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Nizza kann so schön sein. Wenn man nicht zum Konsulat muss, weil die Papiere plötzlich verschwunden sind.

© Andreas Dress/Unsplash

Sprachreise nach Frankreich: Verlieren geht über studieren

An der Côte d’Azur besucht sie einen Sprachkurs. Doch dann ist der Ausweis unserer Autorin weg. Plötzlich wächst ihr Vokabular von ganz allein.

Die Lage in Worte zu fassen, war auch für Sprachfremde einfach: Malheur! Catastrophe! Désastre! Das verstand sich alles beinahe von selbst. Aber wie sagt man bitte schön auf Französisch: „Meine Papiere sind weg“?

Wir standen im Foyer unseres Hotels in Antibes an der Côte d’Azur, in der Mitte gelegen zwischen Cannes und Nizza, als ich genau das feststellte. Mein Pass war unauffindbar. Nicht hier, nicht da. Weg.

Das war Donnerstagabend, der Rückflug sollte Samstagfrüh sein. Ich geriet augenblicklich in Panik. Wie sollte ich ohne Papiere ins Flugzeug kommen, wie durch die Sicherheitschecks, wie je wieder zurück nach Berlin? Würde man mich ohne ein Ausweisdokument mitfliegen lassen? Würde ich einen Fernbus nehmen müssen oder den Zug, mich beim Grenzübertritt im Bordklo verstecken, und woher sollte ich überhaupt wissen, wann was wo abfährt? Wie sollte ich mich verständlich machen auf Französisch, was ich höchstens bruchstückhaft spreche? Was für ein ironischer Abschluss für eine Sprachreise, um die rudimentären Kenntnisse aufzufrischen.

Eine englischsprachige Reiseleiterin eilte im Hotelfoyer herbei, um zu helfen. Ob ich den Pass vielleicht irgendwo verloren hätte? Woran ich mich erinnern könnte? Wo also war ich gewesen? Angekommen waren wir in Montpellier, mehr als 300 Kilometer westlich von Antibes. Die freundliche Reiseleiterin klappte ihren Laptop auf und suchte auf der Website des Aéroport Montpellier nach verlorenen Gegenständen.

Ich lernte: „objets oubliés“.

Kleine Klassen und viele Freizeitangebote

Montpellier ist eine südfranzösische Stadt voller Studenten, fast jeder dritte der 280 000 Einwohner ist an einer Hochschule eingeschrieben. Das kleine historische Zentrum ist charmant und voller Prachtbauten, einiges noch aus dem Mittelalter erhalten, anderes den Pariser Boulevardbauten des 19. Jahrhunderts nachempfunden.

Meine Reisegruppe hatte die Sprachschule „Accent Français“ besucht. In einem historischen Haus mit knarzenden Dielen füllten uralte Kamine die Ecken der Klassenräume, und an den Wänden wellten sich große Frankreich-Karten. Es studierten 204 Schüler aus 34 Ländern. Kleine Klassen und viele Freizeitangebote, sogar Kochkurse. Das fand ich gut. Fremde Sprachen auf bescheidenem Niveau zu sprechen ist wie Resteessen: aus dem was noch da ist etwas Brauchbares mixen. Wir hörten zu, wie Chinesen, Südafrikaner, Schweizer und Japaner im A2-Kurs über ihr Traumhaus sprachen. Und wie Lehrerin Jeanne die vielen verschiedenen, für uns völlig unverständlichen Akzente alle entschlüsseln konnte, weil sie einen Master hat in „Französisch als Fremdsprache“.

Dass Haus „maison“ heißt, und Traum „rêve“, habe ich mir gemerkt. Was Albtraum heißt, kam nicht vor.

Ein Anruf am Flughafen: „Objets oubliés?“ Non.

Von Montpellier fuhren wir nach Avignon, die Stadt der Päpste. Im 14. Jahrhundert regierten von der mächtigen Burg aus mehrere Kirchenoberhäupter, bis der Sitz etwa 100 Jahre später wieder zurück nach Rom verlegt wurde. Ein kolossaler Sturm hatte die Touristen, kaum dass sie aus ihren Bussen gequollen waren, vor sich her gefegt, bis sie sich hinter den meterdicken Altstadtmauern in Sicherheit bringen konnten. Le mistral, ein fieser kalter Nordwind. Hatte er meinen Ausweis hinfort geweht?

