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Tag 1: "Mo Bro" Kai von Heldth hat sich den Bart abrasiert.

© privat

Trend Movember: Lippenbekenntnisse

Der Schnauzbart war lange aus der Mode – jetzt kommt er wieder. Vor allem im November lassen ihn die „Mo Bros“ wachsen. Sie tun es für einen guten Zweck.

Ein Blick auf Werbeplakate und Modestrecken verrät es schon länger: Das männliche Gesichtshaar darf wieder wuchern. Banken, Automarken, Parfumfirmen, alle wollen Sympathieträger mit Bart. Schauspieler wie Hugh Jackman, Ben Affleck oder Adrien Brody tauchen auf Premieren mit akkurat gestutzten Vollbärten auf. Die strahlen nach allgemeinem Empfinden gepflegte Virilität aus und liegen voll im Trend. Zumal in den Szenevierteln der Großstädte, wo er zur Uniform der Hipster geworden ist.

Wem hingegen das Haar allein über der Oberlippe sprießt, wer sich Schnauzer, Bürste oder Schnurri stehen lässt, einen „Dalí“ wie der gleichnamige spanische Künstler oder gar einen Slawenhaken vom Schlage Hulk Hogans, der gilt als daneben – und eben kein Inbegriff von Stilsicherheit. Trotzdem tut es manch einer, sogar offensiv, um in der Masse aufzufallen. Seht her, ich sehe aus wie Freddy Mercury! Die Hässlichen werden die Ersten sein. In zwei Jahren hat vielleicht jeder einen.

Doch jedes Jahr im Herbst lassen sich einige Männer aus ungleich edleren Beweggründen einen Schnurrbart wachsen. Sie nennen sich „Mo Bros“ wie Ben Lancaster, ein 28-jähriger Australier in Berlin. Um ein Mo Bro zu werden, muss ein Mann sich zunächst das Gesichtshaar abrasieren. Er muss glatthäutig in den Monat starten. Am ersten Freitag im November, nach einer knappen Woche Wucherzeit, macht der Bart von Ben Lancaster noch einen kläglichen Eindruck. Die meisten seiner Kollegen in der Sportsbar „Belushi’s“ am Rosa-Luxemburg-Platz haben zu diesem Zeitpunkt schon mehr vorzuweisen. Dabei war der Startschuss für alle derselbe: Am 1. November lud das Lokal zum „Shavedown“, zur gemeinschaftlichen Komplettrasur.

„The month formerly known as November“, nennt Ben Lancaster die 30 Tage im Herbst. Den Monat, der einmal November hieß – und von Jahr zu Jahr für mehr Menschen zum „Movember“ mutiert. „Mo“ ist der australische Slangausdruck für „Moustache“ – Schnurrbart.

Aus seiner Heimat kannte Lancaster die Bewegung schon, als er vor fünf Jahren aus Brisbane nach Berlin zog. Die Wiege aller Mo Bros war der Legende nach ein Pub in Adelaide. In der südaustralischen Stadt sollen 1999 ein paar Freunde beim Bier beschlossen haben, der in Verruf geratenen Rotzbremse zu neuem Ruhm zu verhelfen. Sie erfanden den „Movember“.

Ein guter Zweck diente ihnen als Vorwand, die Aktion landesweit bekannt zu machen. Zugunsten einer Tierschutzorganisation verkauften die jungen Männer T-Shirts. „Growing whiskers for whiskers“ stand darauf, wobei „whiskers“ sowohl einen Backenbart als auch die Schnurrhaare von Katzen meint.

Wo die Bewegung am populärsten ist

Die Idee war geboren, nur der Zweck schien beliebig zu sein. 2003 kamen wieder Freunde in einem Pub zusammen, diesmal 700 Kilometer weiter östlich in Melbourne. Sie hatten denselben Plan: das Revival des Schnauzers, verbunden mit einer Spendenaktion. Aber Katzen? Eine Bekannte der Männer sammelte damals Spenden für Frauen, die an Brustkrebs litten. Die Männer entschieden: Wenn schon auf eine typisch männliche Art verstümmeln, dann sollten ihre Geschlechtsgenossen davon etwas haben.

