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Stuart Haygarth: Das Gut des Künstlers

Stuart Haygarth sammelt Angespültes am Strand. Aus Feuerzeugen fertigt er fantastische Leuchten. Besuch in einem aufgeräumten Londoner Atelier.

Schlimmer geht’s nicht. Ein Strand, wie aus dem Bilderbuch des Grauens: ein gigantisches Atomkraftwerk mitten im Naturschutzgebiet, eine platte Steinwüste, in der ein paar windschiefe Hütten zwischen struppigen Gräsern stehen, dazu Telefon- und Strommasten, im Wasser Wracks. Dungeness heißt dieser surreale Ort in Kent, an der englischen Südküste. Das klingt wie dungeon, das englische Wort für Kerker. Nichts wie weg hier.

„No, no, come back!“ rief das Londoner Stadtmagazin „Time Out“ seinen Lesern kürzlich zu. „It’s amazing!“

Stuart Haygarth musste das niemand sagen. Der Londoner fuhr schon vor Jahren alle paar Wochen hierher, sein Hund zog den Illustrator nach Dungeness Beach, einen der längsten Kiesstrände der Welt. Der Hund und Derek Jarman. Der aidskranke Filmemacher hatte sich an diesem unwirtlichen Ort mit Hilfe von Treibholz, Feuerstein und verrostetem Eisen einen legendären Garten angelegt, seit Jarmans Tod 1994 eine Pilgerstätte für Fans.

Für Stuart Haygarth entpuppte sich der ruppige Strand als Paradies, als Fundgrube für Strandgut – „flotsam and jetsam“, wie es im Englischen so lautmalerisch heißt. Denn die starke Strömung nimmt nicht nur Menschen mit (der Reiseführer rät dringend vom Schwimmen ab), sie schwemmt auch Unmengen an Schätzen an. Zwischen den Steinen leuchtete es Haygarth entgegen. Muscheln und Kieselsteine ließ er liegen („natural things don’t really do it for me“), Stuart Haygarth vergriff sich lieber an Plastikmüll. Von Menschen en masse produzierte, verlorene, zerbrochene, weggeworfene Gegenstände. Spielzeugautos, Joghurtlöffel, kaputte Sonnenbrillen, Wasserflaschen, das waren die Dinge, die ihn berührten. Nicht nur die Ästhetik der Objekte hat ihn gereizt – von Sand und Salz geschliffen, vom Wasser gespült, sah das Plastik für ihn aus wie buntes, durchscheinendes Glas –, es waren die Geschichten dahinter: Auf wessen Nase hatte die Brille gesessen? Welches Kind hat mit den Förmchen gespielt? Aus dem Müll baute er kostbare Kronleuchter voller Poesie, auch Melancholie.

Am Vorabend erst ist der Designer aus Venedig zurückgekehrt, der Koffer steht noch im offenen Wohnraum herum. „I love Kreuzberg“ klebt groß darauf. In Berlin hat der Brite, der mit der deutschen Künstlerin Melanie Manchot liiert ist, zwei Jahre lang gelebt. Natürlich ist er auch ans Meer gefahren. Aber deutsche Strände taugen nichts: zu sauber. „Da habe ich überhaupt nichts gefunden!“ Umso mehr haben ihn die Flohmärkte von Berlin begeistert.

Schon als Kind ging er auf Schatzsuche

Auch seine Londoner Wohnung in einer lauschigen Gasse des East Ends hat er mit Fundstücken möbliert, von Trödelmärkten und -läden, von Ebay auch, das ihm zur wichtigen Inspirationsquelle wurde, wie er sagt. Keine Lampe wie die andere, jeder Stuhl ein Einzelstück, Teller und Tassen bunt gemischt. Durcheinandergewürfelt wirkt das trotzdem nicht, alles ist geschmackvoll arrangiert, die Wohnung so aufgeräumt wie das Atelier darunter, wo er seine Fundstücke in Käfigen und Schubladen aufbewahrt. Es ist nur ein Bruchteil seiner Sammlung. Zwei Schiffscontainer voll hat er außerhalb von London gelagert.

Im Regal seines kleinen Ateliers (er hat noch ein zweites, größeres) steht ein Skiläufer aus Blech. So viel Zeit wie möglich verbringt Haygarth im Winter in den Alpen, skifahrenderweise. Er liebt die Bewegung, durch London fährt er immer mit dem Rad, natürlich entdeckt er auch dabei dauernd was, muss sich zusammenreißen, nicht alles aufzuheben.

