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Autofrei und Spaß dabei. In Brünn sind ein Fünftel der Bewohner Studierende.

© promo

Tschechiens neue Trendstadt: Der Beat von Brünn

30 Jahre nach dem Kalten Krieg gibt es in Tschechiens zweitgrößten Stadt Turbomost, Start-ups und temporäre Clubs.

Adam Vodicka nimmt einen Schluck Bier. Einheimische Marke, kleine Brauerei. Er sitzt in einem Open-Air- Club und blickt auf die Peter-und-Paul-Kathedrale, die am Hang der 400 000-Einwohner-Stadt Brno, auf Deutsch Brünn, liegt. „Eigentlich ist es mir hier zu klein“, sagt er und wippt den Oberkörper zum Beat der Musik, die ein DJ auflegt. Der 32-Jährige hat eine Zeit in Frankreich gelebt, dort habe er sich sehr wohl gefühlt. Jetzt locken London oder Berlin, Hauptsache eine Metropole. „Es wäre aber doof zu gehen. Nun, wo ich etwas verändern kann.“

„Fixed Beer Brno“ heißt der Club, in dem Vodicka an einem lauen Abend auf einer Bierbank sitzt. Eigentlich nennen die Einheimischen den Ort nur „Bar an der Ecke“. Das Publikum ist jung, divers und alternativ. Wie schnell sich die zweitgrößte Stadt Tschechiens verändert, kann man in dem kleinen Brachen-Club unterm Brennglas beobachten. Vor ein paar Jahren haben Hobby-Radfahrer hier eine Werkstatt aufgemacht, aus der sich irgendwie ein Club entwickelt hat. Lange wird er keinen Bestand haben. Auf der Fläche direkt neben den Gleisen soll in den kommenden Jahren das neue Bahnhofsquartier entstehen. Unternehmen, Shoppingcenter, Wohnungen. Veränderung im Sprinttempo.

„Früher war das ein Drecksloch“

„Vor zehn Jahren war das hier ein Drecksloch. Kein Tourist verirrte sich nach Brünn“, sagt Vodicka. Nach der gewaltfreien Revolution von 1989 verfiel die Stadt. Betriebe schlossen, die Jugend verließ Brünn, viele Einwohner gingen ins Ausland, um Arbeit zu finden. Zwischen 1991 und 2006 verlor die Stadt rund 22 000 Einwohner. „Jeder wollte hier weg“, sagt Vodicka. Er ist in Brünn geboren und gilt als einer von denen, die sich nicht mit dem Status quo zufriedengeben.

Während seines Psychologiestudiums beginnt er mit einem Freund auf dem Weihnachtsmarkt selbstgemachten Apfelsaft mit Schuss zu verkaufen. Fast doppelt so teuer wie die Getränke an den übrigen Ständen, aber die Kunden stehen Schlange für den „Turbomost“, haben Lust auf Qualität und neue Ideen. Wenig später eröffnet er „Die Bar, die nicht existiert“. Am langen Holztresen kann man die Barkeeper dabei beobachten, wie sie aus den Hunderten Flaschen seltener Tropfen, die in den Regalen hinter ihnen bis zur Decke stehen, Cocktails zubereiten. Avocado, Koriander oder Rote Bete sind hier noch die gewöhnlichsten Zutaten. Der Laden in einer Nebenstraße im Zentrum ist vom ersten Tag an voll. „Als wir anfingen, gab es keine andere Bar in der Straße.“

Heute sitzen und stehen die Menschen bis tief in die Nacht auf dem Gehweg, Bars und Restaurants reihen sich aneinander. Vodicka ist inzwischen bei fünf Lokalen beteiligt, darunter die Cocktail-Bar „Super Panda Circus“. Hier hängen Anime-Zeichnungen an der Wand, bekommen Gäste japanischen Whiskey mit Sepia-Tinte, gereicht von Kellnern in Zirkuskostümen. Ein Journalist der „New York Times“ befand: „die verrückteste Bar, die ich je besucht habe“. Unlängst wurde sie zur besten Tschechiens gekürt.