Sie starteten eine Kampagne zur Männergesundheit. Zehn Dollar spendete damals jeder, der sich einen Schnurrbart wachsen ließ, 30 Mo Bros nahmen im ersten Jahr teil. Daraus sind bis heute, zehn Jahre später, über 460 Millionen Euro aus 21 Ländern geworden.

Über vier Millionen Menschen haben sich für Movember online registriert und Spenden gesammelt, als Einzelperson oder im Team. Am populärsten ist die Bewegung in den englischsprachigen Staaten, in den USA, Kanada, Großbritannien und Australien. Dort sei der Movember auch im Fernsehen ein großes Thema, erzählt Ben Lancaster. Im Dezember fließt das gesammelte Geld von der Movember-Stiftung weiter an Gesundheitsorganisationen, in Deutschland etwa an den Bundesverband Prostatakrebs Selbsthilfe.

Ben Lancaster wurde 2005 erstmals zum Mo Bro – und eckte gleich damit an. Denn seine Schwester machte in jenem Jahr ihren Schulabschluss, der November liegt im australischen Spätfrühling, also knapp vor den Ferien. Von den Erinnerungsfotos grinst Ben für immer mit dem zweifelhaften Gesichtsschmuck. Seine Familie war damals nicht glücklich darüber, doch mittlerweile haben alle kapiert: Ben ist ein „Lifetime Mo Bro“, der elfte Monat des Jahres gehört auf ewig dem Schnurri.

In Berlin wurde Ben Lancaster zum Botschafter der Idee. Im „Belushi’s“ ist er für das Marketing zuständig, hier etablierte er den Movember vor drei Jahren samt Eröffnungs- und Abschlussparty. Damals nahmen noch fast ausschließlich Exil-Australier teil. Heute sieht das ganz anders aus. Im vergangenen Jahr hatten sich deutschlandweit mehr als 9000 Teilnehmer auf movember.com angemeldet, diesmal sind es deutlich mehr. Wem die Registrierung auf der Homepage nicht reicht, kann mithilfe der offiziellen App auch den täglichen Fortschritt seines Bartes für die Welt dokumentieren.

Den Mo Bros geht es darum, aufzufallen. Jeder von ihnen trägt den Schnurrbart als potenzielles Gesprächsthema mit sich herum. „Was soll das?“ Wer nachfragt, bekommt die Hintergründe zu hören: dass in Deutschland stündlich bei sieben Männern Prostatakrebs diagnostiziert wird. Dass pro Tag 30 daran sterben. Dass es die häufigste Krebserkrankung unter männlichen Deutschen ist.

Trotzdem sei Prostatakrebs noch eine „Untergrundkrankheit“, sagt Kai van Heldth, „ein schmutziges Tabuthema“. Die Untersuchung beim Urologen sei vielen unangenehm, deshalb würden sie die Gefahr der Erkrankung verdrängen. Der Schnurrbart ist ein launiger Umweg, ein Trick, um das Thema ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Und nicht nur die, sondern auch andere Krankheiten wie Hodenkrebs, Depressionen und die bipolare Störung.

Van Heldth betreibt ein Online-Lifestyle-Magazin für Männer - heldth.com. Um schnelle Autos geht es dort, um Krawattenklammern, Whiskey und Bartöl. Und eben auch um den Movember. Ein Video hat van Heldth Anfang des Monats gedreht und ins Netz gestellt. Er ruft dazu auf, Teil seines Teams zu werden. Rund 500 Euro haben er und seine Mitstreiter bereits eingenommen.

Van Heldth selbst ist seit vergangenem Jahr Mo Bro, der 1. November bedeutet nun einen Opfergang für ihn. Normalerweise trägt der Mittdreißiger aus Überzeugung Vollbart, doch dann muss die sorgsam gestutzte Pracht ab und wächst langsam das ästhetische Grauen. „Einen Monat lang siehst du total scheiße aus“, sagt van Heldth. „Vor allem gilt das für Männer mit wenig Bartwuchs, bei denen es über einen Flaum nicht hinausgeht.“

Er selbst kann sich nicht beschweren, im vergangenen Jahr wuchs ihm ein Prachtexemplar im Stile Clark Gables heran. Diesmal lotet van Heldth ein wenig mehr die geschmacklichen Untiefen aus: Ein Truckerbart soll es werden. Kein Wunder, dass er beim Spendensammeln davon redet, „Schmerzensgeld einzutreiben“. Fraglich nur, wessen Schmerz größer ist: seiner oder der seiner Mitmenschen.

