zum Hauptinhalt
Buchführung für das Selbst: War ich heute so, wie ich gerne sein möchte?

© Maddie McGarvey/The New York Times

Was ist Macht?: Eine Frage des Charakters

Bevor ich die Welt verändern konnte, musste ich zuerst mich selber verändern. So wurde Macht zu einer Frage, die ich mit mir selbst ausgehandelt habe. Ein Gastessay.

- Susan Fowler hat die sexuellen Belästigungen bei Uber 2017 öffentlich gemacht. Seit Juli 2018 ist sie Redakteurin bei der "New York Times". Ihr Buch "Whistleblower" soll im kommenden Frühjahr erscheinen.

In unserer Sommerserie zur Frage „Was ist Macht?“ drucken wir Texte der „The New York Times“-Reihe „The Big Ideas“. Bereits erschienen: Ex-US-General Wesley Clark zur Frage von Moral und militärischer Macht, die Philosophen David Beaver und Jason Stanley zur Macht der Rhetorik, die Schriftstellerin Sophie Mackintosh zu Macht und Geschlecht.

Das erste Mal, dass ich über Macht nachdachte, war in meiner Jugend, als ich ungefähr 14 oder 15 war und im ländlichen Arizona lebte. Ein paar Jahre zuvor wurde ich von meiner Mutter zu Hause unterrichtet. Als sie dann wieder anfing zu arbeiten, konnte ich auf keine öffentliche Schule gehen und musste mir auch einen Job suchen.

Ich war arm, ungebildet und frustriert, und tagträumte, was ich tun würde, wenn ich die Macht hätte, ob ich die Welt nach Belieben biegen und formen könnte.

In den meisten meiner Tagträumereien war ich ein ganz gewöhnliches Kind, das sich nicht von Gleichaltrigen unterschied. Ich wollte zur Schule gehen, Hausaufgaben machen und neue Dinge lernen. Ich wollte schöne und modische Kleider. Ich wollte neue Menschen kennenlernen und einen Freund haben.

Macht hieß Macht über mich selbst

Wenn ich von der Zukunft träumte, dann träumte ich von einer guten Ausbildung. In meinen wildesten Vorstellungen, studierte ich in Yale, Harvard oder Oxford. Ich träumte, dass ich nicht mehr in Armut leben und nicht mehr als Kindermädchen arbeiten müsste. Stattdessen würde ich meinen Tag damit verbringen, großartige Dinge zu erfinden und zu gestalten, wie sie die Welt noch nie gesehen hat.

Ich habe nie darüber fantasiert, eine andere Person zu kontrollieren. Für mich bedeutete Macht stets Kontrolle über mich selbst – die Fähigkeit, meinen Leidenschaften nachzugehen, ganz egal, wohin diese führten, und mein Leben in die richtige Richtung zu leiten. Als meine Jugendzeit ohne High-School-Ausbildung voranschritt, lernte ich, dass ich um diese Art von Macht kämpfen muss.

Als ich mich dazu entschloss, mich an einem College zu bewerben, musste ich sehr um Anerkennung kämpfen. Ich hatte ein Zeugnis der „Susan Fowlers Home School“, in dem alles aufgelistet war, was ich mir selber beigebracht hatte. Ich wusste, wie dämlich das auf andere wirken musste, aber es war mir egal. Schlussendlich wurde ich auch von anderen Menschen ernst genommen: Die Arizona State University akzeptierte mich, und ich fing dort mit 18 Jahren an, Philosophie zu studieren.

Als ich an der Uni ankam, fing ich an, mich für die Wissenschaft zu interessieren. Da mir aber ein naturwissenschaftlicher Hintergrund fehlte, durfte ich keine einführenden Mathematik- und Physikkurse belegen. Also wechselte ich an die University of Pennsylvania, aber auch hier stieß mein Interesse an Physik auf großen Widerstand. Ich musste mich bis zum Präsidenten der Uni durchboxen, bis ich schließlich die Kurse belegen durfte, die ich wollte. Einige Jahre später schloss ich mein Physikstudium erfolgreich ab. Und trotzdem war mein Kampf um Selbstbestimmung längst nicht vorbei.