Endlich den grauen Mantel der Sowjet-Zeit abwerfen

Das neueste Werk von Adam Vodicka ist das Hotel „Anybody“, in dem jedes Zimmer so eingerichtet ist, dass es an einen Filmklassiker erinnert. „Goldfinger“, „Frühstück bei Tiffany“, „Blow Up“. Gäste sollen in den Räumen, angeleitet von einem Tablet, Szenen nachspielen. Im Raum, der vom französischen Film „Elf Uhr Nachts“ – eine hedonistische Version von „Bonnie und Clyde“ – inspiriert wurde, gibt es ein Glücksrad, mit einem Luftgewehr darf man auf Rosen schießen, aus dem Fenster soll man Geldscheine werfen. „Wir haben Gäste, die gemeinsam in Alaska angeln waren, aber hier haben sie erstmals wieder richtig miteinander gesprochen“, sagt Vodicka.

Seine Bars und das Hotel sind nur ein Beleg für den rasanten Wandel. Es wirkt, als wolle Brünn endlich den grauen Mantel der Sowjet-Zeit abwerfen. Vegane Bistros entstehen, Craft-Beer-Kneipen sind gut gefüllt, Kaffeeröstereien bieten Dutzende Bohnen-Sorten an, den ganzen Sommer gibt es Festivals auf der Mauer der Burg Spielberg, die auf dem Hügel über dem Zentrum liegt.

Brünn hat sich schick gemacht. Die Fassaden der mittelalterlichen Altstadt sind neu verputzt und gestrichen, der Stuck restauriert. Auf dem zentralen Krautmarkt gibt es neben den Bauernständen nun Fairtrade-Kaffee und Bio-Eis von der Ladefläche einer italienischen Ape.

Im Sommer sitzen überall Menschen in Liegestühlen in den autofreien Gassen und trinken Wein aus den nahen mährischen Anbaugebieten. Das Leben pulsiert wieder wie in den goldenen Jahren Brünns Ende der 1920er, als die Textilbranche die kleine Stadt zwischen Wien und Prag reich machte und Künstler aus ganz Europa anlockte. Darunter auch Mies van der Rohe, Vordenker der modernen Architektur, der hier seine berühmte Villa Tugendhat erbauen ließ.

Manche fürchten eine zunehmende Kommerzialisierung

90 Jahre später ist nicht allen die erneute rasante Entwicklung geheuer. Einer von ihnen ist Peter Konvicka, ein 32-jähriger Zahnarzt, der mit seiner Familie am Stadtrand wohnt. Trotz seines guten Einkommens sei eine Wohnung im Zentrum für ihn nicht erschwinglich, sagt er beim Abendessen in einem marokkanischen Restaurant. „Brünn ist nicht Prag, aber man spürt bereits erste Tendenzen der gleichen Entwicklung.“ Konvicka – blond, bärtig, muskulös – wirkt ein bisschen wie der Typ Naturbursche. Er hört gern Ska, hat eine Zeit lang Bienen gezüchtet und will gemeinsam mit den Nachbarn einen Waldkindergarten eröffnen. Auch in Tschechien herrscht Kita-Mangel.

Konvicka sieht die Veränderungen Brünns positiv, fürchtet aber eine zunehmende Kommerzialisierung. Verhältnisse wie in Barcelona oder Prag wolle er auf keinen Fall. Sein Lieblingscafé sei neulich von einer internationalen Kette übernommen worden. Musikfestivals, die Geheimtipps in der Szene waren, hätten große Sponsoren bekommen.

