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Dauergäste auf Sylt: Gunter Sachs, Brigitte Bardot, Sabine Christiansen - und jede Menge Nackte

© imago (4), dpa (2); Collage: Yvonn Barth

Urlaubsfantasie: Insel meiner Träume

Sylt im Sommer, da fährt nur hin, wer Rang und Namen hat: Klopp, Kerner, Christiansen, Bohlen... und unser Autor. Hier verrät er, wie auch Sie zur Insel-Elite gehören können.

Im Sommer reise ich immer nach Sylt. Einmal mindestens, gerne auch öfter. War ich lange nicht da, beginnt mir die Insel zu fehlen. Gäbe es sie nicht, man müsste sie glatt erfinden.

Warum ich so gerne nach Sylt reise? Zum Beispiel wegen Gesprächsfetzen wie diesen hier, mitgehört in vier Jahrzehnten an den Stränden zwischen Hörnum und List:

„Geld allein macht nicht glücklich. Es gehören auch Aktien, Immobilien, Juwelen und junge Mädels dazu.“

„Jungs, es ist vier Uhr morgens, ich muss wirklich schließen.“ – „Blöde Kuh, wir kaufen deinen Laden!“

„Kennst du die Eva?“ – „Welche Eva?“ – „Ganz hübsch, aber bisschen billig?“ – „Ach ja, hab ich auch schon gebumst.“

„Ist das Ihr Mann?“ – „Nein, mein Anwalt. Der ist jetzt wichtiger.“

„Ich sag immer: Besser neureich als gar kein Geld.“

Warum ich so gerne nach Sylt reise? Weil es so schön übersichtlich ist. Kein Weg ist weit, man weiß, wen man wo trifft. Ich fange den Tag gerne am FKK-Strand an, Buhne 16, nördlich von Kampen, da trinke ich einen Au lait und schaue den Bankern zu, die mit gerollten Wirtschaftszeitungen Wespen erschlagen. Unten am Strand gehen Alpha-Männer spazieren, bekleidet mit nichts als Omega-Uhren, und wenn sich zwei begegnen, die sich sonst nur im Aufsichtsrat begegnen, dann lassen sie zum Gruß kurz Mundwinkel und Brustmuskeln zucken. Andere setzen dem Sylter Wind das klassische Buhne-16-Outfit entgegen: obenrum Norwegerpulli, untenrum nix. Leider sieht man das heute nicht mehr ganz so oft, wie überhaupt die Sylter Nackten, über die sich einst die halbe Republik das lüsterne Maul zerriss, ein bisschen seltener geworden sind. Früher war mehr Fleisch.

Mittags rufe ich schon mal vorsorglich den Pizzaservice an und bestelle für den Abend eine Spargelpizza. Die Nummer vom Pizzaservice steht nicht in den Gelben Seiten, aber wem die Nase juckt, der kennt sie. Eine Spargelpizza – zwinker, zwinker – kostet 90 Euro und wiegt genau ein Gramm.

Abends fahre ich rüber nach Kampen, ins Pony, oder ins Gogärtchen, oder ins Rote Kliff – wird schon irgendwas gehen in einem der Läden am Strömwai, den hier übrigens kein Mensch „Whiskeymeile“ nennt, das sagen nur Touristen. Ich mische mich gerne unter die jungen Erben, die hier das Geld der alten Sylter auf den Kopf hauen, irgendjemand muss es ja tun. Der Spruch „Ich war schon als Kind scheiße“, den ich hier mal auf einem T-Shirt gelesen habe, wirkte entwaffnend ehrlich. Aber feiern, das können sie.

Vielleicht esse ich, bevor die Nacht in Kampen losgeht, noch was in der Sansibar, dem alten Promi-Restaurant in den Dünen von Rantum, gegründet vom Schwaben Herbert Seckler, der über Sylt mal einen schlauen Satz gesagt hat: „Wo sonst in Deutschland kannst du deinen Reichtum so zur Schau stellen?“ Ich glaube, der Seckler wusste gar nicht, wie recht er damit hat. Ein reiches Land, in dem alle so tun, als hätten sie nix, ist verlogen. Nirgends in Deutschland trifft man so ehrliche Menschen wie auf Sylt.

