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Die Unterseeinsel mit dem umgebauten Gasthof liegt mitten im See. Der malerische Ort liegt in der Nähe von Kyritz.

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Von Kreuzberg nach Kyritz: Warum es Berliner auf die "Insl" zieht

Wer zum Lokal „Insl“ übersetzen will, muss auf eine Bratpfanne klopfen. Drüben gibt’s Aal in Aspik, einen Billardraum, viel Ruhe – und wer will, kann heiraten.

Man braucht Geduld und auch ein bisschen Vertrauen, wenn man am Untersee in Kyritz an der Knatter steht. Dort baumelt am Steg eine alte Bratpfanne am Pfosten. Der Rost frisst sich durch die rote Farbe. An der Pfanne hängt ein silbern angesprühter Hammer. Klopft man mit dem einen auf das andere, soll eine Fähre kommen. So steht das jedenfalls auf dem handgepinselten Schild neben dem Steg. Erst mal passiert: nichts.

Es gibt schlimmere Orte zum Warten. Backbord ein Strandbad aus den 20er Jahren. Steuerbord ein paar Bootshäuser im Schilf. Geradeaus: der Untersee. Und mittendrin, wie hingemalt, eine Insel, auf der, umrankt von alten Bäumen, ein Haus aus Backsteinen zu erkennen ist.

Wen man vom Steg aus nicht sieht, ist Volker Sitz, schlohweißes Haar, Ringelpulli, Typ: brummiger Seebär. Ihm gilt der Gong. Hört er ihn, steht er auf vom Stammtisch unter der Veranda neben dem Eingang des alten Gasthofs. Er nimmt seine Lesebrille ab, legt den Kugelschreiber neben das Kreuzworträtsel und geht mit Kaffeebecher zu seiner Fähre, mit der er hier schon seit 25 Jahren über die Kyritzer Seenkette fährt. Immer Kyritz, Insel, Bantikow und zurück. Nur am Montag nicht. Da ist Ruhetag.

200 Meter Überfahrt, dann ist man auf der Insel

Es sind vielleicht 200 Meter, mehr nicht, dann ist man auf der Insel angelangt, die eigentlich Unterseeinsel heißt, aber vor drei Jahren, als neues Leben in den alten Gasthof einzog, in Insl umgetauft wurde. Wimpel wehen im Wind, in den Blumenkästen blühen üppig die Geranien, in kleine Blechgießkannen sind Stiefmütterchen gepflanzt, die auf den Tischen mit gepunkteten Tischdecken stehen.

Ein Schwanentretboot ist am Steg festgemacht. Eine Schaukel hängt an einem Ast. Ein alter Kahn steht auf der Wiese und ist zu einer Sandkiste umgewidmet, drumherum liegt buntes Spielzeug. Zwischen den alten Bäumen tun sich kleine Badestellen auf. Idylle wäre eine Untertreibung. Paradies nur ein klein wenig übertrieben.

Hier hat Rosmarie Köckenberger, Cowboystiefel, Ankerkette und Matrosenkleid, seit drei Jahren das Sagen – und gerade alle Hände voll zu tun. Eine Gruppe Rentner kann sich nicht entscheiden, welchen Kuchen sie essen soll. Käsekuchen oder doch lieber die Nussecke?

Die Diskussion wiegt hin und her. Köckenberger moderiert geduldig. Eine Familie mit Baby bestellt den Ahoi-Burger, will dann doch den Branden-Burger und dann doch wieder den Ahoi-Burger. Köckenberger notiert, streicht, notiert. Ein Fünfjähriger mit Zahnlücke quengelt: „Ich will ein Eis!“

„Gibt’s erst in fünf Minuten“, erklärt Köckenberger. Dann komme ihre Kollegin, die den Eisstand aufmacht.

„So lang halt ich nicht aus.“

„Renn einmal um die Insel.“

Idylle mit Burger. Im Lokal gibt es saisonale Küche der früheren „Kjosk“-Betreiberin aus Berlin.
Idylle mit Burger. Im Lokal gibt es saisonale Küche der früheren „Kjosk“-Betreiberin aus Berlin.

© promo

Das Kind flitzt los. Köckenberger ist keine Wirtin, sondern studierte Sozialpädagogin. Was ja im Grunde das Gleiche ist. Und sie kommt auch nicht aus Kyritz an der Knatter, sondern aus Kreuzberg.

„Die Insel hat uns gefunden. Nicht wir sie“, erzählt die 34-Jährige. Seit mehr als 100 Jahren gibt es diesen Gasthof auf dem Eiland, das man in sehr gemütlichen fünf Minuten umrundet hat. 1893 wurde die Schanklizenz erteilt, zwei Jahre später eröffnete die erste Gaststätte.

