbewegung und Opposition, dann der 3. Oktober primär für die westdeutsche Vereinigungsleistung. Erst diese und andere Verletzungen des Prinzips der gleichen Augenhöhe haben Berliner Intellektuelle wie den Intendanten Thomas Oberender auf eine Weise „ostdeutsch“ werden lassen wie niemals zuvor.

Die Vereinigung durch Beitritt steigerte die Prominenz der zwei Themen Wirtschaftsreform und Wohlstandsangleichung. Eine öffentliche Befassung mit der jüngeren Geschichte, der Gesellschaft und der Kultur der DDR blieb ganz randständig. Dabei hatten Wolfgang Thierse, Friedrich Schorlemmer und andere bald dazu aufgerufen, jenseits der juristischen Aufarbeitung ein selbstkritisches „Tribunal“ zur eigenen Vergangenheit und zur Dialektik von Verhalten und Verhältnissen zu organisieren, das wohl zu früh angesetzt wurde und versandete.

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Einem aufmerksamen Bonner Oberregierungsrat ist zu danken, dass das großartige kulturelle Erbe in den Bezirken und nachfolgenden Ländern nicht völlig unbedacht gelassen wurde. Er fand dafür das Wort von den kulturellen „Leuchttürmen“, das dann noch zum geflügelten Wort einer anlaufenden kulturellen Förderpraxis wurde.

Beides, die Themenverkürzung auf Ökonomie und Wohlstand sowie geringes Interesse an historischer Aufklärung, schwächte, wie sich heute zeigt, die kategorialen Fundamente für die kommunikative Begegnung von Ost und West.

Thematische Engführung demonstrieren auch die zwei Enquete-Kommissionen aus Politikern und Fachleuten zu Geschichte und Folgen der SED-Diktatur sowie deren Überwindung, die zwischen 1992 und 1998 zusammentraten. Es blieb vor allem bei bekannten institutionellen Aufrissen der westdeutschen DDR-Forschung. Totalitarismus, Autoritarismus, Realsozialismus, Diktatur des Proletariats, Unrechtsstaat, Ethischer Sozialismus - ohne systematischen Abgleich solcher Leitbegriffe und Konzepte kommen die Mitglieder überein, die Herrschaft uneingeschränkt als Diktatur und im Vergleich zum NS-System eingeschränkt als totalitär zu bezeichnen, ein bis heute Debatten steuernder Effekt.

Debatten steuernd auch ein bemerkenswertes Reframing: Statt der SED wird ihr „Arm“, die Staatssicherheit, ins Zentrum gerückt, und ihr gegenüber werden die opponierenden Gruppen und Bürgerrechtsbewegungen als die Hauptakteure, die Helden der Revolution, in Berlin inthronisiert, als historischer Ort, den ihr inzwischen nicht nur die Leipziger Montagsdemonstranten streitig machen.

Gegenseitiges Wahrnehmen und Verstehen werden weiterhin erschwert

Zurück fallen generell Darstellungen zur sozialen und kulturellen Bindung der Bevölkerung, zur sozialistischen Lebensweise, zum industrie- oder freizeitgesellschaftlichen Zuschnitt. Unerörtert bleibt auch, wie mit der nunmehr geschlossenen „offenen“ deutschen Frage umzugehen sei. Mit der definitiven Regelung der Ostgrenze ist Deutschland einem Nationalstaat so nahe gekommen wie noch nie in seiner Geschichte.

Mehr als auffällig sind es genau jene ausgesparten Themen der zweiten Reihe, die sich heute als virulent erweisen. Was macht den Kern der Lebenserfahrung der Ostdeutschen aus, dem Westdeutsche ohne kommunikative Vermittlung nur spekulativ oder stereotypisiert begegnen können? Die Frage lässt sich auch in der anderen Richtung stellen.

Gegenseitiges Wahrnehmen und Verstehen werden zudem erschwert durch gesellschaftsstrukturelle Ost-West-Differenzen. Im Westen stärker als im Osten sind die Jahre nach 1989 durch die massive Globalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft markiert. Sie geht einher mit der verstärkten Übernahme von Anglizismen bis nahezu zu einem generellen Vorrang des Englischen, der sich inzwischen kurioserweise sogar auf die Germanistik ausweitet.

Die Globalisierung beeinflusst ferner eine markante Veränderung der Sozialstruktur, deren Kern die Aufspaltung der jahrzehntelang herrschaftslegitimierenden Mittelschicht ist. In der Klassenstruktur des Soziologen Andreas Reckwitz trennt sich eine neue Mittelklasse der in der neuen Wissensökonomie Tätigen, meist akademisch ausgebildet, international agierend und dem Leitwert der individuellen Selbstentfaltung folgend, von der alten Mittelklasse der industriell Tätigen, den Normen der Selbstdisziplin und der sozialen Pflicht folgend und meist nicht akademisch ausgebildet.

Man bräuchte Wörterbücher der konnotativen Werträume

Die ethnisch ungewöhnlich homogene und relativ egalitäre Arbeitergesellschaft der DDR stieß bei Vereinigung und Transformation nicht mehr auf die nivellierte Mittelstands- und Wirtschaftsgesellschaft, dem gefügten Rheinischen Kapitalismus Westdeutschlands, was den Ostdeutschen die gerade in der Transformation erforderliche, aufwendige Orientierung erheblich erschwerte. Umgekehrt mussten die neuen Länder Ostdeutschlands der in Westdeutschland ansässigen kosmopolitischen Elite mit ihrer antitraditionalistischen Haltung, internationalen Mobilität und dem Lebensstil der „global cities“ weit entrückt vorgekommen sein.

Werden Wörter so unterschiedlich eingesetzt, ist das Verstehen erschwert. Man bräuchte Wörterbücher der konnotativen Werträume, um weltanschauliche Konkurrenzen leichter erschließen zu können. Jene Konnotationen sind deshalb so aufschlussreich, weil sie sprachlicher Ausdruck unterschiedlicher Mentalitäten und Wertehierarchien sind, die wiederum mit den sozialstrukturellen Lagen der Gesellschaft zusammenhängen. Und es geht um politisches Verhalten, denn, mit dem schönen Satz des Historikers Reinhart Koselleck: „Ohne gemeinsame Begriffe gibt es keine Gesellschaft, vor allem keine politische Handlungseinheit.“

Ralf Rytlewski

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