Warum man Movember braucht

Reine Männersache? Von wegen. „Hinter jedem guten Mo Bro steht eine Mo Sista“, lautet das Motto. Frauen sollen ihre Bartträger während der 30 Tage des Wucherns unterstützen und andere Männer dazu animieren, zur Vorsorge zu gehen. Manch eine, erzählt Lancaster, lässt sich gar einen Schnurrbart auf den Zeigefinger tätowieren, um wenigstens auf diese Weise den „Mo“ zeigen zu können.

Spendenaufrufe in Form von Events liegen im Trend. Die „Ice Bucket Challenge“ lenkte im Sommer viel Aufmerksamkeit auf die Nervenkrankheit ALS, weltweit übergossen sich mehr oder minder prominente Menschen mit eiskaltem Wasser. Donatella Versace, Miley Cyrus, Bastian Schweinsteiger, der Hausmeister aus Nummer 3. So plötzlich der Hype ausbrach, so schnell erlosch er auch wieder. Dass die Movember-Bewegung Jahr für Jahr wächst, deutet auf mehr Nachhaltigkeit hin.

Eine Kampagne kann allerdings noch so gut sein, ohne prominente Unterstützer verpufft sie. Für den Movember machen sich vor allem Sportler stark, etwa die klischeegemäß kernigen Raubeine aus dem Eishockey und Rugby. So naheliegend es erst einmal klingt, dass sich Athleten für körperliche Gesundheit einsetzen, so groß seien dann aber doch oft die Vorbehalte gewesen, weiß Ben Lancaster: „Über Krankheit zu reden, gilt vielen Sportlern als unmännlich.“

Im europäischen Profifußball hat die Bewegung bereits Mitstreiter geworben. Der englische Zweitligist AFC Bournemouth änderte gerade sein Vereinswappen: Für die Dauer des Movember ziert ein kunstvoll gezwirbelter Schnurrbart die Lippe des Männchens im Logo. In der Bundesliga zeigte Schalke-Spieler Roman Neustädter im vergangenen Jahr als einer von wenigen Schnurrbart. In diesem Jahr engagiert sich Weltmeister Benedikt Höwedes als offizieller Botschafter. Sein Team der „Schalker Mo Bros“ liegt immerhin in den Top 20 der erfolgreichsten deutschen Spendensammler.

Der Wettbewerbscharakter darf offensichtlich nicht fehlen, jedes registrierte Team eines Landes tritt gegen alle anderen an. Wer mehr sammelt, gewinnt – Ruhm. Stündlich erneuert movember.com den Spendenstand auf seiner Homepage und somit das „Ranking“. In der Wertung liegt Deutschland nach der Hälfte des Monats auf Platz 12 von 21 Ländern – vor Südafrika und Hongkong. Rund 122 000 Euro sind hierzulande bisher zusammengekommen, mit 4,8 Millionen führen die USA vor Kanada mit 4,5 Millionen Euro.

Am Ende des Movember steigt alljährlich eine Abschiedsparty. Das Outfit wird dann dem Bart angepasst, so die Idee. Mario und Luigi, die beiden schnauzbärtigen Videospielhelden, stehen dabei traditionell hoch im Kurs. Ben Lancasters eigener Traum: Irgendwann einmal den Bart zwirbeln zu können, am letzten Tag des Movember.

Übrigens, die Männer vom „No-Shave November“ sind von dieser Festivität ausgenommen. Sie sammeln zwar auch Geld für die Krebsforschung, gestatten sich aber, das Gesichtshaar überall wachsen zu lassen – also auch am Kinn. Die Movember-Benimmregeln sind in dieser Frage streng: „Gentlemen schummeln nicht“, heißt es auf der Website. „Keine Vollbärte, keine Spitzbärte, keine falschen Schnurrbärte.“ Also, Mo Bros, nur oberhalb der Lippen sprießen lassen!

Unser Fotochef Kai-Uwe Heinrich ruft auch zu Spenden auf. Sein Team Bundesbrüder finden Sie auf movember.de.

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