Warum ich so gerne nach Sylt reise? Weil es alle tun. Den Günter Netzer sehe ich oft, auch Thomas Gottschalk, Mike Krüger und all die anderen Fernsehnasen, Jauch und Kerner und Schmidt und wie sie alle heißen. Dem Reinhard Mey geht es zwar total auf den Wecker, dass auf Sylt immer irgendwo irgendwer seinen Rasen mäht, trotzdem hat er ein Häuschen hier. Von den Politikern ist der Schäuble oft da, der Westerwelle, der Merz und der Koch, auch der Ole von Beust, der hat's ja nicht weit von Hamburg. Genau wie Udo Lindenberg. Der Bohlen hängt natürlich auch gerne hier rum. Wer noch? Jürgen Klopp, Boris Becker, Didi Hallervorden, Karl Dall, Otto Waalkes, Udo Jürgens, Mario Adorf, Fritz Wepper, Eckart von Hirschhausen, Til Schweiger – ich könnte ewig so weitermachen.

Die Namen der Frauen kann ich mir nicht so gut merken. Die wechseln so oft.

Mallorca? Willst du im Urlaub deiner Putzfrau begegnen?

Warum ich gerne nach Sylt reise? Weil es so schön einsam ist. Denn eigentlich lebt hier ja überhaupt niemand. Wer sich ein Haus leisten kann, bewohnt es nur für ein paar Wochen im Jahr, den Rest der Zeit stehen die Reetdach-Villen leer. Manche Besitzer lassen, wenn sie weg sind, Aktivität vortäuschen, von Heinzelmännchen, die das Licht an- und ausschalten, die Vorhänge auf- und zuziehen und wechselndes Kinderspielzeug im Garten verstreuen. Einbrecher mögen sich davon täuschen lassen, aber wir Sylt-Kenner wissen natürlich, dass wir die Insel die meiste Zeit des Jahres ganz für uns haben. Auch die Heinzelmännchen stören uns nicht, denn die wohnen selbstverständlich auf dem Festland – zusammen mit den etwa 5000 Kellnern, Köchen, Gärtnern, Putzfrauen, Brötchenverkäufern, Elektrikern, Maurern, Dachdeckern, Hausmeistern, Ärzten, Lehrern und Polizisten, die zur Arbeit auf die Insel pendeln, weil sich hier nun mal nicht jeder Hinz und Kunz eine Wohnung leisten kann.

Warum ich so gerne nach Sylt reise? Der Preise wegen. Es ist zwar etwas teuer, dafür ist man unter sich. Die Tasse Kaffee für eins dreißig, die Flasche Bier für zwei fünfzig, der Quadratmeter Bauland für 1500 D-Mark: Das kam schon Ende der 70er Jahre den allermeisten in Deutschland gesalzen vor. Nicht uns, die wir mit Vergnügen 52 Mark für unsere Seezungenröllchen mit Hummer und Trüffelscheiben bezahlten. 52 Mark, das war ein halber „Kampen-Dollar“, so nannten wir hier die Hundertmarkscheine, als es sie noch gab. Später sagten wir „Sylter Volkswagen“, wenn vom Mercedes 500 SL die Rede war, weil schon am Tag seiner Markteinführung die ersten 23 Stück über die Insel kurvten. Wir lachten, wenn mal wieder eine Zeitung verkündete, diese oder jene Krise werde sich „nun sogar auf Sylt“ bemerkbar machen – am Ende sind die Preise nur immer weiter gestiegen. Dieses Jahr erst wurde am Kampener Watt wieder ein 120-Quadratmeter-Häuschen für 21 Millionen Euro verkauft.

Warum ich so gerne nach Sylt reise? Na, wo soll unsereins denn sonst hin? Mallorca? Hübsch, aber willst du im Urlaub deiner Putzfrau begegnen? Nizza? Alles voller Russen. Hiddensee? FKK gut und schön, mit nackten Ossis kann man leben – blöd nur, dass die bis heute nicht kapiert haben, wie man sich anzieht.

