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Stadtgeschichte: 60er Jahre – Wohnen in West-Berlin

Willy Brandt verkündet als Regierender Bürgermeister den Abriss ganzer Straßenzüge. Heinrich Kuhn dokumentiert sie vor ihrem Verschwinden. Nun sind seine Fotos erstmals zu sehen.

Von Andreas Austilat

Werner Papke erkennt die Ecke. Und das dürfte nicht mehr vielen gelingen, „sind ja alle weggezogen damals“. In jene Neubaugebiete, die Mitte der 60er Jahre im Märkischen Viertel oder in der Gropiusstadt in den Himmel wuchsen. Denn hier, im Weddinger Brunnenviertel, blieb erst einmal kein Stein auf dem anderen.

Der heute 82-jährige Papke zeigt auf das 40 Jahre alte Schwarz-Weiß-Foto eines Altbaublocks, „das war die Swinemünder Ecke Lortzingstraße“. Sein Vater betrieb dort Zigarrenladen und Wettbüro. Ein paar Häuser weiter ist Papke geboren. Im Hinterhaus, die fünfköpfige Familie teilte sich anderthalb Zimmer. Das Vorderhaus hatte nach dem Krieg nur noch drei Etagen, das Nachbarhaus war ganz zerstört. Ein Bombentreffer, dabei war das Ding nicht explodiert, sondern nur durch sämtliche Decken gestürzt. Ansonsten hatte die Straße den Krieg einigermaßen überstanden.

Nein, die Swinemünder, heute im ehemaligen Westteil bis zur Bernauer Straße ganz im Stil der 60er und 70er Jahre gehalten, fiel nicht dem Bombenhagel zum Opfer. Sie wurde auf Geheiß Willy Brandts zertrümmert, um anschließend neu wiederaufzuerstehen. „Flächensanierung“ hieß das, was Brandt, damals West-Berlins Regierender Bürgermeister, 1963 verkündete.

In der Halbstadt existierten seinerzeit rund 900 000 Wohnungen, 470 000 davon noch aus der Zeit vor 1914. Von denen besaßen 320 000 kein Bad, 190 000 keine Toilette. So auch die Wohnung der Papkes. Die Gemeinschaftstoiletten, die sich mehrere Parteien teilten, befanden sich in einem Verschlag auf dem Treppenabsatz zwischen den Etagen. Die Wohnungen dort hatten nur einen gewichtigen Vorzug: Sie waren billig.

In den 80er Jahren wurde das Konzept mit dem Schlagwort "Kahlschlagsanierung" belegt

Von den 470 000 Altbauten wurden vom Senat mehr als die Hälfte als abbruchreif eingestuft, der Startschuss fiel im Wedding. Weitere Quartiere in anderen Bezirken folgten, als Kriterien galten eine zu dichte Bebauung, die Vermischung von Wohnungen und Arbeitsstätten sowie Häuser, die als ungesund erachtet wurden. Doch weil ganze Straßenzüge verschwinden würden, beauftragte man den Fotografen Heinrich Kuhn, die Wohnungen von innen und außen zu dokumentieren. Die Bilder erscheinen erst jetzt unter dem Titel „Armutszeugnisse“ als Buch, einige werden hier vorab gezeigt. Der Befund ist erschreckend. Hinge nicht auf einem Foto das Bild John F. Kennedys an der Wand, man könnte glauben, Szenen aus Zilles Milieu um 1900 zu sehen oder aus der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Kuhns Bilder scheinen die These des Senats zu belegen, hier handele es sich um wertlosen Wohnraum, der eine Sozialstruktur hin zur negativen Auslese befördere, wie es ein Senator damals ausdrückte. Was man nicht ahnte, war die Entwicklung, die das neue Brunnenviertel ebenso wie das gleichfalls betroffene Neuköllner Rollbergviertel nehmen würde: Hin zu einem sozialen Brennpunkt.

In den 80er Jahren wurde das Konzept der Flächensanierung mit dem Schlagwort „Kahlschlagsanierung“ belegt. Widerstand regte sich, die Sanierungswalze erreichte nicht mehr das zum Abriss vorgesehene Gebiet um den Klausener Platz in Charlottenburg. In Kreuzberg kam sie nicht zuletzt wegen der vielen Hausbesetzer hinter dem Kottbusser Tor zum Stehen, das seitdem den Status eines Mahnmals gegen verfehlte Baupolitik hat. Stattdessen wurde 1983 die behutsame Stadterneuerung zur erklärten Absicht. Und heute? Wird nach Konzepten für bezahlbaren Wohnraum gesucht in einer Stadt, in der es die Bruchbude nicht mehr gibt, die preiswerte Wohnung für Neumieter aber auch nicht.

Leider verrät das Buch nicht, wo genau die Bilder aufgenommen wurden, selten geben Straßenschilder Aufschluss. Da muss man schon Augenzeugen wie Papke fragen. „Sieht ja asozial aus“, sagt er, so schlimm habe er die Wohnsituation gar nicht in Erinnerung gehabt. Allerdings ist er zwischendurch lange weg gewesen. Gemeinsam mit Werner Gladow gründete der gerade 16-Jährige eine Bande, die im blockierten Nachkriegs-Berlin zur Legende aufstieg, weil sie ihre Auftritte in dunklen Anzügen und mit weißen Krawatten nach dem Vorbild Al Capones inszenierte. Gladow wurde nach einstündigem Feuergefecht in Friedrichshain verhaftet und 1950 hingerichtet, Papke kam elf Jahre ins Zuchthaus. So richtig kehrte der spätere Boxtrainer erst jetzt als alter Mann in die Swinemünder Straße zurück. Und auch wenn die Straße ohne jedes Gewerbe in den 70ern wiedererstand, deshalb heute ziemlich tot wirkt, Papke findet sie so schlecht nicht. Oder wie er es ausdrückt, „da kann man nicht meckern.“

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