Innen Tanzsaal, vorne Veranda, hinten Biergarten

Anfangs verkauften die Fischer noch aus Pavillons ihren Fang. Um die Zeit des Ersten Weltkriegs wurde die Gaststätte ausgebaut. Gearbeitet wurde im Winter, wenn das Eis so dick war, dass man das Baumaterial auf die Insel bringen konnte. So entstand langsam ein schmuckes Gebäude. Innen ein Tanzsaal mit Parkett, vorne eine Veranda, von der man den Sonnenuntergang ansehen kann. Hinter dem Haus, unter mächtigen Buchen und Eichen, ein Biergarten. Zu DDR-Zeiten servierte die HO hier Würzfleisch und Soljanka an die Ausflügler, die reichlich kamen.

Ein Freund, Kai Seekings, der mit seiner Familie ins benachbarte Teetz zog und dort die Pension „Unser Wunderland“ betreibt, ist auf den Gasthof gestoßen. Der stand damals leer. Die Stadt suchte einen Pächter. Gemeinsam mit Lars Voigt schrieben sie ein Konzept und bekamen den Zuschlag. Weil sie mit neuen Ideen kamen, das gefiel den Stadtverordneten. Seekings ist mittlerweile ausgestiegen, dafür steht Köckenbergers Mann Sebastian Scholz in der Küche.

Mit dem Auto fährt man über die A 24 und biegt in Herzsprung Richtung Kyritz ab. Vom Bahnhof Zoo fährt stündlich der RE 2, der in Neustadt (Dosse) hält. Von hier aus geht es entweder mit dem RB 73 oder mit dem Bus 711 weiter nach Kyritz. Bis zur Fähre muss man noch rund 20 Minuten Fußweg einplanen.
Mit dem Auto fährt man über die A 24 und biegt in Herzsprung Richtung Kyritz ab. Vom Bahnhof Zoo fährt stündlich der RE 2, der in Neustadt (Dosse) hält. Von hier aus geht es entweder mit dem RB 73 oder mit dem Bus 711 weiter nach Kyritz. Bis zur Fähre muss man noch rund 20 Minuten Fußweg einplanen.

© Fabian Bartel

In Berlin schrumpfen die Freiräume, auf den Land wachsen sie

Zwischen den alten Bäumen tun sich kleine Badestellen auf. Idylle wäre eine Untertreibung. Paradies nur ein klein wenig übertrieben.
Zwischen den alten Bäumen tun sich kleine Badestellen auf. Idylle wäre eine Untertreibung. Paradies nur ein klein wenig übertrieben.

© promo

Damals mussten die Kyritzer um ihre Insel zittern. Ein Jahr lang kam kein Boot, wenn man auf die rote Bratpfanne schlug. Davor wechselten die Pächter im Jahrestakt. Niemand brachte die Traditionsgaststätte zum Laufen, über die jeder Kyritzer eine Geschichte zu erzählen weiß. Ob Jugendweihe oder Goldene Hochzeit, wenn es in Kyritz etwas zu feiern gab, fand das oft auf der Insel statt.

Gleichzeitig kam Köckenbergers bisheriges Projekt ins Stocken. Denn die Jahre zuvor betrieb sie den Kjosk. Einen Doppeldeckerbus, den sie zu einer Mischung aus Späti, Tante-Emma-Laden und Kneipe umfunktioniert hat.

Der Kjosk war eine lokale Berühmtheit. Anfangs stand er an der Kreuzung Oranien- Ecke Skalitzer Straße. Hier konnte man Wurst und Eier kaufen, in Zeitschriften blättern, Kaffee und Bier trinken. Es gab eine Tischtennisplatte, einen Heimtrainer, eine Ausstellung, Konzerte. Der improvisierte Charme und die kreative Nutzung von Brachen – all das, was das Berlin der 90er Jahre ausmachte, kam hier zusammen.

Doch die Umstände wurden immer schwieriger. Jedes Jahr musste Köckenberger für ihren Bus einen neuen Standort suchen. Leicht war das nie, aber nach vier Jahren fand sie endgültig keinen Platz mehr. In Berlin wurde es allmählich enger, die Freiräume schrumpften.

Sie malte Schilder, hisste die Piratenflagge

Die finden sich jetzt eher auf dem Land. Köckenberger hatte Glück. Die Gaststätte war vor zehn Jahren renoviert worden, die Küche voll funktionstüchtig, die Fenster in Ordnung. Sie konnte also loslegen. Möblierte die Gaststätte neu, stellte Vintage-Möbel ein, bemalte Schilder, hisste eine Piratenflagge. Der Look erinnert ein wenig an die Wohnzimmerbars der 90er Jahre, ein bisschen an die Clubszene der Nullerjahre. Auf jeden Fall sieht er nach Großstadt aus.