Auf Schatzsuche gegangen ist der heute 47-Jährige schon als kleines Kind mit Leidenschaft: „Wie eine Elster.“ An der Hand seines Vaters, eines gelernten Schreiners, von dem er die Liebe zum Handwerk erbte, pickte er gern Kastanien auf, die er auffädelte und gegeneinander klackern ließ. Auf einer Weltreise 1990/91, auf der Flucht vor der Rezession, entdeckte er den Reiz von Zigarettenschachteln und Flaschendeckeln, die er zu horten begann. Schon von Berufs wegen. Der Grafikdesigner und Fotograf arbeitete als Illustrator. Allerdings nicht mit dem Stift, er arrangierte Fundstücke zu dreidimensionalen Collagen in Kisten und fotografierte sie. Die Bilder schmücken zum Beispiel Buchcover von Frank McCourt und Isabel Allende.

Dann kam der große Knall, die Jahrtausendwende. Als Haygarth am frühen Neujahrsmorgen 2000 durch London spazierte, lagen überall entleerte „party popper“ herum, winzige Sektfläschchen, aus denen Konfetti gesprüht war. Ihn bewegte die Vorstellung all der Wünsche und Träume für das neue Jahrtausend, die daran hingen. Er selbst hatte ja auch welche. Haygarth war reif für einen Wechsel, seine Arbeit, so erfolgreich sie war, langweilte ihn. Aus 1000 dieser Scherzartikel machte er 2004 sein erstes Lichtobjekt: „Millennium“. Als Fotograf hat ihn das Licht, wie es die Atmosphäre verändert, schon immer fasziniert. Ein Jahr später wurde er endgültig mit „Tide“ („Gezeiten“) berühmt, der hier abgebildeten Kugel aus Fundstücken von Dungeness Beach.

Als die Karriere von Stuart Haygarth explodierte

Seitdem kreiert Haygarth Objekte an der Grenze zwischen Kunst und Design: Skulpturen, die funktional sind, Leuchten vor allem, aber auch Sideboards und Tische, mit denen er aus dem Stand Furore machte. Seine Karriere explodierte wie ein party popper. Zeitschriften ernannten ihn zum Designer des Jahres, eine der großen Londoner Galerien nahm ihn ins Programm, das Nobelkaufhaus Selfridges ließ ihn Schaufenster mit Strandobjekten gestalten, auf der Biennale in Venedig ist er mit einer Glasinstallation vertreten.

Stuart Haygarth hat einen scharfen Blick für Schönheit. In zerbrochenen Seitenspiegeln etwa entdeckt er Juwelen und zugleich ein Artefakt unserer Zeit: „Wie wir leben, zu schnell, zu riskant.“ Aus den Unfallopfern hat er einen Tisch gebaut. Wenn er bunte Wegwerffeuerzeuge vom Strand farblich sortiert aneinanderreiht, ergibt das Bilder von unglaublichem Zauber.

Am Strand liegen, das hält er nicht länger als zwei Tage aus. Dann springt er auf und fängt an zu laufen, wahnsinnig gerne, „it clears your mind“. Die Bewegung der Beine setzt sich im Kopf fort. Am liebsten läuft er allein, der Schatzsucher braucht Konzentration. Dabei hat Haygarth schon vieles entdeckt. Tamponverpackungen, Hunderte von Marmeladengläserdeckeln, eine Flaschenpost aus Finnland, ja sogar ein ganzes Pferd. Etwas wirklich Wertvolles war noch nie dabei. Aber das macht nichts. Haygarth verwandelt den Müll in Gold: 20 000, 25 000 Pfund kosten seine Leuchten in limitierten Auflagen, jede einzelne ein Unikat.

Seine Objekte sind irrsinnig arbeitsaufwendig, dem jahrelangen Sammeln und sorgfältigen Säubern und Polieren folgt das Sortieren, Kategorisieren, dann das Skizzieren, schließlich das Experimentieren: Wie sollen all die Kämme, Fläschchen, Döschen, Schüsselchen und Schlüsselchen, Federbälle, Schaufeln, Schnuller, Badeschuhe arrangiert werden? In jedes Teilchen muss ein Löchlein gebohrt werden, dann wird es sorgfältig an Angelfäden aufgehängt, jedes einzelne an einem eigenen Häkchen, so, dass sie für den Transport auch wieder auseinanderzunehmen sind. Allein dafür brauchen drei Leute eine Woche. Zusammen mit seinem Assistenten installiert Haygarth die Objekte am liebsten selber, will er doch wissen, wo sie hängen. In einem Restaurant in Los Angeles zum Beispiel, einer französischen Villa, einem Londoner Krebszentrum.

Wie lange er an einer Leuchte, etwa aus 18 000 Brillengläsern, arbeitet, kann er gar nicht sagen, das zieht sich ja über einen langen Zeitraum mit Unterbrechungen hin. „Die Langsamkeit ist Teil des Prozesses.“ Wenn es um die Arbeit geht, ist Stuart Haygarth ein extrem geduldiger Mensch.

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