Warum ich so gerne nach Sylt reise? Weil die Insel so viel zu erzählen hat. Über das Land, in dem wir leben. Sylt, das war immer eine deutsche Insel, auf mehr als fünf Prozent haben es ausländische Urlauber hier nie gebracht. 1908 verzeichnete die Kurstatistik „25 Freiherren, 12 Barone, 45 Grafen, 9 Prinzen, 1 Fürstin, 1 Herzogin und 9 Afrikaner“. Etwa ein halbes Jahrhundert alt war da der Tourismus auf Sylt. Popularisiert hatte ihn ein Dichter, Ferdinand Avenarius, dessen Ruf an die Nordsee anfangs vor allem Dichter folgten: Stefan Zweig, Gerhart Hauptmann, Alfred Kerr, Ernst von Salomon, Carl Zuckmayer. Und natürlich Thomas Mann. Der schrieb einen vielzitierten Satz ins Gästebuch von Haus Kliffende, von dem mindestens drei unterschiedliche Versionen kursieren, vermutlich weil die Journalisten, die ihn abschrieben, schon die eine oder andere Spargelpizza intus hatten. „Nicht Glück oder Unglück, der Tiefgang des Lebens ist es, worauf es ankommt“, so die meistzitierte Variante. „An diesem erschütternden Meere habe ich tief gelebt.“

Im Sommer, wenn sonst nix los ist, fahren die Reporter nach Sylt

Künstler kamen auch noch, nachdem der Krieg das Meer erschüttert hatte, nur war es jetzt ein anderer Schlag von Artisten, die auf Sylt das tiefe Leben suchten. Gunter Sachs zog mit Brigitte Bardot über die Insel, meist mit dem Motorrad, das er gerne direkt am Tresen parkte. „An dieser Stelle verteilte Gunter Sachs von seiner Harley-Davidson herab signierte Tausendmarkscheine“, schrieb Fritz J. Raddatz in Kampen auf eine improvisierte Gedenktafel. Nachts wehte Gestöhne aus den Dünen, nackte Hippie-Bräute tanzten am Strand um aufblasbare Riesenpenisse, Aristokratensprösslinge flanierten mit Pfauenfedern zwischen den Pobacken über die Insel, im Pony Club hingen Milliardärserben am Kronleuchter.

Das alles ist ewig her, gewiss, und Sylt, uns Insidern ist das klar, zehrt von einem Ruf, dem es im echten Leben nur noch selten gerecht wird. Es gibt andere Inseln auf der Welt, wärmere, und mehr Flugzeuge, die einen hinbringen. Dieter Bohlen ist kein Gunter Sachs, das Stöhnen in den Dünen hat nicht mehr den Pegel von einst, die Milliardäre gehen früher ins Bett, und manchmal bekochen sie sich sogar selbst – man sieht es an den Jaguaren, die vor der Aldi-Filiale in Westerland parken.

Sylt, unser Sylt, das ist im Grunde eine Gentrifizierungsgeschichte in Zeitlupe. Erst kamen die Künstler, dann die Hipster, dann die Banker. Und obwohl wir das wissen, wird uns, wenn wir zurückblicken, manchmal immer noch ganz warm ums Herz. Weil Sylt uns daran erinnert, dass unser altes, reiches Land auch einmal jung war. Und schön. Und sogar ein bisschen wild.

Warum ich so gerne nach Sylt reise? Weil man dazu gar nicht die Wohnung verlassen muss. Immer, wenn im Sommer nix los ist, schicken die großen deutschen Zeitschriften ihre Reporter auf die Insel – Jahr für Jahr, Titelgeschichte für Titelgeschichte. Liest man sich die Sommerloch-Reportagen der letzten vier Jahrzehnte durch, im „Stern“, in der „Bunten“, in „Park Avenue“, „Geo“, „Zeit“, „Hörzu“, „Brigitte“ und „Neuer Revue“, dann kennt man Sylt am Ende wie seine Westentasche. Ohne jemals auch nur einen Fuß auf die Insel gesetzt zu haben. So wie ich.

Hinfahren, wirklich hinfahren werde ich wohl nie. Es würde mich zu sehr enttäuschen, wenn da in Wirklichkeit alles ganz anders ist.

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