Zur Insel kommen Besucher nur mit einer Fähre.
Zur Insel kommen Besucher nur mit einer Fähre.

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Auch die Speisekarte stellte sie um. Die wurde vor allem kleiner: hausgemachte Burger, den vegetarischen gibt’s schon für 5,50 Euro, und vieles aus der Region. Am Wochenende kommen wechselnde Tagesgerichte hinzu. „Am Anfang wurde man schon beäugt, da kommt jemand Junges, Neues, der macht Sachen anders. Bisschen rustikaler, bisschen lockerer“, erzählt sie.

Der Fährmann Volker Sitz kennt das Auf und Ab wie kein anderer. Früher, erzählt er und pafft an seiner Zigarre, da war es immer voll. Auch bei schlechtem Wetter. Er lebt ja quasi mit der Insl. Als selbstständiger Fährmann bringt er die allermeisten Gäste zum Gasthof.

Wer nicht gerade selber paddelt, am Wochenende mit dem Ausflugsdampfer kommt oder schwimmt, der nimmt seine Dienste in Anspruch. Fahrkarten gibt er keine aus. Der Preis schwankt, je nach Gruppengröße und Wechselgeldlage – meist zugunsten der Gäste. Mehr als zwei Euro hin und zurück zahlt keiner. Trotzdem brummt er: „Ick versuch davon zu leben.“

Ein wenig fremd ist ihm schon, was da jetzt läuft

Was er vom neuen Konzept hält? Na ja, vorher war die Karte größer, brummt er, gab es mehr Auswahl. 40 Gerichte, viel Fisch, manchmal aus dem Salzwasser. Er sagt das nicht, aber man merkt: Ein wenig fremd ist ihm das Ganze schon, was da jetzt abläuft. Dafür, das erzählt er auch, kommen jetzt extra Leute angereist aus der Stadt. Googelt man Kyritz, kommt gleich an vierter Stelle die Insl.

Rosmarie Köckenberger setzt sich hin. Kurze Pause. Eine rauchen. Heute sind Handwerker da. Der Kippschwenker macht Sorgen. Irgendwas mit dem Gas stimmt nicht.

Am Wochenende wird wieder geheiratet. Seit 2015 darf das Standesamt auf der Insl Trauungen vornehmen. Ein wichtiges Geschäft für sie. Als Saisonbetrieb, der auch noch wetterabhängig ist, gibt das etwas Planungssicherheit.

Stück für Stück wollen sie die Insl ausbauen. An den Wochenenden gibt es oft Kino und Konzerte. Und bald sollen Übernachtungsmöglichkeiten kommen. Am liebsten auf Pfahlbauten, wie die umliegenden Bootshäuser, sagt Köckenberger.

Die Insl braucht neue Gäste, aber den alten muss es auch gefallen, natürlich. Es ist ja ihre Insel. Im Billard-Raum hinter der Tanzdiele hängen historische Fotos. Eine kleine Ahnenhalle. Sie zeigt, wie sehr die Insel zu den Kyritzern gehört. Und auch den Aal in Aspik gibt es wieder (12,50 Euro). Das hätten sich die Gäste gewünscht. Ein Traditionsgericht sei das, meinten sie. Ehrensache, dass Köckenberger ihn auf die Karte nahm.

„Was ich mag, dass es so durchmischt ist. In der Gastronomie kann man sehr viele ansprechen.“ Ein bisschen wie im Kjosk. Da kamen auch alle – die türkischen Kinder, denen sie bei den Hausaufgaben half, die Alkis, die Touristen, die Hipster.

Die Gegend wird für Berliner interessanter

Kyritz schrumpft und altert. Wie so viele Orte in Brandenburg. Die Entwicklung ist nicht rasant, aber sie schreitet fort. Gleichzeitig, das merkt Köckenberger, wird die Gegend für Berliner interessanter. In dem Maße wie Stadt und Umland teurer werden, werden Gegenden wie hier attraktiver. Vor allem, wenn man Ideen hat.

Köckenberger vermisst die Stadt nicht. Neulich, erzählt sie, da war sie in Kreuzberg und stand mit ihren Freundinnen auf der Hobrechtbrücke. Sektchen getrunken, Sonnenuntergang angekuckt. Plötzlich fuhr ein Krankenwagen vorbei und machte die Sirene an. Ihr fuhr ein Schreck durch die Glieder. Dabei wuchs sie in der Urbanstraße auf, gleich neben dem Krankenhaus.

Den Lärm sei sie nicht mehr gewöhnt, sagt sie. Wenn’s auf der Insl mal laut wird, dann sind das die Enten.

Felix Denk

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