Keiner sprach Englisch, ich wurde ganz wütend

In Antibes griff ich zum Computer, suchte die Telefonnummer der Deutschen Botschaft in Paris, rief an und lernte: Rap. Ein Rap ist ein Reiseausweis als Passersatz. Mit dem würde ich ausreisen können, und den bekäme ich ganz schnell, ich bräuchte nur zwei Passfotos und eine Verlustanzeige von der Polizei, und man habe Freitag bis 18 Uhr geöffnet, alles „pas de problème“. Aber ich war doch gar nicht in Paris!

Das nächste Konsulat befand sich in Marseille, immer noch 200 Kilometer von meinem aktuellen Aufenthaltsort entfernt. Aber dann fand ich Nizza in der Liste mit den deutschen Honorarkonsulaten. Das war nur 30 Kilometer weit weg – und hat fast immer zu, wie ich feststellte, als ich anrief. Das Ansageband teilte mir mit, dass man am Freitag von 8.45 bis 11.45 Uhr geöffnet haben werde. Diese drei Stunden waren mein Zeitfenster am nächsten Tag für: Verlustanzeige bei der Polizei stellen, Passfoto machen, mich im Konsulat anmelden und irgendwie dorthin kommen.

Einen Photomaton, einen Fotoautomaten, gebe es im „Casino“, dem nahen Supermarkt, hieß es an der Rezeption. Ich schlief schlecht. J’ai mal dormi.

Früh am nächsten Tag hetzte ich los. Gleich um die Ecke hatte man mir gesagt. Da war nichts. „Le Casino?“, rief ich den wenigen Menschen auf der Straße zu. Diese zeigten mal hierhin, mal dorthin, keiner sprach Englisch oder weigerte sich, es zu verstehen. Ich wurde ganz wütend: Können Franzosen nicht mal ordentlich einen Weg zeigen?

Am Ende fand ich das Geschäft, aber der Automat wurde gerade gewartet. Aarrrgh. Zurück ins Hotel, zum nächsten Casino. Eine elegante Französin von der Touristeninformation fuhr mich. Der Fotoautomat dort war frei. Ich setzte mich rein, der Automat sprach mich an, natürlich auf Französisch. Je ne comprends pas un mot! Die Dame aus dem Auto übernahm die Kommunikation, drückte hier, drückte da, schmiss Geld ein, wosch! machte es, und dann warteten wir.

Ich lernte: Qu’est-ce que je ferais sans vous! Was würde ich ohne Sie machen!

Ich werde nach Hause kommen, vive l’Allemagne!

Bordeauxrot wie ein deutscher Reisepass. Erleichternd, wenn man das verlorene Dokument wieder in den Händen hält.
Bordeauxrot wie ein deutscher Reisepass. Erleichternd, wenn man das verlorene Dokument wieder in den Händen hält.

© imago/photothek

Weiter ging es zur Polizei. Wir parkten direkt vor der Wache im absoluten Halteverbot. „Un moment“, sagte die Frau. Und schon kam ein junger Polizist heraus, Madame, Sie können hier nicht parken. Aber da hatte er sich geschnitten. Maschinengewehrsalvenartig redete meine Helferin ihn nieder, important, hörte ich, wichtig, office de tourisme, zweimal machte der junge Mann den Mund auf und gleich wieder zu, dann hatte er begriffen: Wenn er mir jetzt nicht tout de suite, sofort, eine Verlustanzeige für meine Papiere ausstellt, war es vorbei mit dem Tourismus an der Côte d’Azur.

Ich bekam ein dünnes Blatt Papier mit schief kopierten Linien drauf. Das Formular für Verlustanzeigen. Ich lernte: Déclaration de perte. Wir trugen meinen Namen ein, dann knallte der Polizist mit einem großen Stempel darauf herum. Die elegante Französin lächelte charmant, ich seufzte erleichtert. Und schon saß ich im Taxi.

Das deutsche Honorarkonsulat in Nizza versteckt sich im zweiten Stock eines schmuddeligen Hauses in der von parkenden Transportern verstellten Rue de France, hinter billigen Türen und Pressspanambiente mit Neonlicht. Wie hatte es im Internet geheißen: „ein Ort bilateraler Repräsentation“. Immerhin klebten die Bundesadler auf den Namensschildern, die den Ort bilateraler Repräsentation von der Abstellkammer und den Toilettenräumen unterscheiden.

Hätte ich nur Französisch gesprochen!