Ich benahm mich plötzlich wie meine Peiniger

Einige Jahre nach meinem Abschluss arbeitete ich als Softwareingenieurin bei Uber und wurde gemobbt, belästigt und diskriminiert und sah, dass es vielen meiner KollegInnen ähnlich erging. Dieser Zustand machte mich wütend, und der Frust fing an, auf andere Bereiche meines Lebens überzugreifen. Ich war so daran gewöhnt, auf der Arbeit schikaniert zu werden, dass ich selbst in Gesprächen mit Freunden und Familienmitgliedern sehr abweisend wurde. Mir wurde eingetrichtert, dass die Arbeitsumstände ganz normal seien, weshalb ich sehr große Angst davor hatte, dass niemand mir glauben würde. Mein Job, meine Karriere und mein Selbstwertgefühl schienen an die Laune einiger mittlerer Manager und Unternehmensführer gekoppelt zu sein, die die Tragweite ihres Handelns nicht verstanden.

Jeden Morgen, wenn ich in den Spiegel blickte, sah ich eine verbitterte junge Frau: wütend, abweisend und ängstlich. Ich ertappte mich dabei, wie ich einige der schlimmsten Verhaltenszüge meiner Peiniger an den Tag legte. Indem ich ihre Macht über mich akzeptierte, begann ich ein neues Selbstbild zu erschaffen – eines, das ihnen nachempfunden war.

Ich suchte verzweifelt nach dem Anschein von Kontrolle über mein Leben und tat schließlich, was ich im Laufe der Jahre gelernt hatte: Ich richtete meine Gedanken auf mein Inneres und schrieb mir die Seele aus dem Leib. Inspiriert von Benjamin Franklin, der methodisch seine eigene Entwicklung in 13 Tugenden (zum Beispiel Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und Demut) verfolgte, setzte ich mich täglich hin und fragte mich, ob ich an diesem Tag aufrichtig, gut, freundlich und mitfühlend gewesen war. An den meisten Tagen scheiterte ich an diesen Vorsätzen.

So begann die Arbeit an meinem Charakter

Aber in diesen Momenten der Selbstreflexion passierte etwas Erstaunliches. Wenn ich bemerkte, dass ich mitfühlend, geduldig oder großzügiger war, gelang es mir, ein kleines Stück meiner Persönlichkeit aus den Händen anderer zu nehmen, und es wieder unter meine Kontrolle zu bringen.

Ich lernte damals, dass ich immer noch die Kontrolle über mein eigenes Denken und Handeln hatte – selbst wenn ich mich machtlos fühlte in Bezug auf meinen Job, meine Ausbildung oder andere Dinge, die außerhalb meiner Kontrolle schienen. Selbst wenn ich nichts anderes mehr hatte, konnte ich immer noch freundlich, gerecht, großzügig, ehrlich, liebevoll und mitfühlend gegenüber meinen Mitmenschen sein.

Ich habe festgestellt, dass dies die wahrste Form der Macht ist. Ich weiß, dass die Freiheit und Autonomie, die ich heute genieße, Ergebnis jahrelanger, sehr sorgfältiger und bewusster Arbeit sind: Arbeit an mir selbst, an den tiefsten Teilen dessen, was ich bin; Arbeit an meinem Charakter.

Wie war ich heute, was mache ich morgen besser?

Jeden Tag verbringe ich ein paar Minuten an meinem Schreibtisch und denke darüber nach, wer ich bin und wie ich mich verbessern möchte. Ich denke über die Fehler nach, die ich gemacht habe, und bemühe mich, aus ihnen zu lernen. Ich denke an die Dinge, die mir geglückt sind und versuche Wege zu finden, sie noch besser zu machen. Ich denke an die Person, die ich sein möchte – eine gute Autorin, eine gute Mutter, eine gute Frau, eine bessere Freundin –, und wie ich durch harte Arbeit zu dieser Person werden kann.

Jeder Anspruch, den ich an mich selber habe, ist ein Anspruch, den ich selber geschaffen habe und den ich kontrolliere. Mein Selbstwertgefühl hängt nicht mehr von jemand anderem ab. Selbst wenn die Welt heute auseinander fallen würde, mein Sinn für das, was ich bin, und mein Platz in dieser Welt würden nicht zerstört werden. Ich denke heutzutage nur noch selten über Macht nach.

- Aus dem Englischen übersetzt von Max Tholl. Copyright: The New York Times Licensing Group

Susan Fowler

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false