Doch woher kommt der Boom? „Seit dem EU-Beitritt 2004 hat sich etwas verändert“, sagt Konvicka. Zuerst seien mit dem Erasmus-Programm viele internationale Studierende gekommen, danach folgten Firmen und Start-ups. Elf Universitäten gibt es, ein Fünftel der Bevölkerung studiert. „Brünn war schon immer ein multinationaler Ort“, sagt Konvicka und erinnert an die gemeinsame Gründung der Stadt durch Juden, Deutsche und Tschechen im Mittelalter. „Wir haben ein Gen für Toleranz.“

Neue Jobs locken Menschen aus der ganzen Welt

Das wird jedoch zunehmend auf die Probe gestellt. Nirgends im Land sind die Mieten so schnell gestiegen wie in Brünn, einer Studie von 2014 zufolge liegen die Preise für Wohneigentum inzwischen 125 Prozent über tschechischem Durchschnitt. Außerhalb der Stadtmauer entstehen neue Hochhaus-Viertel, Unternehmen siedeln an, die Jobs locken Menschen aus der ganzen Welt.

So auch Raymond Vrijenhoek. Der Niederländer ist seit Mai in der Stadt und arbeitet als Sprecher für das Reise-Start-up Kiwi. Jahrzehntelang tingelte der 55-Jährige als Berater um den Globus. New York, London, Augsburg, zuletzt Bahrain. Geld habe er dort mehr verdient, sogar einen Porsche habe man ihm gestellt. „Es macht nicht glücklich, den ganzen Tag mit einem 911er durch die Gegend zu heizen“, sagt er im Garten des „Kohout na Vine“, einem der besten Restaurants der Stadt, und spießt eine Jakobsmuschel auf seine Gabel. In Brünn genießt er das gemäßigte Wetter, die Küche, die nahe Natur und die kurzen Wege.

Dass er hier ist, verdankt er dem Erfolg eines Brünner Start-ups. Vor fünf Jahren ärgerten sich zwei lokale Studenten über unsinnige und überteuerte Anschlussflugverbindungen. Sie programmierten einen Code, der die Angebote der Billiganbieter miteinander verknüpfte. Die Geburtsstunde von Kiwi. Das Start-up hat Niederlassungen auf der ganzen Welt, allein in den Regionalbüros in Brünn, Bratislava und Prag sind 1800 Mitarbeiter aus mehr als 60 Nationen beschäftigt. Das Durchschnittsalter der Belegschaft liegt bei 27 Jahren. 2018 machte Kiwi mehr als eine Milliarde Euro Umsatz.

Eine Bar außerhalb der Altstadt erinnert an das alte Brünn

„Woanders wäre dieser Erfolg kaum möglich gewesen“, sagt Vrijenhoek. In Brünn habe es Platz gegeben, die Lokalpolitik sorge für eine ideale digitale Infrastruktur, mit der Universität gebe es Kooperationen, um Ingenieure direkt aus dem Hörsaal abzuwerben. „Für einen Unternehmer gibt es genug Zutaten, um erfolgreich etwas zu kochen.“ Der Holländer spielt mit dem Gedanken, sein Arbeitsnomadentum aufzugeben. Erstmals habe er einen Vertrag über vier Jahre unterzeichnet. „Brünn hat ein perfektes Klima für Start-ups, aber auch für mich alten Mann ist es perfekt“, sagt er, lacht und nimmt einen Schluck Rotwein.

Drei Abende zuvor und einige Straßenzüge weiter will Adam Vodicka das alte Brünn zeigen. Dafür hat er eine dunkle Bar außerhalb der Altstadt betreten, die nur von zwei schwachen Glühbirnen erleuchtet wird. Alte Holzdielen, feuchte Steinwand, die Fenster sind mit Brettern vernagelt. Ein paar Studenten spielen Karten, alte Männer trinken stumm ihr Bier, Musik läuft nicht. Hier stolpert man nicht einmal zufällig herein. „So war das Brünn meiner Eltern im Kommunismus“, sagt Vodicka und bestellt Bier, das umgerechnet rund einen Euro kostet.

Neben der Theke ist ein Gast im Blaumann in den Armen seiner Freundin eingeschlafen. Der Schuppen ist ein Schmelztiegel der Milieus. Jetzt gebe es vielleicht noch zwei oder drei solcher Kneipen in Brünn. „Das ist der Lauf der Dinge.“ Er betrachtet den Wandel als etwas Positives, als Chance. „Wir können jetzt das neue Brünn gestalten“, sagt Vodicka und stößt an.

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