Die Angestellte des Honorarkonsulats öffnete mir die Tür. Um 11.30 Uhr, eine Viertelstunde vor Büroschluss. Mir klebte die Frisur am Kopf. Die Konsulatsangestellte reichte mir Formulare, die ich gewissenhaft und schwer atmend ausfüllte. Nicht ohne Stolz gab ich ihr meine brandneuen Passfotos. Zahlte 21 Euro, erhielt meinen Rap, der mich zur einmaligen Einreise in die BRD berechtigt – und mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich werde nach Hause kommen, vive l’Allemagne!

Leicht wie eine Feder hüpfte ich zurück auf die Straße. Wie viel heller sieht doch gleich alles aus! Mein Handy wies mir den Weg zum Bahnhof, zurück zu meiner Gruppe in Antibes.

Erst mal jedoch etwas essen. Croissant und Café au lait, très français. Dass ich in einem Café landete, das bei genauer Betrachtung eher einem Dönerimbiss ähnelt, und der Kaffee nach Plörre schmeckte, ach egal! Dass ich Blasen an den Füßen hatte, als ich endlich den Bahnhof erreichte, na und! Dass dort Streik war und wütende Menschen in Megafone blökten, während andere mit Transparenten wedelten – Moment mal.

Hätte ich nur Französisch gesprochen! Sofort eine Reportage über die Bahnstreiks verfassen und den attraktiven Mann interviewen können, der das Megafon hielt, und etwas für die deutsch-französischen Beziehungen tun, quasi bilateral repräsentieren können. Aber so stand ich nur dumm herum, nicht mal einen Zettel mit Streikparolen fand ich. Meine verschiedenen Ansätze, die Herumstehenden um Informationen zu bitten, führten jedes Mal nur dazu, dass sie mir zeigen wollten, wo der Fahrkartenautomat stand.

Zurück in Berlin bekam ich Post vom Bezirksamt

Dieser entpuppte sich als ein sehr problematisches Gerät für Nicht-Franzosen. Vermutlich noch viel komplizierter als die Geräte, mit denen die Deutsche Bahn die Reisenden um den Verstand bringt – und dann alles noch in dieser unverständlichen Sprache. Ich lief zu zwei Herren mit Uniform. Aidez-moi! Helfen Sie mir! Würden sie vielleicht, aber sie hörten gar nicht zu, als ich losradebrechte. „Voilà“, sagten sie und zeigten auf den Automaten. „Messieurs!“, rief ich und: „Antibes!“ Wieder sagten sie „voilà!“ und zeigten auf einen Bahnsteig, wo gerade ein Zug einrollte. Ein TGV. Ich sprang hinein. Die Türen schlossen sich. Nächster Halt Antibes.

Meinen Rap hielt ich fest in der Hand und hoffte eine Viertelstunde lang, dass keine Fahrkartenkontrolleure kommen würden. Meinen Rap ließ ich überhaupt nicht mehr los, bis ich am kommenden Tag wieder in Deutschland gelandet war.

Ich habe ihn bis heute aufbewahrt. Zur Erinnerung, als Souvenir – und um nicht zu vergessen, dass ich beizeiten einen Französischsprachkurs machen sollte. Wenn ich das nächste Mal in Frankreich strande, möchte ich vorbereitet sein.

Nach ein paar Tagen in Berlin bekam ich Post vom Bezirksamt. Vom Fundbüro! Ich möge bitte vorstellig werden und meinen Ausweis abholen. Quelle surprise! Wie das geschehen war, konnte mir keiner sagen. Fundsachenakten würden sofort gelöscht, wenn die Fundsache ihren Besitzer wiedergefunden habe. Vielleicht hatte eine elegante Französin ihn gefunden oder ein verwirrter Polizist oder ein wütender Bahnmitarbeiter und ihn in den Briefkasten geworfen. Wer auch immer, dachte ich: Merci beaucoup!

Reisetipps für Frankreich

Hinkommen

Nach Montpellier entweder mit Air France über Paris fliegen oder direkt mit Easyjet. Die Preise beginnen ab 80 Euro für Hin- und Rückflug.

Unterkommen

Im historischen Stadtkern von Montpellier liegt das Grand Hotel du Midi, Doppelzimmer ab 95 Euro.

Rumkommen

LAL Sprachreisen mit Partnerschulen im „Centre International d’Antibes“ sowie im „Accent Français“ in Montpellier veranstalten mehrtägige Kursreisen. Infos unter lal.de.

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